INGEBORG BACHMANN
Harlem
Von allen Wolken lösen sich die Dauben,
der Regen wird durch jeden Schacht gesiebt,
der Regen springt von allen Feuerleitern
und klimpert auf dem Kasten voll Musik.
Die schwarze Stadt rollt ihre weißen Augen
und geht um jede Ecke aus der Welt.
Die Regenrhythmen unterwandert Schweigen.
Der Regenblues wird abgestellt.
1955
aus: Ingeborg Bachmann: Werke Bd. 1: Gedichte. Piper Verlag, München 1978
Im Sommer 1955 reiste die Dichterin Ingeborg Bachmann (1926–1973) in die USA, um dort im Rahmen eines kulturellen Austauschprogramms an der Harvard University in Massachusetts an einem Kurs teilzunehmen, der von dem späteren Außenminister Henry Kissinger geleitet wurde. Von ihrem Ausflug nach Harlem, dem schwarzen Stadtteil New Yorks, kündet ein zweistrophiges Lied, das ein gänzlich anderes Bild von diesem urbanen Bezirk zeichnet, als es das Klischee will.
Hier ereignet sich nichts Spektakuläres, hier finden sich keine Hinweise auf den in Harlem virulenten Kreislauf von Drogen, Gewalt und Arbeitslosigkeit, hier tönt nur ein kleines Regen-Lied. Fast in der Art eines Kinderliedes wird ein Regen-Tag, dessen Rhythmus von der Musik der schwarzen Bevölkerung diktiert wird, dem Blues.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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