Jan Wagners Gedicht „Hamburg – Berlin“

JAN WAGNER

Hamburg-Berlin

der zug hielt mitten auf der strecke. draußen hörte
man auf an der kurbel zu drehen: das land still
wie ein bild vorm dritten schlag des auktionators.

ein dorf mit dem rücken zum tag. in gruppen die bäume
mit dunklen kapuzen. rechteckige felder,
die karten eines riesigen solitairespiels.

in der ferne nahmen zwei windräder
eine probebohrung im himmel vor:
gott hielt den atem an

2001

aus: Jan Wagner: Probebohrung im Himmel. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2001

 

Konnotation

Ein Zug ist in einer kargen Landschaft zum Stillstand gekommen, die Ursache des sogenannten außerplanmäßigen Halts wird nicht genannt. Es sind meist solche unspektakulären Augenblicke, kleine Genreszenen, an denen sich die poetische Phantasie des 1971 geborenen Dichters Jan Wagner entzündet. Wagner gilt als der traditionsbewussteste Formkünstler unter den Lyrikern der jungen Generation, weil er den klassischen Mustern – dem Sonett, der Vilanelle, der Ekloge – neues Leben eingehaucht hat.
Das hyperrealistische Bild des stillstehenden Zuges wird in diesem um die Jahrtausendwende entstandenen Gedicht mit originellen Bildfindungen und kühnen Vergleichen aufgeladen. Aus der stillen Landschafts-Szene erwächst plötzlich eine pathetische Transzendenz-Pointe. Zwei Windräder, die die Luft aufrühren, erscheinen als mechanische Erkenntnis-Maschine, die durch eine „Probebohrung im Himmel“ nach Indizien für eine Art Gottesbeweis sucht. Am Ende sogar Gott selbst herbeizuzitieren, erscheint als eine heikle Schlusspointe.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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