Thomas Rosenlöchers Gedicht „Die Neonikone“

THOMAS ROSENLÖCHER

Die Neonikone

Als ich nach Amsterdam kam
und um die Ecke bog,
stand ich vor dem Fenster der Hure.
Sie aber saß in rötlichem Licht
auf einem Hocker und schaute mich an
und lupfte ihre lange
lebendige Zunge nach mir.
Da war ich vom Donner gerührt,
weil alle Schönheit in einer
einzigen Hure wohnte,
und neben mir im Dunklen stand
ein augenrollender Kreole
und ein lächelnder Blitzlichtjapaner,
so daß wir gemeinsam die Menschheit darstellten
vor der Ikone aus Neon,
die ihre Schenkel auftat und schloß,
noch als ich nach Sachsen zurücklief und meinen
armen, armerudernden Schatten
schräg an die Wand warf im Lauf.

1988

aus: Thomas Rosenlöcher: Ich sitze in Sachsen und schaue in den Schnee, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

Im Jahr 1988, der Selbstauflösungsprozess der DDR war schon im Gang, hielt sich der 1947 geborene Thomas Rosenlöcher, ein der Dresdner Schule entlaufener Spätromantiker, auf seiner ersten West-Reise in Amsterdam auf. Ein dort alltägliches erotisches Lock-Angebot erlebt sein lyrisches Ich als nahezu mystische Offenbarung.
Entgegen manch betulicher Interpretation firmiert „die Hure“ hier nicht als Bild für den verderbten Kapitalismus, der Frauen zu sexuellen Beute-Objekten macht, sondern als ungeheures Glücksversprechen. Die Hure erscheint als Heilige, von einer suggestiven Aura (dem „rötlichen Licht“) umgeben. Vor diesem Wunder versammeln sich die Repräsentanten der „Menschheit“: drei Voyeure, die diese Epiphanie mit großer Faszination bestaunen. Das Offenbarungserlebnis verfolgt auch noch den Heimkehrer, der seinen Schatten allerdings nicht (wie Adalbert von Chamissos Held Peter Schlemihl) an den Teufel verkauft hat.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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