Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Überall“

JOACHIM RINGELNATZ

Überall

Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfenband
Wie irgendwo daneben.

Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
Stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.

Wenn du einen Schneck behauchst,
Schrumpft er ins Gehäuse.
Wenn du ihn in Kognak tauchst,
Sieht er weiße Mäuse.

1927

aus: Joachim Ringelnatz: Reisebriefe eines Artisten, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1927

 

Konnotation

Der Schriftsteller, Kabarettist und Maler Hans Bötticher (1883–1934), der sich ab 1919 Joachim Ringelnatz nannte, ist bis heute vor allem durch seine humoristischen Gedichte um die Kunstfigur Kuttel Daddeldu beliebt. Nach beschwerlichen Jahren als Schüler, Seemann und Kommis konnte er um 1909 in der Münchner Künstlerkneipe Simplicissimus als Hausdichter und Vortragskünstler Fuß fassen. In der gleichnamigen satirischen Zeitschrift veröffentlichte er seine ersten Texte.
Ringelnatz schrieb meist kurze, virtuos gereimte Gedichte in einem lakonischen Alltagston, eine leicht ins Groteske wechselnde Unsinns-Poesie. Auch das vorliegende Gedicht – aus dem Band Reisebriefe eines Artisten (1927) – balanciert zwischen Scherz und Dunkelheit. Den unbeschwerten Eingangsversen wird in Strophe zwei die Macht des Todes mit fast barocker Strenge konfrontiert, ein Ernst wiederum, der sogleich in das skurrile Motiv der alkoholisierten Schnecke umgebogen wird.

Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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