Unica Zürns Gedicht „Aus dem Leben eines Taugenichts“

UNICA ZÜRN

Aus dem Leben eines Taugenichts

Es liegt Schnee. Bei Tau und Samen
leuchtet es im Sand. Sieben Augen
saugen Seide, Nebel, Tinte, Schaum.
Es entlaubt sich eine muede Gans.

1958

aus: Unica Zürn: Anagramme. Bd. 1 der Gesamtausgabe. Brinkmann & Bose, Berlin 1988

 

Konnotation

Wer Anagramme produziert, also aus einem vorgegebenen Bestand von Vokabeln durch Buchstaben- oder Satz-Inversion neue Wörter oder Wort-Kombinationen bildet, für den gewinnt die Sprache eine rätselhafte Macht. So sehr es die Berliner Dichterin und Zeichnerin Unica Zürn (1916–1970) faszinierte, den verborgenen und noch nicht entbundenen Bedeutungen in den Wörtern zu folgen, so sehr fühlte sie sich mitunter heimgesucht und gequält von einfachen Zeitungsschlagzeilen. Denn lauerten darin nicht verschlüsselte Drohungen?
Joseph von Eichendorffs (1788–1857) Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ schwärmte noch vom euphorischen Aufbruch der kreativen Wanderburschen, die in unendlicher Fahrt ihr poetisches Ideal einkreisen. Die Leser der „Taugenichts“-Novelle haben sich vom ziehenden Posthornklang und von den Fernweh- und Heimweh-Trancen des Helden verzaubern lassen. In Unica Zürns 1958 entstandenem Anagramm mutiert das Taugenichts-Dasein zu einer eigentümlich mystischen Wahrnehmungssensation. Die „sieben Augen“ saugen alle Lebenselemente an.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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