Angelus Silesius’ Gedicht „Die Gleichheit“

ANGELUS SILESIUS

Die Gleichheit

Ich weiß nicht, was ich soll; es ist mir alles ein:
Ort, Unart, Ewigkeit, Zeit, Nacht, Tag, Freud und Pein.

1657

 

Konnotation

Die Begegnung mit den Schriften Jakob Böhmes (1575–1624) und der spanischen Mystiker verwandelte den evangelischen Gelehrten und Mediziner Johann Scheffler (1624–1677) in einen pantheistisch-mystischen Gottsucher und in den „schlesischen Engel“ Angelus Silesius. 1653 trat der einstige Lutheraner Silesius zum Katholizismus über. Sein glaubensinniges Gedanken- und Spruchbüchlein Der Cherubinische Wandersmann (1657) versammelte in pointierten Antithesen und epigrammatisch zugespitzten Alexandrinern Reflexionen über den Weg zu Gott und über die pantheistische Versenkung ins Lebendige.
In den schönsten Epigrammen des Cherubinischen Wandersmanns spricht ein metaphysisch sensibles Ich von einer Grunderfahrung der Barockmystik – vom Ausgesetztsein des Menschen in einer von Kriegen und religiöser Desorientierung geprägten Zeit. Die elementare Ungewissheit über den Sinn des Daseins bringt in dem vorliegenden Spruch die Glaubenssicherheit ins Wanken. Vielleicht ist diese „Gleichheits“-Empfindung aber auch schon eine Vorstufe zum frommen Einverständnis mit den Kontingenzen des Lebens.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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