Unbekannter Autor Gedicht „Der Überläufer“

UNBEKANNTER DICHTER

Der Überläufer

In den Garten wollen wir gehen,
Wo die schönen Rosen stehen,
Da stehen der Rosen gar zu viel,
Brech ich mir eine, wo ich will.

Wir haben gar öfters beisammen gesessen,
Wie ist mir mein Schatz so treu gewesen,
Das hat ich mir nicht gebildet ein,
Daß mein Schatz so falsch könnt sein.

Hört ihr nicht den Jäger blasen,
In dem Wald auf grünem Rasen?
Den Jäger mit dem grünen Hut,
Der meinen Schatz verführen tut?

Hört ihr nicht den Trompeter blasen,
In der Stadt auf der Parade?
Der Trompeter mit dem Federbusch,
Der mir meinen Schatz verraten tut.

18. Jahrhundert

 

Konnotation

Eine Liebe, die ungefährdet blüht und gedeiht, gerät plötzlich ins Wanken – denn der Partner, dem man sich so innig anvertraut hat, begeht Liebesverrat. Das ist die Urszene vieler Gedichte der Romantik. Wo eben noch die schönsten Zukunftsaussichten am Horizont leuchteten, da sind plötzlich das Glück und das Vertrauen zerstört, und die Lebenswelt wird dominiert von Nebenbuhlern und Lügnern.
Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831) waren nicht nur Herausgeber der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806/1808), sondern haben auch viele Textvorlagen subtil bearbeitet und den „mündlich überlieferten“ Originalen eine ganz neue Textgestalt gegeben. Im Fall des „Überläufers“ hat Achim von Arnim den vom „Volksmund“ überlieferten Strophen eine vierte hinzugefügt, die den Verrats-Gedanken noch einmal variiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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