Detlev von Liliencrons Gedicht „In einer großen Stadt“

DETLEV VON LILIENCRON

In einer großen Stadt

Es treibt vorüber mir im Meer der Stadt
Bald Der, bald Jener, Einer nach dem Andern.
Ein Blick ins Auge, und vorüber schon.
aaaaaaaDer Orgeldreher dreht sein Lied.

Es tropft vorüber mir ins Meer des Nichts
Bald Der, bald Jener, Einer nach dem Andern.
Ein Blick auf seinen Sarg, vorüber schon.
aaaaaaaDer Orgeldreher dreht sein Lied.

Es schwimmt ein Leichenzug im Meer der Stadt.
Querweg die Menschen, Einer nach dem Andern.
Ein Blick auf meinen Sarg, vorüber schon.
aaaaaaaDer Orgeldreher dreht sein Lied.

1883

 

Konnotation

Nachdem seine ersten Karrieren als preußischer Offizier, überzeugter Royalist und Amerika-Exilant an drängenden finanziellen Problemen gescheitert waren, beginnt erst der dichterische Lebensweg Detlev von Liliencrons (1844–1909). Von den eher links eingestellten Naturalisten umworben, behielt Liliencron seinen konservativen Habitus. So dokumentieren seine Gedichte ein tiefes Misstrauen gegenüber der Großstadt.
Bereits sein erster Gedichtband Adjutantenritte und andere Gedichte (1883) formuliert die schroffe Absage an das gesichtslose Dasein in den Metropolen. Sein wohl berühmtestes, mit suggestiven Wiederholungen arbeitendes Gedicht zeichnet die Stadt als gefährlich-uferloses „Meer des Nichts“, in dem der einzelne verschlungen wird. In dem motivverwandten Gedicht „Broadway in New York“ flieht das Ich vor dem Grauen der „Riesenstadt“ in eine imaginierte Idylle.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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