Matthias Göritz’ Gedicht „Leere Plastiktüte, taumelnd im Wind“

MATTHIAS GÖRITZ

Leere Plastiktüte, taumelnd im Wind

Der Mond hängt wie ein leeres Gebäude
über dem kahlen Ast eines Baums
Die Labimmel-Labammel-Laterne des Kinds
ein Versuch Caspar David nachzuahmen
sagst du

Niemals wissen wir wo wir sind
Auf einer Waldstrecke auf der Erde, im Wind
auf einem Bild, auf einem Blatt Papier
„Hier“ ist die tödliche Vokabel

Sie gehört Faltern an
den geliebten Nachtschmetterlingen
gespinnt
an die Kastchenwand

2004/2005

aus: Matthias Göritz: Pools. Berlin Verlag, Berlin 2006

 

Konnotation

Wer als moderner Lyriker beim Anblick des Mondes eine romantische Empfindung reaktiviert – der tut das meist unter skeptischem Vorbehalt. Zwar wird in dem Gedicht des 1969 geborenen Lyrikers und Erzählers Matthias Göritz das nächtliche Leuchten des Erdtrabanten lyrisch aufgerufen, zugleich aber das Märchenhafte der Szenerie in der Verniedlichungsform der „Labimmel-Labamme-Laterne“ ironisiert. Die romantische Kulisse wird dann aufgelöst und das lyrische Subjekt gerät ins Ungewisse.
Durch eine kleine Abweichung im Lebensalltag, etwa durch eine vorbeiwehende Plastiktüte, wird das lyrische Ich aus allen Vertrautheiten herauskatapultiert – mitten hinein in die Schwindelgefühle einer unerhörten Erfahrung. Göritz schreibt eine meditativ-spirituelle Dichtkunst, die sich an  amerikanischen und asiatischen Vorbildern orientiert. In einem Moment der Offenheit und Unsicherheit der Ich-Position wird das dezisionistisch-fixierende Wort „Hier“ zur „tödlichen Vokabel“. Die letzte Strophe zeigt das romantische Gefühl als Sammelobjekt: der „Nachtschmetterling“ im Privatmuseum des Lepidopterologen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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