Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Abtrift“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Abtrift

Das Gehirn im Sinkflug,
immer tiefer.
An den Spanndrähten
zerrt der Abwind.
Das Steuer flattert,
schlägt aus,
„von selbst“.
Auch eine Musik:
rauschende Luft,
knirschendes Holz.
Es knackt im Holm,
im Ohr, im Kopf.
Schmerzloser Sog,
selbstvergessen,
feierlich leichtes
Gleiten, dem
Dunkleren zu.

1980er Jahre

aus: Hans Magnus Enzensberger: Zukunftsmusik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1991

 

Konnotation

Wenn ein Flugzeug eine windbedingte Kursabweichung hinter sich hat, kommt es zur „Abtrift“. Ein Sinkflug setzt ein, ein Gleiten nach unten, mit ungewissem Ausgang. Dieses physikalische Faktum transformiert Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929), der intellektuell beweglichste Skeptiker unter Deutschlands Poeten, in einen Bewusstseinszustand. Die Selbstvergessenheit des nach unten gleitenden Subjekts, der „schmerzlose Sog“, der uns „dem Dunkleren“ näherbringt, ist auch ein Bild für den Sterbeprozess.
Als der Sohn eines Bahnbeamten und Telefon-Pioniers aus Kaufbeuren 1957 mit dem Band verteidigung der wölfe die literarische Bühne betrat, wurde er sofort als „glänzendes Talent“ und als „zorniger junger Mann“ (Alfred Andersch) gefeiert. Von der Öffentlichkeit wurde Enzensberger lange nur als widerspenstiger Gesellschaftskritiker und Prophet der Kulturrevolution wahrgenommen. Dabei finden sich schon in seiner frühen Lyrik Spuren einer elegisch-romantisierenden Weltversöhnung und einer universellen Skepsis gegenüber Heilsbotschaften – Merkmale, die dann in seinen späten Gedichten dominieren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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