Arno Holz’ Gedicht „En passant“

ARNO HOLZ

En passant

Was soll uns heut lyrisches Mondscheingewimmer?
So seid doch endlich still davon!
Ihr ändert’s ja doch nicht, die Zeit ist noch immer
Die alte Hure von Babylon!

Das Eisen der Kraft hat sie spielend zerbrochen,
Sie schnitzt sich Heroen aus jedem Wicht
Und saugt uns das Mark aus unsern Knochen
Mit ihrem weissen Sirenengesicht.

Die Flammen der Freiheit sind lange vergluthet,
Die Herzen schlagen, die Herzen schrein –
Eh der neue Messias sich verblutet,
Oh heilige Sintfluth, brich herein!

1886

 

Konnotation

Die lyrische Avantgarde liebt seit je die große Kraftgebärde, den Gestus der Nullansage und die Verspottung des Alten. In seinem Buch der Zeit. Lieder eines Modernen (1886) verkündete Arno Holz (1863–1929), der Propagandist des Naturalismus, eine neue Poesie der Großstadt, die mit sozialistischen Idealen kokettierte, ohne indes die traditionellen lyrischen Formen aufzugeben. Das „Mondscheingewimmer“ wollte Holz großspurig vertreiben, aber das ebenso verbrauchte mythologische Pathos behielt er bei.
Die Rede von der „Hure Babylon“ ist einer der ältesten mythologischen Topoi, mit dem die Ungläubigen und Gegner der wahrhaft Erleuchteten bezeichnet werden. Arno Holz verrennt sich hier in einen metaphorischen Bombast, der seinem Anspruch auf lyrische Innovation im Wege steht. Gegenüber hohl tönenden Genitivmetaphern vom „Eisen der Kraft“ oder den „Flammen der Freiheit“ kennt er keine Berührungsängste, am Ende mobilisiert er dann noch – wie es bei selbsternannten Heilsbringern üblich ist – die apokalyptische Prophetie.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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