Unbekanter Autor Gedicht „Nächte“

UNBEKANNTER DICHTER

Nächte

Nächten, da ich bei ihr was,
Schwazten wir, dann dies, dann das,
Auch sehr freundlich zu mir saß,
Sagt’, sie liebt’ mich ohn’ all Maß.

Nächten, da ich von ihr scheid,
Freundlich wir uns herzten beid’,
Mir verhieß bei ihrem Eid,
Mein zu sein in Lieb und Leid.

Nächten, da ich von ihr ging,
Sie mich freundlich ganz umfing,
Dazu ferne mit mir ging,
Alles war sehr guter Ding.

Heute, da ich zu ihr kam,
Da war alles wieder zahm,
Bös Bescheid ich da bekam,
Mußt abziehn mit Spott und Scham.

vor 1593

 

Konnotation

Der Enthusiasmus der Liebe kann auf Irrwege führen. Zu den bittersten Erfahrungen auf diesem unsicheren Terrain der Emotionen zählen das Selbstmissverständnis und die vorsätzliche Täuschung des oder der Geliebten. Von diesen Verhängnissen erzählen zahlreiche Liebespoeme, die in die romantische Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808) aufgenommen worden sind. Brentano und von Arnim, die Herausgeber, entnahmen das Lied von der Liebesenttäuschung ihrerseits Nicolaus Rosthius’ „musikalischer Sammlung“ mit „schönen lustigen Texten“ aus dem Jahr 1593.
Das Bekenntnis zur unverbrüchlichen Liebe, auf das der nächtliche Besucher der Angebeteten vertraut, erweist sich mitsamt dem gegebenen Treueversprechen als haltlos. Die Leidenschaftlichkeit des Liebesgefühls ist offenbar unverlässlich. Die Gewissheit, dass in der Liebe „alles sehr guter Ding“ sei, kann von einem auf den nächsten Moment wieder zerfallen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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