Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Kleiner Abgesang auf die Mobilität“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Kleiner Abgesang auf die Mobilität

Es war kalt in Bogotá.
Alle Restaurants hatten Ruhetag
in Mindelheim an der Mindel.
Auf Fidji strömender Regen.
Helsinki war ausgebucht.
In Turin streikte die Müllabfuhr.
Überall Straßensperren
in Bujambara. Die Stille
über den Dächern von Pécs
war der Panik nahe.
Noch am ehesten auszuhalten
war es unter dem Birnbaum
zu Hause. 

2003

aus: Hans Magnus Enzensberger: Die Geschichte der Wolken. 99 Meditationen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003

 

Konnotation

Ironische Abgesänge auf den jeweils letzten Schrei der gesellschaftlichen Moderne und auf die falschen Triumphe des Fortschritts gehören zu den poetischen Lieblingsbeschäftigungen des 1929 geborenen Dichters und Skeptikers Hans Magnus Enzensberger. Im Zeitalter der Beschleunigung singt er ein kleines Liedchen auf den unfreiwilligen Stillstand.
Das große Versprechen der universellen Globalisierung und der weltweiten Zirkulation unbegrenzter Möglichkeiten wird in dem um 2000 entstandenen Gedicht entzaubert. Alle Orte der Welt sind zwar zum „Global Village“ zusammengerückt und von überallher zu erreichen, aber das Getriebe des Fortschritts ist ins Stocken geraten. Überall türmen sich Hindernisse oder Barrikaden auf – ob in der deutschen Provinz oder im fernen Burundi („Bujambara“). So zieht sich der Weltreisende auf das Evangelium des Biedermanns zurück, der schon immer beteuert hat, dass es „zu Hause“ am schönsten sei.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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