Eduard Mörikes Gedicht „Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden,…“

EDUARD MÖRIKE

Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden,
Geht endlich arm, zerrüttet, unbeschuht;
Dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht,
Mit Tränen netzet sie der Füße Wunden.

Ach, Peregrinen hab ich so gefunden!
Schön war ihr Wahnsinn, ihrer Wange Glut,
Noch scherzend in der Frühlingsstürme Wut,
Und wilde Kränze in das Haar gewunden.

War’s möglich, solche Schönheit zu verlassen?
– So kehrt nur reizender das alte Glück!
Oh komm, in diese Arme dich zu fassen!

Doch weh! o weh! was soll mir dieser
Sie küsst mich zwischen Lieben noch und Hassen,
Sie kehrt sich ab, und kehrt mir nie zurück.

1829

 

Konnotation

Den „Wahnsinn“ der Liebe, der die von ihr in Bann geschlagenen Akteure verschlingt, hat der melancholische Dichterpfarrer Eduard Mörike (1804–1875) sehr früh am eigenen Leib erfahren müssen. Die attraktive Ludwigsburger Gasthausgehilfin Maria Meyer faszinierte den 19jährigen Tübinger Stiftszögling so sehr, dass er sofort einer unerfüllbaren Leidenschaft verfiel und den Boden unter den Füßen verlor. Aus dieser tragischen Liebespassion entstand von 1824 bis 1867 der sogenannte Peregrina-Zyklus, das Sonett über die „Verzweifelte Liebe“ wurde erstmals 1829 veröffentlicht.
Um Peregrina, die nach der lateinischen Wortbedeutung eine Pilgernde oder auch eine Landstreicherin sein kann, kreisen fünf Gedichte Mörikes. Die Liebe zu „Peregrineri“ wird im Sonett als Tortur evoziert, als Ausgesetztsein am „Pfahl“, was die Staupsäule meint, einen Ort öffentlicher Züchtigung. Liebe und Hass sind in der erhitzten Liebespassion eng miteinander verbunden – und Mörike hat diesen Schmerz des Liebens und Verlassenwerdens in ein vollkommenes Gedicht transformiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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