Rainer Malkowskis Gedicht „Im Paradies“

RAINER MALKOWSKI

Im Paradies

Im Paradies
kann man sich eine Fahrkarte kaufen.
Auf den blinkenden Fluß sehen zur Rechten,
aussteigen an einem unbekannten Ort
und durch eine Kastanienallee gehen.

Im Paradies
trägt man ein Buch in der Tasche
und liest darin
in einem Straßencafé.

Im Paradies
ist es kalt oder warm.
Es gibt Hunger und Durst,
und die Haut nimmt Notiz
von einer anderen Haut.

Augen treffen Augen,
das Ohr hört den Atem,
die Hand knipst das Licht aus.

Es ist dunkel im Paradies,
oder es ist hell –
wenn das Licht wiederkommt
durch ein Fenster.

nach 1975

aus: Rainer Malkowski: Die Herkunft der Uhr. Hrsg. von Albert von Schirnding. Hanser Literaturverlag, München 2004

 

Konnotation

Nach dem Ende des Wettstreits der Systeme in Ost und West, scheint schließlich nur mehr der Kapitalismus sein Heilsversprechen offen zu halten. Dies ist das einzig denkbare Paradies, das der Dichter Rainer Malkowski (1939–2003) in seinem Gedicht besingt. Die beste aller Welten beschreibt er jedoch denkbar sarkastisch, zeigt die Welt inzwischen doch ein weitaus trostloseres Gesicht.
Nimmt man Malkowskis Gedicht, so bleibt alles beim Alten. Aber wie unterscheidet sich die Empirie des Alltags vom jenseitigen „Paradies“? Der Fahrkartenschalter, die Kastanienallee, das Straßencafé und die eigene Wohnung sind vertraute Territorien. Das Paradies kapitalistischer Ausprägung mag sich durchgesetzt haben, doch womit löst sich sein Heilsversprechen ein? Es ist dunkel oder, wenn die Sonne aufgeht, hell.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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