Georg Lists Gedicht „Auf die liederlichen Versverderber“

GEORG LIST

Auf die liederlichen Versverderber

Ihr ungestimmten Flöten
Verhungerter Poeten,
Pfeift vor ein Maß verdorbnes Bier
Der Welt verwegne Possen für!
Geht ohngefähr dem Dorf ein Richter ab,
Wie foltert ihr den Kopf durch tiefes Sinnen
Und seid bemüht bei dessen Grab
Durch einen Reim ein Taglohn zu gewinnen.
Vor kleines Geld verkauft man große Lügen,
Die Stein und Eisen überwiegen.
Schlaf aus, du träumender Poet!
Suchst du die Toten aufzuwecken,
So mußt du selbst nach Geist und Leben schmecken!

nach 1560

 

Konnotation

Der lutherische Theologe Georg List (auch Georg Listhenius bzw. Lysthenius) muss ein strenger und machtbewusster Gralshüter des Protestantismus gewesen sein. Der 1532 in Naumburg geborene und 1596 in Dresden verstorbene Gottesdiener durchlief eine steile Karriere vom Pfarrer bis hin zum kursächsischen Hofprediger und Beichtvater des Kurfürsten August. In dieser Funktion geriet er in Konflikt mit bestimmten Spielarten des Calvinismus. „Verdächtige Theologen“ bekämpfte er nicht nur mit Polemiken, sondern auch mit inquisitorischen Kampagnen. Als Dichter nahm er sich die „Versverderber“ vor.
Der grimmige Gottesmann lässt hier die Zunft der Dichter seine ganze Verachtung spüren. Die Poeten geben ein jämmerliches Bild ab: Elendsgestalten und rettungslose Grübler, die für einen Hungerlohn zu jeder Narretei und Lüge bereit sind. Georg List greift auf alle denkbaren Klischees über Poeten zurück, um am Ende mehr Realitätsbewusstsein und „Geist“ einzufordern. Dieses selbstgerechte Tribunal über die Dichtung ist das Manifest eines autoritären Charakters.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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