Christian Morgensterns Gedicht „Das Mondschaf“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Das Mondschaf

Das Mondschaf steht auf weiter Flur.
Es harrt und harrt der großen Schur.
aaaaaaaDas Mondschaf.

Das Mondschaf rupft sich einen Halm
und geht dann heim auf seine Alm.
aaaaaaaDas Mondschaf.

Das Mondschaf spricht zu sich im Traum:
„Ich bin des Weltalls dunkler Raum.“
aaaaaaaDas Mondschaf.

Das Mondschaf liegt am Morgen tot.
Sein Leib ist weiß, die Sonn ist rot.
aaaaaaaDas Mondschaf.

1905

 

Konnotation

Zu den faszinierendsten Phantasietieren im lyrischen Kosmos des vielseitigen Dichters Christian Morgenstern (1871–1914) gehört neben dem „Nasobém“ und dem „ästhetischen wiesel“ das rätselvolle „Mondschaf“. Obwohl es am Ende des Gedichts tot dazuliegen scheint, erwacht es in anderen Gedichten Morgensterns zu neuem Leben.
Zum ersten Mal taucht es in den 1905 publizierten Galgenliedern des Dichters auf, die ursprünglich gar nicht für eine Veröffentlichung, sondern „für einen kleinen Kreis jugendlich ausgelassener Freunde bestimmt“ waren. Morgenstern arbeitete damals als Lektor im renommierten Verlag Bruno Cassirer und hatte sich bis dahin als Übersetzer der Werke Strindbergs und Ibsens hervorgetan. Die leichthändig erstellten Galgenlieder, die keineswegs nur nonsensverliebte Klangspiele sind, sondern auch metaphysische Reflexionen transportieren, wurden sofort zum Bestseller und begründeten seinen Ruhm.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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