Hugo Balls Gedicht „Intermezzo“

HUGO BALL

Intermezzo

Ich bin der große Gaukler Vauvert.
In hundert Flammen lauf ich einher.
Ich knie vor den Altären aus Sand,
Violette Sterne trägt mein Gewand.
Aus meinem Mund geht die Zeit hervor,
Die Menschen umfaß ich mit Auge und Ohr.

Ich bin aus dem Abgrund der falsche Prophet,
Der hinter den Rädern der Sonne steht.
Aus dem Meere, beschworen von dunkler Trompete,
Flieg ich im Dunste der Lügengebete.
Das Tympanum schlag ich mit großem Schall.
Ich hüte die Leichen im Wasserfall.

Ich bin der Geheimnisse lächelnder Ketzer,
Ein Buchstabenkönig und Alleszerschwätzer.
Hysteria clemens hab ich besungen
In jeder Gestalt ihrer Ausschweifungen.
Ein Spötter, ein Dichter, ein Literat
Streu ich der Worte verfängliche Saat.

1923/24

 

Konnotation

In einem seiner „schizophrenen Sonette“ hat der freigeistige Dadaist und Mystiker Hugo Ball (1886–1927) die unterschiedlichen Rollenmasken und Metamorphosen eines Dichters vorgeführt: Hier ist der Dichter zugleich Gaukler, Priester und Seher, Prophet und Schamane, Ketzer, Spötter und „Alleszerschwätzer“. Und nicht zuletzt Hysteriker.
Das Gedicht entstand während einer besonders produktiven Arbeitsphase Balls im Winter 1923/24. Die insgesamt sieben „schizophrenen Sonette“ zeigen magische Exaltationen und rauschhafte Zustände von gesellschaftlichen Außenseitern oder dämonischen Figuren. Die Poesie, notierte Ball dazu, habe es „nur noch mit den Bildern, nur noch mit der Magie zu tun“. Voraussetzung für „Intermezzo“, das auch unter dem Titel „Der Literat“ gedruckt wurde, war eine Lektüre des französischen Dichters Cyrano de Bergerac (1619–1655). Die erste Gedichtzeile zitiert eine Aussage eines Helden Bergeracs: „Je suis le grand diable Vauvert.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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