Franz Xaver Kroetz’ Gedicht „Beruf Kind“

FRANZ XAVER KROETZ

Beruf Kind

Zwei Drittel Lebens sind getan.
Ich steh am letzten Bogen.
Im besten Mannesalter bin ich Kind.
Der Schrecken schreckt mich und das
Dunkle macht mich blind.
Ich lache unbegründet, weine schnell.
Man soll mir Märchen sagen.
Die tägliche Gemeinheit macht mich krank.
Zwei Drittel Lebens sind getan.
Ich steh am letzten Bogen.
Ich bin dem Leben nicht gewachsen.
Mein Beruf ist Kind.

1993/94

aus: Franz Xaver Kroetz: Heimat Welt. Gedichte eines Lebendigen, Rotbuch Verlag, Hamburg 1996

 

Konnotation

Der 1946 geborene Franz Xaver Kroetz, in den 1970er Jahren der erfolgreichste, zuweilen als „Dreckschleuder“ geschmähte Repräsentant eines politischen Volkstheaters, hat in seinen Gedichten schon früh seine Lebens-, Schreib- und Alters-Krisen protokolliert. Seine lyrische Fortschreibung von Hölderlins berühmtem Gedicht „Hälfte des Lebens“ ist das verstörende Dokument einer Depression.
Kroetz war gerade mal Mitte vierzig, als er in quälenden Schreib-Exerzitien und lyrischen „Totentänzen“ seine Lebenskrisen ausstellte und seinen „sanften Abschied / vom Dichter / der ich war“ inszenierte. Das (Selbst)Bild vom ausgebrannten und tief depressiven Schriftsteller hat er auch in später entstandenen Bühnenstücken (Das Ende der Paarung, Drücker) und „ungewaschenen Stories“ entwickelt. In seinem erschütternden Selbstporträt „Beruf Kind“, das um 1993/94 entstanden ist, verbindet sich die Schwermut mit einem Bedürfnis nach Regression.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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