PAUL WÜHR
JETZT WEISS ICH nicht mehr
hat sie mir Fisch geschrieben
oder einen Brief in dem
er schwamm oder habe ich
das Wasser im Kuvert geschaukelt
oder sprang er selber heraus
1975
aus: Paul Wühr: Grüß Gott ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne. Carl Hanser Verlag, München 1976
Wie entsteht die „Realität“ in den Texten des Münchner Sprachwelt-Schöpfers Paul Wühr (geh.1927)? Seine Exegeten haben das in linguistischen Kategorien beschrieben: Alle „Redeakte“ in den Gedichten Wührs gelten als „performative Sprechakte“ also als Sprachhandlungen, bei denen jene „Realität“, über die zu sprechen sie vorgeben, erst durch eben diese Sprechakte selbst geschaffen wird. Wühr betreibt also „Poiesis“ im Sinne göttlicher Weltschöpfung. Der schöne Nebeneffekt dabei: Es entstehen Gedichte von enormer Komik.
In einigen Gedichten des Bandes Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne (1976) geht Wühr von einer elementaren Ungewissheit des Subjekts über das Verhältnis von Name und Ding aus. All diese Gedichte beginnen mit der Sentenz „Jetzt weiß ich nicht mehr“, um anschließend die poetischen und empirischen Realitäten durcheinander zu schütteln. Was nun Imagination und was Wirklichkeit ist, bleibt offen. Ebenso die Ordnung von Subjekt und Objekt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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