Hans-Ulrich Treichels Gedicht „Moderne Zeiten“

HANS-ULRICH TREICHEL

Moderne Zeiten

Es ist gut es ist vorbei
es ist gut daß es vorbei ist
der Sozialismus die Raupenplage
die Wanzen der Urknall was vorbei ist
ist vorbei die Chaostheorie
das Nord-Süd-Gefälle der Wärmetod
alles gut alles vorbei auch das Gute
auch das Vorbeisein die Dialektik
sowieso die Sinnfrage der Regen
alles schon wieder vorbei

1994

aus: Hans-Ulrich Treichel: Der einzige Gast. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1994

 

Konnotation

Hans-Ulrich Treichel, 1952 in Versmold/Westfalen geboren, präsentiert sich als ironischer Geschichtsdiagnostiker: die „Modernen Zeiten“ bedeuten hier den unvermeidlichen Zusammenbruch der tradierten Welterklärungen.
Der Abgesang auf die alt gewordene Moderne eröffnet Treichels Gedichtband Der einzige Gast (1994). Alle Erkenntnismodelle und utopischen Verheißungen der westlichen Welt werden hier vom lyrischen Subjekt mit lässiger Beiläufigkeit ad acta gelegt. Die „Modernen Zeiten“ gibt es nur in der Negation, im Blick auf politische und philosophische Versprechen, die sich nicht erfüllt haben. Nicht nur die Heilsversprechen der kritischen Gesellschaftstheorie („Sozialismus“, „Dialektik“), sondern auch physikalische Theoreme („Chaostheorie“) oder Grundannahmen der Evolutionstheorie („Urknall“) werden als ungültig qualifiziert, ihr Haltbarkeitsdatum ist überschritten. Selbst der lapidare Befund des „Vorbeiseins“ wird ironisiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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