Else Lasker-Schülers Gedicht „Ein Liebeslied“

ELSE LASKER-SCHÜLER

Ein Liebeslied

Komm zu mir in der Nacht – wir schlafen engverschlungen.
Müde bin ich sehr, vom Wachen einsam.
Ein fremder Vogel hat in dunkler Frühe schon gesungen,
Als noch mein Traum mit sich und mir gerungen.

Es öffnen Blumen sich vor allen Quellen
Und färben sich mit deiner Augen Immortellen…

Komm zu mir in der Nacht auf Siebensternenschuhen
Und Liebe eingehüllt spät in mein Zelt.
Es steigen Monde aus verstaubten Himmelstruhen.

Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen
Im hohen Rohre hinter dieser Welt.

1943

aus: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 1, 1: Gedichte. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1996

 

Konnotation

Else Lasker-Schüler, 1869 in Wuppertal geboren, starb 1945 vereinsamt in Jerusalem. Alle Bindungen bürgerlicher Existenzsicherung negierend, führte sie bis an ihr Ende ein unruhiges Bohemeleben. In ihrer Dichtung errichtete sie ein imaginäres Reich der Phantasie, das sie mit sich selbst und ihren Freunden, verkleidet als poetische Figuren aus dem Orient, bevölkerte.
Das Gedicht zählt zu Lasker-Schülers später Lyrik und steht in dem Band Mein blaues Klavier (1943). Es ist streng gereimt, allein der zweite Vers der ersten Strophe ist ohne Bindung an die übrigen – wohl nicht ohne Grund, denn nur er spricht die reale Situation der Emigrantin an, ihre Müdigkeit und Einsamkeit. Dennoch handelt es sich um ein emphatisches Liebesgedicht, das den Geliebten, bei dem es sich auch um Gott handeln könnte, mit betörenden Bildern vom Paradies, mit kühnen Himmelsmetaphern und Wort-Neuprägungen anlockt.

Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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