Manfred Streubel: Poesiealbum 228

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Manfred Streubel: Poesiealbum 228

Streubel/Böttger-Poesiealbum 228

VERSTRICKUNG

Ihr meine guten Gründe –
was hat euch so verkehrt
in lauter schwarze Sünde,
die mir den Weg verwehrt?

War doch der Lauf der Dinge,
der mich zum Handeln zwang!
Wer dreht mir da die Schlinge
aus dem Zusammenhang?

Gefesselt ans Vergangne –
bin ich nun der Gefangne
Verborgener Gewalt.

Wie mich die Fäden schnüren!
Ich kann mich kaum noch rühren.
Im wahren Sachverhalt.

 

 

 

Stimme zum Autor

Die Sonette Manfred Streubels deuten auf das Jahrhundert des Jakob Böhme und des Angelus Silesius, auf neuartiges Nachdenken über den Menschen und die dialektische Tendenz in der barocken Antithetik. Auch die poetische Technik verweist auf das Barock: Der dringliche Ernst dieser Dichtung hat einen Ausdruck gefunden, der das Wissen um die Schwierigkeiten und die Möglichkeiten des Materials, in welchem gearbeitet wird, gegenwärtig hält.
Rüdiger Ziemann

Verlag Neues Leben, Klappentext, 1986

 

Beiträge zur Neuausgabe dieses Poesiealbums

Stefanie Golisch: Der Frost ist nah. Der letzte Vogel fern
fixpoetry.com, 1.2.2017

 

 

Die Angst, die nicht weichen wollte

Der große schlanke, schwarzhaarige Mann, der am 10. Juli 1992 gegen 18 Uhr den Dichter Manfred Streubel in seiner Wohnung in Gohlis bei Dresden aufsuchte, muß ein sicheres Gespür dafür gehabt haben, wie man jemanden in den Tod treibt, ohne selbst Hand anlegen zu müssen. Der 59jährige Streubel litt an einer Depression und hatte einen Selbstmordversuch hinter sich. Er befand sich in einem labilen Zustand. Manfred Streubel sah sich von Feinden umstellt wie zu Zeiten der DDR. Er wollte sie benennen, um sich von ihnen zu befreien. Da starb er auf dem Dachboden seiner Wohnung – in einem Kälberstrick. Um jene Zeit, als der Besucher noch da war oder ihn gerade verlassen hatte.
Manfred Streubel war nicht irgendwer in der DDR-Literatur. Der 24iährige war 1956, als sein erster Gedichtband mit dem Titel Laut und leise herauskam, der strahlend junge Lyriker der DDR. Mit seinem „Lied der jungen Naturforscher“ wuchsen die Kinder auf:

Die Heimat hat sich schön gemacht, und Tau blitzt ihr im Haar…

Doch das Frohgemute lag immer dicht neben der Schwermut. Seinen Vater hatten die Sowjets verschleppt. Er selbst sah sich gleich am Anfang seiner Schriftstellerkarriere wegen seiner öffentlichen Kritik an der SED-Kulturpolitik von Zuchthausaufenthalt in Bautzen bedroht.
Zwölf Jahre dauerte es, bis Streubels zweiter Gedichtband erscheinen konnte. Das Eingreifenwollen Streubels hat sich erledigt. Es sind Gedichte wie auf Fußspitzen geschrieben, in Jakob Böhmes Tinktur, „darinnen das Wachsen und Blühen aufgeht“ und nicht zertrampelt wird. Bis zur Wende von 1989 erschienen von Manfred Streubel acht Gedichtbände. Er schrieb Theaterstücke, Hörspiele und Kinderbücher. Er erhielt 1968 den Martin-Andersen-Nexö-Kunstpreis, 1970 den Heinrich-Heine-Preis, 1983 den Johannes-R.-Becher-Preis. Und doch blieb er im Festhalten am tradierten Formenkanon am Rande der Literaturszene. „Streubel“, so hieß es, „das ist doch der Mann, der reimt.“
„Manfred Streubel zählte nicht mehr mit, wenn über DDR-Lyrik gesprochen wurde“, erinnert sich Wulf Kirsten. „Das hat ihm schon schwer zu schaffen gemacht.“ Die Wende, die Streubel ersehnt und auf die zu hoffen er schon aufgegeben hatte, machte ihn euphorisch und traf ihn dann dort, wo er es nicht erwartete hätte. Der Mitteldeutsche Verlag gab ihm, dem langjährigen Hausautor, rüde den Laufpaß. Wohin Streubel sah: clevere Mietbare. Sie, unter denen er gelitten hatte, hatten einfach die Firma gewechselt und waren sofort wieder im Aufwind. Vom Westen, dessen Buchverlage Streubel Absagebriefe geschrieben hatten, erwartete er nichts mehr.
Schon immer hatte er sich gefühlt wie in ein Grab geboren, sich selbst Verlies. Gerade diese Verlorenheit machte seine Dynamik als Dichter aus. Diese Dynamik speiste sich aus einem unerledigten Motiv. Es war der Verrat, der 1945 zur Verhaftung seines Vaters und zu dessen Tod im von den Sowjets betriebenen Lager Mühlberg geführt hatte. Dieser Tote blieb, so wußte er, an sein Leben gefesselt, bis geklärt sein würde, was in der DDR nicht zu klären war. Streubel recherchierte.
Und Horst Drescher, der einzig wahre Dichterfreund, den er hatte und der Streubels Lebensdilemma nur zu gut kannte, bestärkte den Dresdner:

Junge, geh doch mal aus der Hüfte und schreibe Deinem Vater ein Requiem in Prosa, aber ein ganz formloses, rücksichtsloses; rechne mal ab mit der Bande, deren verstehende Viertelsklaven noch alle sind. Kein Verständnis! Sie feixen nämlich innerlich; nach kurzem Schock, den die Herrenmenschen erlitten hatten im Herbst! Diese Revolution hatte auch ihr Ungutes, sie war zu friedlich.

Manfred Streubel recherchierte nicht nur den Verrat seines Vaters, sondern gleich alle weiteren in seinem Leben mit. Der 59jährige hatte bei der Gauck-Behörde in Berlin Einsicht in seine Opferakte beantragt, in der er als „Zersetzer“ geführt wurde. Vor der Akteneinsicht starb Streubel. Er hatte den positiven Bescheid der Gauck-Behörde im Dresdner Schriftstellerkreis publik gemacht. Was vorhanden war, war der Operative Vorgang gegen Streubel aus seinen frühen Berliner Jahren. Die Dresdner Opferakte blieb bisher unauffindbar. So wenig auffindbar wie jener Mann, der Streubel am 10. Juli 1992 besucht hatte.
Drei Personen haben den letzten Besucher Manfred Streubels gesehen. Der Automechaniker Mathias Hirschmann wusch damals gerade vor dem Haus seiner Eltern, zu dem die Wohnung Streubels gehörte, ein Auto. „Der Mann fragte im Vorbeigehen nach Herrn Streubel“, erinnert er sich.

Ich zeigte in Richtung Hauseingang und wusch am Auto weiter. Der Mann wurde eingelassen. Auf der Straße stand ein Wartburg. Die Leute darin hatten Blickkontakt zu Streubels Eingang. Es war ein ganz heißer Tag, und ich wunderte mich, daß sie da bei geschlossenem Fenster warteten. Nach einer halben Stunde habe ich unser Grundstück verlassen.

Mathias Hirschmann erinnert sich, gegen 18:30 Uhr das elterliche Grundstück verlassen zu haben. Seine Mutter sagt:

Als mein Mann und ich nach 20 Uhr wie gewohnt von unserem Bibelabend zurückkehrten, verließ im selben Augenblick ein junger Mann unseren Hof. Als ich aus unserem Auto ausgestiegen war und mich umdrehte, war der junge Mann schon mit einem auf der Straße wartenden Auto davongebraust.

Die Restauratorin Beate Rieß, damals Beate Richter und seit 1982 mit Streubel liiert, sagt:

Jemand muß Manfred derartig in Schrecken versetzt haben, daß er sich das Leben nahm.

An noch Schlimmeres verbietet sie sich zu denken:

Mir geht der Kälberstrick, an dem Manfred hing, nicht aus dem Kopf. Woher kam der Kälberstrick? Kälberstricke waren weder in der ehemaligen LPG noch im Bauernladen von Cossebaude aufzutreiben. Manfred war am 10. Juli in Cossebaude gewesen und hatte für unser gemeinsames Wochenende eingekauft.

Beate Rieß sagt auch:

Er hat mit mir immer sehr offen darüber gesprochen, wie es um ihn steht. Von Aufhängen war nie die Rede. Einen Monat vorher hatte er Tabletten genommen und Abschiedsbriefe hinterlassen. Diesmal nichts, nur diese unberührte Mahlzeit.

Manfred Streubel war nach dem ersten Selbstmordversuch am 23. Juni in ärztlicher Behandlung. Der Arzt hielt eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik für nicht notwendig.
Beate Richter, die mit dem Freund am 11. Juli verabredet war, erinnert sich:

Ich hatte einen Schlüssel für seine Wohnung. Ich bin durch die ganze Wohnung gegangen. Es war niemand da. Manfred war ein sehr vorsichtiger Mensch. Er machte immer alle Fenster zu, wenn er das Haus verließ. Das Schlafzimmerfenster war aber nicht zu. Da hab’ ich mir gesagt, er muß da sein. Und dann hab’ ich nochmal gesucht und ihn dann gefunden. Die Tür zum Boden stand einen Spalt offen. Ich hab’ dann wohl einen Fehler gemacht, als die Polizei kam. Ich hab’ gesagt, daß Manfred eine Depression gehabt hat. Da war für die alles klar.

Als der Tote abgeholt wurde, legte ein Polizeibeamter den Inhalt von Streubels Hosentaschen auf den Tisch. Beate Richter stutzte:

Die Dinge, besonders das Portemonnaie, hatten einen intensiven chemischen Geruch. Wie ein schweres Gas.

Beate Richter holte sich eine Bekannte als Zeugin, ließ sie riechen.
Erst fünf Tage nach dem Auffinden des toten Dichters erfuhr Beate Richter durch Mathias Hirschmann vom letzten Besucher Streubels. Sie lief zur Polizei, legte das Portemonnaie vor und berichtete, was diesen Selbstmord so merkwürdig machte:

Tun Sie was! Es waren Leute bei Manfred Streubel.

Die deprimierende Antwort, die sie zu hören bekam, sitzt fest im Gedächtnis.

Wir können uns nicht um jeden Ausrücker kümmern.

Der „Ausrücker“ Streubel. Beate Rieß hat noch einen brüllenden Staatsanwalt in Erinnerung, den sie informierte. Dann gab sie auf.
Zur Ruhe gekommen ist Beate Rieß mit dieser Geschichte nicht. Im Ohr hat sie, was ihr ein befreundeter Rechtsanwalt sagt:

Das ist kein Einzelfall. Ich habe schon einige solcher Dinge gehört, die sich von denen im Fall Streubel nicht unterscheiden.

Ein Sprecher der Dresdner Staatsanwaltschaft, der sich noch einmal, fünf Jahre nach dem Tod Streubels, die Ermittlungsakte kommen läßt, erklärt:

Aus der Akte geht nicht hervor, daß nach dem Unbekannten gesucht wurde.

Im Gedächtnis ist Beate Rieß die Frage eines Dresdner Schriftstellers unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Streubel-Todes:

Hat er etwas hinterlassen über Schriftstellerkollegen?

Man spürt förmlich das Aufatmen in manchem Beitrag, der für den in Dresden 1993 erschienenen Band Gedenkminute für Manfred Streubel geschrieben worden ist. Klar ist für Streubels Dresdner Kollegen von Rudolf Scholz, dem einstigen Parteisekretär im Schriftstellerverband, bis hin zu Rolf Floß, der in Joachim Walthers Stasi-Dokumentation als Spitzel geführt wird, daß Manfred Streubel am Kapitalismus gestorben ist.
„Auch peinlichster Kleinigkeiten erinnerte er sich“, weiß Scholz über Streubel zu berichten und nennt ihn einen „Wahrheitsfanatiker“, der „zu Ausdeutungen und Übertreibungen“ neigte, „die sich bisweilen wie absichtsvolle Unterstellungen ausnahmen“. Für Rolf Floß ist Streubels Tod eine „letzte Warnung vor einem Weg, den nun viele gehen“. Nur der gebürtige Dresdner Heinz Czechowski, längst nicht mehr in der Heimat ansässig, sagte unverstellt:

Streubel war kein Arschkriecher und kein Triumphator. Für die moderaten Töne, die er anschlug, wird es wohl jetzt und in absehbarer Zeit kein Gehör geben.

Der Dresdner Klaus Stiebert, ein Mann der evangelischen Kirche, hob sich ab von dem, was der mehr durch seinen Komponisten-Bruder Udo bekannte, inzwischen zum Professor aufgestiegene Ingo Zimmermann über Streubel schrieb:

Und er fühlte die Kraft schwinden, aufs neue zu widerstehen, seine dichterische Existenz noch einmal mit einem Lächeln zum Gipfel der ununterbrochenen Anstrengung emporzutragen.

Klaus Stiebert zitiert Streubels Sonett „Der Schmerzensmann“ aus dessen Poesiealbum 228 aus dem Jahre 1986:

Wir haben ihn geschlagen
und lachend umgebracht –
und dann mit lauten Klagen
aus ihm ein Bild gemacht –

das wir mit Goldglanz tünchten
(wie wär sein Ach sonst öd) –
und haben den Gelynchten
so herrlich überhöht –

daß er Vergebung künde
für alle unsre Sünde
die uns so tief erschreckt –

das Endziel allen Bangens:
die Geste des Umfangens:
ans Reißbrett angezweckt.

In einem Gespräch mit den Dresdner Heften zwei Monate vor seinem Tode nannte Streubel Wahrhaftigkeit als den Grundzug seines Lebens und faßte sein Lebensdilemma in die Worte:

Ich bin zunächst blauäugig in die neue Zeit gegangen; mit FDJ und „Du hast ja ein Ziel vor den Augen“. Ich war durchaus bereit, individuelles Schicksal als Spesen eines großen historischen Prozesses zu sehen. Dann kam der klare Einschnitt vom 17. Juni 53, den ich in Berlin erlebt habe. Der nächste Einschnitt war dann ’56, der 20. Parteitag. Von da an war ich draußen. Wir haben uns damals heimlich in Westberlin die Geheimrede von Chruschtschow besorgt. Absolut Schluß war mit dem Mauerbau. Was nun? Für mich bestand aus persönlichen Gründen eigentlich nie die Frage des Weggehens, der Weg ging also nach innen. Ich bin von Berlin erst mal nach Dresden gegangen; und das war das Verrückte: Zu einem Zeitpunkt, wo man eigentlich Mann werden muß, also ,hinaus ins tätige Leben‘, da habe ich mich zurückgezogen. Da habe ich Kindergärtner gespielt, da habe ich selbst wieder Kind werden wollen. Ich wollte Naivität vorführen in der Art von des ,Kaisers neuen Kleidern‘.

Manfred Streubel kam am 5. November 1932 in Leipzig zur Welt. Seine Kindheit verbrachte er im sächsischen Heidestädtchen Dahlen, wo Vater und Mutter Lehrer waren. Die Eltern hielten dem Jungen die Nazi-Ideologie vom Leib. Sie verhinderten die Ausbildung ihres Sohnes an einer nationalsozialistischen Eliteschule, für die ihn die Oberschule in Wurzen bestimmt hatte. Sie sorgten für eine unbeschwerte Kindheit des Jungen.
Diese unbeschwerte Kindheit versammelte der Schriftsteller Streubel um so intensiver um sich, je stärker er sich später vom SED-System bedroht fühlte. In seinem Nachlaß findet sich ein ganzer Berg von Fotos, die tief in die Familiengeschichte und in die Anfänge der Fotografie hineingehen. Die amtlichen Dokumente und die Erinnerungen der Vorfahren sind da aufgehoben. Und alles, dessen er habhaft werden konnte, über seinen Großvater mütterlicherseits.
Dieser Großvater war ebenfalls Schulmeister und ein heimlicher Poet. Der Großvater führte den Jungen zur Literatur – auf eine spielerische Art und Weise, die dem erwachsenen Manfred Streubel bis zum Ende seines Lebens eine Erinnerung an das Paradies blieb.

Manchmal warfen wir uns Stichworte, Reimworte zu wie bunte Bälle. Seither meine Lust am spielerischen, zugleich disziplinierten Umgang mit dem Reim: mit zu erzielender Übereinstimmung, mit, jawohl, Harmonie – ein Urelement aller Dichtung. Reim als kommunikatives Ereignis. Und auch als Trost. Lieder: im Keller zu singen.

So klingen Manfred Streubels Notate aus dem Nachlaß. In einem Lebensrückblick des geliebten Großvaters, den Manfred Streubel mit Unterstreichungen versehen hat, heißt es:

Im vorigen Monat mußte ich wieder daran denken, daß ich in meinem Leben mehr Glück hatte als die beiden Generationen vor mir, denn ich habe meine Eltern und meine beiden Großväter um eine große Zahl von Jahren überholt. Meine wirtschaftliche Lage war auch weit günstiger. Ich genieße die Sicherheit der Existenz und habe auch einige Reisen zum Vergnügen und zur Erholung machen können. Der Großvater Räbiger hat vermutlich bei neun oder noch mehr Kindern auf seiner damals hochdotierten Kantorstelle in Kunewalde bei Bautzen kein Zuckerlecken gehabt. Der Großvater Mertens und mein Vater waren Kaufleute, und sie haben wohl eine leidlich gute Existenz gehabt, solange sie lebten. Aber mit dem Sinken und Verschwinden der Arbeitskraft war dann auch wohl gleich alles vorbei und die Not da.

„Wie die Gesichter sich verändert haben! / Wo glückt noch Staunen seliger Versuch?“ schreibt Manfred Streubel in seinen bisher unveröffentlichten „Jeremiaden“, die Mitte der achtziger Jahre entstanden:

Wo ist noch Schicksal gültig eingegraben?
Wo strahlt noch Weisheit aus gelebter Zeit?
Wie die Gesichter sich verändert haben!:
Gefallen aus der Ebenbildlichkeit.

Manfred Streubels Vater, Schulleiter in Dahlen, wird in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs Volkssturmkommandeur und erhält den Auftrag, die Stadt bis zum letzten Mann zu verteidigen. Der Maurersohn Richard Streubel genießt unter den einfachen Menschen Vertrauen. Er bereitet die kampflose Übergabe der Stadt vor und sucht sich dafür die illegale Ortsgruppe der KPD als Verbündeten.
Manfred Streubels Mutter notiert:

23. April 1945: Panzeralarm 15:30. 16:30 werden die russischen Panzer erwartet. 17:00 Entwarnung.
24. April: 09:00 Sturmläuten. Räumungsbefehl für Frauen und Kinder, da sich der Russe nähert. Abends der erste amerikanische Spähwagen in Dahlen.
25. April: vormittags mehrere amerikanische Spähwagen in Dahlen. Entwaffnung von Volkssturm und durchmarschierenden Militärs.
26. April: noch immer bange Zweifel: kommt der Amerikaner oder der Russe?
27. April: Übergabe der Stadt an amerikanische Besatzungsbehörde. Waffen, Ferngläser, Photoapparate müssen mit Namen versehen abgegeben werden.

Der 50jährige Richard Streubel soll Bürgermeister werden. Er wird es nicht. Nach der Übergabe der Stadt an die Sowjets wird er verhaftet. Die Kommunisten schützen ihn nicht. Manfred Streubels Mutter sprach gegenüber dem Sohn von einer Denunziation. „Seither fehlt jede Spur von meinem Vater“, schrieb der Sohn in einem Lebenslauf für die Aufnahme in den Schriftstellerverband 1963. Später wußte er, daß sein Vater im sowjetischen Lager Mühlberg ums Leben kam. Verhungert, Krankheit oder Mord? Den Todesumständen war Manfred Streubel nach 1989 auf der Spur.
Der dreizehnjährige Manfred Streubel legte das Verschwinden seines Vaters erst einmal in die Kategorie Mißverständnis ab. Noch hoffte er ja auf dessen Rückkehr. Mutter Hildegard, deren Vater ein eingefleischter Sozialdemokrat gewesen ist, trat in die SPD ein und fand sich nach der Vereinigung von KPD und SPD in der SED wieder. In einem Lebenslauf Manfred Streubels von 1953 heißt es:

Wir fanden den Weg: meine Mutter zur Partei der Arbeiterklasse – ich zur Freien Deutschen Jugend.

Hildegard Streubel wurde Pädagogin am Lehrerbildungsinstitut in Radebeul.
Nach außen unterwarfen sich die beiden der Auffassung der neuen Machthaber, wonach der Vater Schuld auf sich geladen hatte. Doch zum sechzehnten Geburtstag ihres Sohnes schreibt ihm die Mutter die Zeilen:

Mein größter Wunsch ist es, daß Du so heranwachsen möchtest, daß Du allzeit die Freude und der Stolz Deines guten Vaters sein könntest.

In einem Brief. vom 16. Mai 1959 heißt es:

Heute vor 14 Jahren mußte Vater fortgehen.

Es gibt keinen Gedichtband Manfred Streubels, in dem der Vater nicht vorkommmt oder die Kindheit in Dahlen nicht erwähnt ist. Das Unfaßbare des väterlichen Schicksals läßt den Sohn nicht los. Im Wissen, daß es in der DDR keine Möglichkeit gibt, den Verrat an seinem Vater aufzudecken.

Die Hände meines Vaters waren groß:
daß Haus und Hügel heimlich in sie paßten.
Und hielten warm und trugen mühelos –
was sie erfaßten…

Als ihn der Tod rief, schnürte er die Schuhe
mit solcher Kraft, daß laut das Leder riß.
Und ging davon. Und ging in reiner Ruhe.
Nach letztem Druck so meiner Hand gewiß.

Ausgerechnet Kurt Barthel (1914–1967), der sich Kuba nannte, entdeckte 1951 den achtzehnjährigen Manfred Streubel als „junges Talent“. Streubel war der Wortführer einer Kulturgruppe in Oschatz, wo er im selben Jahr sein Abitur machte. Es war jener Kuba, der, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem englischen Exil zurückgekehrt, stalinistische Agitpropverse schrieb und als Sekretär des Schriftstellerverbandes eine widerliche Rolle spielte, so daß ihn Alfred Kantorowicz den „neuen Horst Wessel“ nannte. Bertolt Brecht schlug in seinem Gedicht „Die Lösung“ dem Sekretär des Schriftstellerverbandes Kuba, der der Bevölkerung nach dem 17. Juni 1953 vorwarf, sie habe sich das Vertrauen der Regierung verscherzt und müsse nun doppelt gut arbeiten, vor:

Wäre es da
Nicht einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Kuba sorgte für die Veröffentlichung von Streubel-Gedichten in der FDJ-Zeitung Junge Welt. Streubel ging nach Berlin, wurde bei dem Blatt Redaktionsgehilfe, ein Jahr später Redakteur und Kommentator beim DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Der Aufstieg hätte munter weitergehen können, doch Streubel wollte studieren. Werner Liersch erinnert sich:

An der Humboldt-Universität im September 1953 lerne ich ihn kennen. Verwundert erzählt man sich, da sei einer in unserm Seminar, der habe ganz einfach gesagt, er wolle Dichter werden. Dichter, das war 1953 eine große Sache, Dichter hießen Brecht, Hermlin, Becher, Huchel, hießen Heine, Hölderlin, Goethe oder Walther von der Vogelweide. Und der mischte sich gleich unter sie: Manfred Streubel.

Mit Manfred Streubels Gedichtband Laut und leise wurde 1956 die Reihe Antwortet mp, Vorläufer des von Bernd Jenztsch herausgegebenen Poesiealbums, eröffnet. Dem Debütanten Streubel folgten Louis Fürnberg, Georg Maurer, Nazim Hikmet, Wolfgang Weyrauch und Heinz Kahlau. Locker, lässig und lapidar präsentierte Streubel seine biographischen Angaben:

TÄTIGKEIT: studieren. WOHNHAFT: natürlich in Berlin. zu HAUSE: möglichst überall. LEBEN UND WERK: wird schon werden.

Beste Rezensionen vom Neuen Deutschland bis zum Sonntag. Das beflügelte. Der Sturz Stalins vom Sockel, eingeleitet durch Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU, beflügelte noch mehr. Heinz Kahlau, Jens Gerlach, Manfred Bieler und Manfred Streubel verabredeten sich zu einem Angriff auf die rigide Kulturpolitik der SED. Auf dem II. Kongreß Junger Künstler in Karl-Marx-Stadt, der im Juli 1956 stattfand, traten sie in einem viergeteilten Referat ans Rednerpult. Manfred Streubel sagt:

Es wird geklagt über das schlechte Verhältnis zwischen Dichter und Leser. Es ist eine alte Weisheit: Von allen Fehlern deiner Schüler suche den Grund zuerst in dir selbst. Wir haben uns einen großen Teil Vertrauen verscherzt. Wodurch? Wir haben gute Begriffe inflationiert: Frieden, Freundschaft, Heimat bedeuten nichts mehr. Wir haben uns heiser geschrien und die Leute taub gemacht auch für die Wahrheit. Lassen wir das hohle Pathos.

Der Dichter habe lediglich die Zukunft besungen, so zitierte das Neue Deutschland Streubel, ohne sich mit den Unzulänglichkeiten der Gegenwart auseinanderzusetzen. Er solle wieder nüchtern die Dinge betrachten, um so den Worten wieder Wert und Gewicht zu geben, was gewiß nicht leicht sein werde.
Man merkt, Manfred Streubel ist alles andere als ein großer Redner. Im Unterbewußtsein dieses 23jährigen schwingt jenes Wissen mit, daß man in diesem System verschwinden kann wie sein Vater. So versuchte er seinen Angriff dadurch zu dämpfen, daß er sich in jenen Kreis einbezieht, den er angriff. Es ist die Gesamtwirkung aller vier Referate, die von den SED-Funktionären als „konterrevolutionäres Verhalten“ empfunden wird. Zumal da einer der vier ein glänzendes rhetorisches Talent hat, um die Vorwürfe der anderen auf die Spitze zu treiben: Heinz Kahlau. Der sagt:

Die Wahrheit des Marxismus wurde zugunsten billiger Scheinwahrheiten aufgeopfert. Zehntausende haben in diesen Jahren die Buchstaben des Marxismus, aber nur wenige seine Wahrheit verstanden. Dieser Zustand ist unschöpferisch und deshalb kunstfeindlich. Die Kunst braucht die geistige Freiheit, die Kunst braucht die Toleranz… Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Künstler zu Ausrufern von Parteibeschlüssen, von Regierungsverordnungen. Sie machten Kunstwerke über diese und jene Maßnahme, Begebenheit oder These, rechtfertigten die Fehler und ignorierten die Wirklichkeit… Von Leuten, die um ihre Sofas bangen, kann man keine kämpferische Auseinandersetzung verlangen, genauso wenig wie man sie von Funktionären verlangen kann, die alle Wege mit dem Dienstwagen erledigen. Sie wissen nichts mehr vom Leben. Gewissen und Verantwortung ist nur von denen zu erwarten, deren unbedingte Existenz davon abhängt. Das sind in stärkstem Maße die Künstler. Ein Künstler, der zu den Zweifeln, Fehlern, Erfolgen und Leistungen seiner Zeit schweigt, ist kein Künstler. Aber auch der ist keiner, der sich nur an den Erfolgen und Leistungen versucht.

Im Schlußwort auf dem Kongreß reagiert erst Konrad Wolf, der Bruder des Stasi-Mannes Markus Wolf:

Das Recht, das besonders von unserem Freund Heinz Kahlau so betont in Anspruch genommen wurde, setzt meines Erachtens auch eine Pflicht voraus, und zwar die Pflicht, daß man in der Form zumindest eine elementare Anständigkeit und Sauberkeit bewahrt gegenüber unseren schwer erkämpften Errungenschaften, gegenüber den Menschen, die dafür ihre ganze Kraft, ihre Gesundheit und ihr Leben eingesetzt haben.

Manfred Streubel hat festgehalten, wie Kuba als Versammlungsleiter ihn und die drei anderen beiseite nahm und sie anbrüllte:

Wir werden mit euch verfahren wie Mao Tse-tung. Lockt sie heraus mit ihren Bekenntnissen. Laßt alle Blumen blühen und danach Kopf ab. Genauso machen wir es mit euch, ihr verdammten Strolche.

Zwei Abgesandte des SED-Zentralkomitees, die dabei standen, kündigten an:

Wir werden euch unterdrücken mit allen Mitteln.

„Das war mein (kultur-)politisches Grunderlebnis“, heißt es in den nachgelassenen Papieren Streubels.

Diese Drohung, über uns blutjunge Wahrheitssucher verhängt, ein gestundetes Urteil, wurde niemals zurückgenommen.

Das erhoffte Tauwetter nach Chruschtschows Enthüllung stalinistischer Verbrechen geht im Blutvergießen des ungarischen Aufstands bereits im Herbst 1956 unter. Ungarns Freiheitsbestreben wird von sowjetischen Panzern niedergewalzt. In Polen kommt der als „Titoist“ und „Nationalist“ inhaftierte Gomulka wieder an die Macht. Und in der DDR rechnet Walter Ulbricht mit seinen Gegnern ab. Wolfgang Harich, Chefredakteur der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, und Walter Janka, Chef des Aufbau-Verlags, werden verhaftet und 1957 wegen konterrevolutionärer Verschwörung verurteilt. Erich Loest sitzt sieben Jahre ab. Hans Mayer und Ernst Bloch setzten sich in den Westen ab.
Manfred Streubel gerät in das Netz von Observation und Verfolgung. Aus der Stasi-Akte, die gegen ihn als „Zersetzer“ angelegt wird, sind seine Kontakte zu Erich Loest festgehalten. Eine Zusammenkunft in Graal-Müritz an der Ostsee wird observiert. Es wird festgestellt, daß Streubel im Berliner Kulturbund am Donnerstag-Kreis teilgenommen hat, in dem freimütig über politische Veränderungen diskutiert worden ist – mit Wolfgang Harich. Notiert ist, daß Streubel mit Teilnehmern dieses Kreises an Veranstaltungen des Filmclubs der Freien Universität in Westberlin teilgenommen hat. Manfred Streubel rechnet mit seiner Verhaftung. Er bleibt frei, doch geängstigt in die Substanz hinein. Der Gedanke, daß das Leben zu Ende ist, noch ehe es angefangen hat, verband sich mit dem Gedanken an seinen Vater und jene Willkür, der dieser ausgesetzt war. Eine Angstprägung, die sich nicht mehr lösen sollte. „Ich bin kein Kämpfertyp“, resümiert Streubel nach 1989.

Ich habe meine Feder nicht mit Majakowski als ,Waffengattung‘ betrachtet. Weder pro noch kontra. Höchstens als Blasrohr. Holunderflöte. Als eine Art Spielzeug. Das ich ererbt von meinem Vater hatte – und Großvater. Mich hat das Jahr 1956 in die Einsamkeit getrieben.

Mit der Wende erfuhr Streubel, daß seine Angst nicht unbegründet war. Man hatte die vier Redner vom Kongreß der Jungen Künstler für Bautzen vorgesehen. Hans Modrow, der sich laut eigener Aussage für sie einsetzte, sagt, er könne sich an eine solche Drohung nicht erinnern. Heinz Kahlau unterschrieb 1957 bei der Stasi und verpflichtete sich als Inoffizieller Mitarbeiter. Über Manfred Bieler, Jens Gerlach und Streubel hing das Damoklesschwert der Drohung. Bieler geriet 1966 erneut wegen „schädlicher Tendenzen“ ins Schußfeld der Kulturbürokratie und setzte sich nach Prag ab, um 1968 nach München zu gehen. Nichts da mit Streubels Traum, Arm in Arm das Jahrhundert in die Schranken zu fordern. „Naivität war ein Zug meines Lebens“, sagt er.

Die letzte Zuflucht, letzte Möglichkeit schien mir das Menschliche – mit dem schönen Epitheton ,rein‘ davor. Also, vor allem, die Freundschaft. Die Treue, welche laut Volkslied nicht wanken darf.

Manfred Streubel erinnert sich an einen bezechten Sommerabend im Jahre 1958 mit Heinz Kahlau, der ihn auffordert: „Umarme mich mal. Na los doch!“ „Gut, dachte ich“, so Streubel. „Kleine Verbrüderung fällig. Ich legte ihm, wie gewünscht, meinen Arm um den Rücken.“ „Etwas tiefer“, hörte er. „Noch tiefer. Fühlst du was?“ „Ja, ich fühlte“, so schreibt Streubel. „Da war etwas Kantiges, Hartes. Unter der Achsel des Freundes. Eine Pistole? Mein Gott.“ „Nur daß du Bescheid weißt“, hörte er Kahlau sagen.

Von heute an ist es besser für meine Freunde, also auch für dich, sich nicht mehr auf mich zu verlassen.

„Ein denkreifer, unvergeßlicher Satz, der mir die Sprache verschlug“, schreibt Streubel.

Ich habe mich nie wieder richtig davon erholt. Nie mehr erholt von dem Schreck, daß der Freund sich verdingt hatte, zum Handlanger der noch kurz zuvor attackierten Macht geworden ist. Von der Erfahrung: daß keinem zu trauen ist. Keinem.

Im Nachlaß Streubels findet sich ein Interview des Neuen Deutschland vom 3. Januar 1992, in dem Kahlau sich zu seiner IM-Tätigkeit bekannte und das als Titel ein Zitat des Schriftstellers trägt:

Ein Leben entsteht aus dem Richtigen und dem Falschen, eben aus dem, was der Mensch tut.

Streubel schrieb darunter:

Und der Clevere tut immer das Richtige Falsche! Wer kein IM war, der steht heute da wie eine hohle Nuß.

Unter dem Artikel vermerkt Streubel:

Die große Reinlichkeits-Welle ist angebrochen – unter den Füchsen.

Sechs Jahre vor der Wende hatte Manfred Streubel in seinem Band Fazit einer „Resignation“ Ausdruck gegeben, die mit den Kahlaus der DDR zu tun hat:

Umkehr: wie falsch, wie verlogen.
Wir: welche Schmach.
Läßt sich denn spannen der Bogen, wenn er zerbrach?
Findet die Frucht, die sich löste, Halt noch am Holz?
Ach dieses träge Getröste. Sterbender Stolz.
Bleiben: welch furchtbarer Fehler,
einer des anderen Hehler, an Ekel erkrankt.
Zu faul – noch nach Freiheit zu fragen.
Zu feige – die Wege zu wagen:
die einer dem anderen verdankt.

Im Jahr des steilen Aufstiegs und tiefen Falls, genau an jenem Höhenpunkt, wo der Fall begann, lernte die neunzehnjährige Palucca-Schülerin Irmhild Illgen auf dem Kongreß der Jungen Künstler in Karl-Marx-Stadt Manfred Streubel kennen. Die heutige Ballettpädagogin an der Musikschule Berlin-Mitte sagt:

Manfred Streubel hat etwas gesucht, was er nicht hatte. Ich war direkt, spontan und rational. Ich kann es nicht leiden, Probleme ewig mit mir rumzuschleppen. Wenn ich ein Problem sehe, dann gehe ich es an, erledige es. Dann belastet es mich nicht mehr. Dann gehe ich das nächste Problem an. Und so gehe ich eigentlich durchs Leben.

Genau das war die Frau, die der 23jährige Manfred Streubel suchte und die er um so dringender brauchte, als ihm jetzt sein Leben zerschlagen wurde. Es war so, als sei sie gekommen auf einen Ruf aus seinem ersten Gedichtband Laut und leise:

Gewölk ist aufgezogen
Der Wind hat sich gedreht.
Komm auf den Regenbogen,
der über Stoppeln steht.
Komm mit dem Glockenspiele,
dem letzten Vogelflug,
dem Kahn des Mondes, der viele
schon übers Wasser trug.

Die Ballettpädagogin erinnert sich:

Ich war natürlich, und er war, nun ja, Lyriker. Es war das erste, was er sagte: „Ich bin Lyriker.“ Als normaler Mensch sagst du dir: Aha, Lyriker, sag mal nichts im ersten Moment, weil du mit dem Wort gar nichts anfangen kannst. Ich wußte erst mal mit dem Mensch gar nichts anzufangen und hab’ mich doch in ihn verliebt.

Irmhild Illgen stammte wie Manfred Streubel aus einer Lehrerfamilie. Die Eltern waren begeisterte Sportler gewesen. Irmhild Illgens Mutter hatte es Anfang der dreißiger Jahre zur deutschen Meisterin im Speerwerfen gebracht. Der Vater gab Skikurse und trainierte in Dresden die Ruderer.
Irmhild Illgen lebte mit ihrer Mutter nach dem Krieg allein in Dresden. Der Vater, im Kriege Korvettenkapitän, fürchtete bei Rückkehr 1945 die Gefangennahme durch die Sowjets und blieb im Westen. „Aber da war noch etwas anderes“, sagt seine Tochter heute.

Er war ein Lebemann und ein Filou dazu. Doch seine Ängste 1945 waren berechtigt. Den hätten sie 1945 nach Sibirien deportiert.

Irmhild Illgens Vater, Heimathafen Eckernförde, war gegen Kriegsende im französischen St. Lazaire stationiert:

Als er hörte, was mit Dresden passiert war, hat er versucht, mit einem Paddelboot zusammen mit einem Kameraden die Loire hinaufzukommen. Die beiden wurden gefaßt. Er sollte dann Minen räumen. Um dem Todeskommando zu entkommen, hat er sich die Pulsadern aufgeschnitten, kam ins Krankenhaus. Mit einem Kassiber verständigte er seine französische Freundin in Paris. Die schickte ihm Fluchtanweisungen, in Nüsse eingeklebt. Er floh, erreichte Paris und die Freundin, bekam von ihr falsche Papiere, geriet auf der Zugfahrt in Richtung Schweiz in Panik, als die Zugkontrolle kam. Er mußte seine gefälschten Papiere nicht zeigen: Eine alte Frau starb im Abteil. Er stieg an der nächsten Station aus. Zu Fuß erreichte er die Grenze, brach erschöpft zusammen und wurde entdeckt von einem ehemaligen Schüler des Pädagogischen Instituts Dresden, den er einmal unterrichtet hatte. Er ist gerettet, er hat sich gerettet. So war mein Vater.

Es waren nicht Geschichten dieser Art, die Manfred Streubel faszinierten. Es war diese ihm völlig fremde Vitalität, die aus diesen Geschichten und aus deren Erzählerin sprach, die ihn gefangennahm. Da war eine Frau, die ihm erklärte:

Schwanensee will ich nicht tanzen. Ich will nicht der zwölfte Schwan und auch nicht der erste sein, weil ich nicht verstehen kann und nie verstehen werde, warum sich die Tänzerinnen erst auf die Spitze stellen, das Bein hochstrecken, um dort unten den Prinzen zu küssen.

Die Frau sagt heute:

Ich mache und habe immer nur Dinge gemacht, die ich erfassen und die ich über meinen Körper rübertransportieren kann.

Doch da war auch noch eine andere Irmhild Illgen, die eben nicht unheilbar gesund schien, sondern verletzlich auf eine Weise, in der Manfred Streubel ihr nahe war. So, wenn sie von jenem Grauen erzählte, das sie seit dem Bombenangriff auf Dresden nie mehr los wird. „Das hängt mir bis heute an“, sagt sie, „daß ich weder ein Gewitter abkann, daß ich panisch werde, wenn ein Flugzeug über mir fliegt, daß ich kein Fleisch mehr essen kann. Von Bratengeruch wird mir übel.“
Manfred Streubel und Irmhild Illgen heirateten 1958. Ein Jahr später kam der Sohn Tilman zur Welt. Für ihn schrieb Streubel den Band Honig holen, Kindergedichte, die 1976 erschienen. Da war Streubels Ehe längst geschieden, eine weitere gescheitert – und der Sohn, der ihm nach der Scheidung von seiner Frau Irmhild zugesprochen war, hatte ihn in Richtung Mutter verlassen. Tilman legte den Namen des Vaters ab und nahm den Namen Kaufer an. Den Namen des Mannes, mit dem seine Mutter ihre zweite Ehe einging.
Irmhild Kaufer, in ihrer aktiven Zeit Mitglied des Tanzensembles der DDR, sagt:

Manfred war ein Romantiker. Ich hab’ ihm später gesagt: „Du bist eigentlich zu spät geboren.“ Man kann sich nicht umkrempeln. Ich will ihn nicht schlecht machen, wenn ich sage: Er schwebte, kam ab und zu runter und schwebte wieder ab. Das ist mein Bild von Manfred: Abschweben.

Das war kein falsches Bild, aber doch nur eines. Es teilt nichts mit von der Angst, in der Streubel damals lebte, die er aber versteckte. Das System, das ihn überwachte, sah ihn ganz und wußte den Naivitätssüchtigen so abzudrängen, daß von ihm keine Gefahr mehr zu erwarten war. Bis 1964 arbeitete Manfred Streubel für die Kinderzeitschrift Fröhlichsein und Singen, die letzten zwei Jahre von Dresden aus, wohin er umzog. Er hat diese Arbeit nicht als Last empfunden. Daß das dichterische Spiel mit Kindern – Streubel schrieb Hörspiele und Theaterstücke für Kinder – ein Spiel des Systems mit ihm selbst war, hat er erst viel später gewußt.
Erst 1968 war er wieder mit einem Gedichtband da: Zeitansage. „Zwölfmal am Tag schlägt meine letzte Stunde. / Ich möchte fliehn“, heißt es im Titelgedicht. „Kein Ausweg mehr / Wohin ich mich auch wende…“ Wer heute auf den Band Zeitansage schaut, erkennt in ihm ein exemplarisches Stück deutscher Lyrik der zweiten Jahrhunderthälfte. Ein Dichter hält da die Polarität von Gottfried Benn und Johannes R. Becher aus und trägt sie aus.
Der 36jährige Streubel in diesen „ Gedichten aus zehn Jahren 1957–1967“, wie es im Untertitel heißt:

Sieben Jahre habe ich geschwiegen…
Sieben Jahre bin ich stumm verlodert
Meine Wälder sanken. Schicht auf Schicht…
Das duftende Holz. Der Ofen.
Das Briefpapier: schneeweiß.
Und die unendlichen Strophen
Saat unterm Eis…

Ich treffe dich: du guter, roter Reiter:
mein Bruder Isaak
Im Wort.
Wo ich das Feste finde
Den einzigen, sicheren Ort
bevor mir die Sehnsucht versandet…
Die Schafe hüten den Schäfer…

Jeden Traum noch einmal geträumt!
Jeden Schrei noch einmal geschrien…
Aber die furchtbaren Chiffren des Blutes in den Steinen von Budapest…
Aus Turm und Kerker: steinerne Annalen
verfluchter übermacht…
So kam er schließlich: ein Fremder: zurück in sein Land.

Im Westen horchte nur einer auf: Arnfried Astel vom Saarländischen Rundfunk. Der schrieb Streubel 1970 einen Brief:

Peter Schütt in Hamburg, der Sie als den „Rühmkorf der DDR“ apostrophiert, hat mich auf Ihren Gedichtband aufmerksam gemacht. Ich habe mir das Buch besorgt und würde gern am 15. Oktober eine halbstündige Lesung daraus bringen. Wenn wir es irgendwie einrichten können, sollten Sie selbst lesen.

Eine Gefälligkeitsaufnahme für den Saarländischen Rundfunk durch einen DDR-Sender, wie sie Paul Wiens, dem „IM Dichter“ laut Joachim Walthers Buch, möglich war, wurde dem Dichter Streubel nicht gestattet.
Werner Liersch erinnert sich in einem Feature für den Hessischen Rundfunk an Manfred Streubel:

Lange Jahre wohnt er in Dresden hoch über der Stadt in Loschwitz am Veilchenweg 34. Er hat einen Balkon an der kleinen Wohnung, und da sitzen wir und schauen auf die unten ziehende Elbe und Dresden im Horizont der in der Ferne die Stadt rahmenden Berge und reden darüber, was geschehen ist und daß es nicht unser Aus sein kann… In Streubels Wohnung ist wenig Ordnung und in seiner Küche schon gar nicht. Über den für sein Kind reservierten Bereich hat er geschrieben: „Einflugschneise für Spaßvögel“.

Es ist eine Einflugschneise in die Katastrophe. Natürlich soll der Sohn so sein wie einst er im Umgang mit seinem dichtenden Großvater. Doch der Sohn will von den Kindergedichten, die ihm der Vater schreibt, nichts wissen. Wenn Manfred Streubel dem Tilman gewidmeten Band Honig holen Zeilen von Matthias Claudius an dessen Sohn voranstellt, dann spürt der Sohn, daß der Vater mehr zu sich als zu ihm spricht:

Und sinne täglich nach über den Tod und das Leben, ob Du es finden möchtest, und habe freudigen Mut.

Mit Gedichten kann er den Sohn nicht gewinnen, auch wenn sie noch so schön sind:

Igel ist kaputtgegangen.
Daß er nicht mehr laufen kann.
Totgefahren. Ach, was fangen
wir nun ohne Igel an?

Können in dem Garten
nicht mehr auf ihn warten.
Hat so recht geraschelt.
Von der Milch genaschelt.
Wird uns furchtbar fehlen.
Läßt sich nicht verhehlen.

Igel wird nun tief vergraben.
Erde: werde ihm nicht schwer.
Darfst auch seine Stacheln haben.
Denn die braucht er nun nicht mehr.

Muß sich nicht mehr wehren.
Kann sie drum entbehren –
und im Mai in Massen
für uns blühen lassen
Auch wenn wir unterdessen
ihn beinahe ganz vergessen.

Tilman Kaufer, gelernter Baufacharbeiter, heute arbeitslos, sagt:

Ich sag’s mal eiskalt: Dieser Vater bedeutet mir nichts. Dabei muß er mich unheimlich geliebt haben. Er hat alles gemacht, er hat gekocht, er hat Fürsorge total verstanden. Aber es war ein furchtbares Weicheigetue. Mich interessierten seine Gedichte nicht. Mich ärgerte seine Art, mich ständig vor allen vermeintlichen Gefahren zu bewahren.

Tilman Kaufer erinnert sich, wie sich sein Vater aufgeregt hat, wenn er, der Sohn, im Fernsehen den Ganoven die Daumen gedrückt hat:

Als ich den Film Dem Himmel ein Stück näher gesehen hatte, so eine Geschichte über eine Jugendgang, da hab’ ich meinem Vater gesagt: „Das erste, was ich mache, wenn ich weg bin, ich bin in solch einer Gang.“ Und ich hab’ es in Berlin gemacht, als ich meinen Vater mit sechzehn verließ.

„Mein Vater hat sich kaputtgemacht mit seinen Ängsten“ sagt der Sohn und sagt auch:

Ich hasse die Künstler. Was wollen denn Künstler anderen geben. Sie reichen doch lediglich ihre Probleme weiter. Künstler kriegen nie den Arsch an die Wand. Nur meine Mutter. Die ist hart. Ich habe siebzehn Jahre gesoffen wie ein Tier. Seit vier Jahren habe ich einen klaren Kopf. Seit vier Jahren denke ich.

Genug gehört! Ach, Fluch und Hohngelächter
war meiner Stimme Echo: greller Chor.
So macht ihr mich zu meinem eignen Schlächter.
Hier ist mein Ohr.

Hier ist mein Auge: Glut aus großer Schwärze.
Genug gesehn in Frost und Freudenhaus!
Bevor es blakt wie eine Kirchenkerze –
Ich reiß es aus.

Hier ist mein Leben: blutige Bemalung
des Götzen Du. Der Güte nicht begehrt.
Hab ich kein Geld – so nehmt mich selbst in Zahlung!
Ich bin was wert.

Welch hoher Preis. Der Gläubiger muß blechen.
Denn niemand dankt ihm Demut und Geduld.
Und während Schuldner meine Zeit verzechen –
Fall ich in Schuld.

Ich schlage um mich. Letzte: Revolte.
Bis meine Hand: die keine Hand mehr hält:
Das Brot vergißt, das sie euch bringen wollte.
Und fällt. Und fällt.

Vater, Sohn und Vincent van Gogh im Fall, „Vincent im Abgrund“, wie Manfred Streubel dieses Gedicht genannt hat. „Schaff Dir etwas Kaltblütigkeit an“, schreibt Hildegard Streubel ihrem Sohn Manfred 1970, in ihrem Todesjahr. Auch dieses Verhältnis war schwierig, belastet vom unausgesprochenen Vorwurf gegen eine Pädagogin, die Lehrer für ein System ausbildete, das seinem Vater das Leben gekostet hatte. Im Gedicht „Müde Mutter“ läßt Streubel sie auf den Sohn blicken, der in sich den Vater trägt:

Aber dein Blick, der den lange Verlorenen suchte –
den du noch sterbend zum einzigen Stolz dir bestimmst –
geht in die Ferne hin. Und der im Unglück Verfluchte
wartet so nahe, ach: daß du den Fluch von ihm nimmst.

Will der Erhoffte sein. Den du schon nicht mehr vermutest.
Geht furchtbar fort.
Mutter am Fensterkreuz: Wartende: und du verblutest.
An meinem Wort.

Manfred Streubel zwischen Selbsterfindung und Stigmatisierung in der Rekonstruktion des Lebens aus dem Inneren der Sprache. Zehn Jahre nach Zeitansage machte Streubel auf 138 Seiten – in Anklang an Günter Eich – „Inventur“. Mit den Gedichtbänden Wachsende Ringe (1980) und Fazit (1983) schrieb er sich als Sonettdichter ins Abseits.
Gerhard Rothbauer, in seiner Sensibilität eine Ausnahmeerscheinung in der Literaturkritik der DDR, beschrieb die Situation des Sonettdichters Streubel so, daß dieser sich nicht verletzt fühlen konnte:

Gewiß ist Streubel auch schon früher gegen den Strom der Lyrik geschwommen, und sei es allein in seiner überschäumenden Freude am Reim. Jetzt aber ist seine Sonderstellung noch deutlicher.

Wulf Kirsten sagt:

Manfred Streubel ist da auf eine Art Nebengleis geraten. Ich war seiner Sonette auch etwas überdrüssig.

Thomas Rosenlöcher, einer von der jüngeren Generation und durchaus traditionsbewußt, bekennt:

Wir sind ja alle mit den Sonetten Bechers gequält worden. Sonett hieß Becher. Bechers Sonette waren schlecht, und was an Becher erinnerte, darauf reagierte man allergisch. Wir waren also ungerecht gegenüber Manfred Streubel.

Ein Bündel Briefe ist noch hinterblieben,
die du dereinst aus dem Gefängnis schriebst.
Als wären sie direkt an mich geschrieben,
erfahre ich die Weisung, die du gibst:

auch das Geringe nicht gering zu achten –
den bunten Käfer und das grüne Blatt –
und bang zu lauschen noch im Lärm der Schlachten,
was für ein Vogel da gerufen hat –

und einen müden Büffel zu beweinen –
von Mitleid krank und gegen nichts immun,
solange noch ein Schmerz zum Himmel schreit –

und wieder hart und heftig zu erscheinen –
und so das Nächste, Nötige zu tun:
Revolution: aus purer Zärtlichkeit.

Dem Gedicht „Rosas Brief“ stellte Streubel ein Gedicht über den von den Nazis hingerichteten Pfarrer Dietrich Bonhoeffer gegenüber, „Fragment Bonhoeffer“:

Das stemmt sich: stürzend: gegen seine Grenzen.
So sehr bewirkt von widriger Gewalt
weist es hinein in kühnste Konsequenzen:
in eine ganz gelungene Gestalt –

die noch nicht möglich war – in dieser Eile! –
jedoch erkennbar ist als großer Plan:
als letzter Wille des Entwurfs, der Teile.
Und alles Tu-bare ist so getan –

daß es uns zwingt zu stärkerer Bestrebung:
so umzugehen mit dem Material,
das uns gegeben ist zu treuer Hand:

die Gabe zu gebrauchen in Ergebung:
das noch das Bruchstück zeugt von Wurf und Wahl.
Denn alle Gegenwart heißt: Widerstand.

Der Lyriker Manfred Streubel entwarf Modelle des Wünschbaren und richtete sie aus an Rosa Luxemburg und Dietrich Bonhoeffer, an Käthe Kollwitz und Ernst Barlach, an Vincent van Gogh und Edvard Munch, an den schlesischen Mystikern und dem mediterranen Albert Camus. Und er schrieb gegenstandssüchtige Gedichte, immer wieder mit dem Blick auf seine Kindheitslandschaft. Und wie bei jedem Gedichtband, den er schrieb, ist es eine Art Abschiedslyrik. „Letzte Dinge“, wie es in einem nachgelassenen Zyklus heißt. Diese letzten Dingen können sein: Bleistift, Butterbrot, Tisch, Türklinke, Schuh, Buch, Ball, Stern, Strauch…
Weil das Westfernsehen Dresden nicht erreichen konnte, nannte man jenen Teil der DDR „Tal der Ahnungslosen“. Streubel hat Dresden als eine „knisternde Idylle“ bezeichnet. Er kannte sie hier alle. Lokalmatadoren, die ihre kleine Macht genossen. Heinz Klemm, der einst bei der Legion Condor war und dann Exotisches schrieb. „Weißt du“, hörte er ihn sprechen, „die einzige Chance für unsereins, moralisch zu überleben, war, sich bedingungslos auf die andere Seite zu stellen.“
Manfred Streubel fand das „ungeheuer bedenklich“. Und zu sich sagt er:

Ich empfand keine Schuld, auch keine Kollektivschuld, und ich mußte auch dem neuen System nicht dankbar sein für irgend etwas.

Einmal hatte Streubel das große Wort geführt. Nun hörte er überall zu. Dem Staatsanwalt Hasso Mager, der zur Literatur gefunden hatte und davon zu erzählen wußte, wie der SED-Mann Paul Fröhlich nach dem 17. Juni 1953 in Leipzig die Köpfe rollen lassen wollte. Streubel hielt Mager für einen Freund, heute ist er von Joachim Walther enttarnt als IM.
Gegenüber den Dresdner Heften sagte Streubel:

Wie war denn diese scheinbare Idylle beschaffen? Im Grunde war die freie Bewegung nur möglich in einem ganz eng beschriebenen Raum. Also, als ich nach Dresden kam, was bekam ich da mit: Die meisten Funktionäre wurden ja nur wie bei Puntila im Zustand der Besoffenheit gesprächig. Einer war dabei, der seine Gespräche immer mit der Floskel eröffnete ,Aber das sage ich nur dir‘. Und er sagte also nur mir, daß Anfang der sechziger Jahre Auguste Lazar, eine bedeutende Schriftstellerin, Jüdin, also Verfolgte des Naziregimes, von einem wichtigen Verbandsfunktionär bei der Stasi denunziert worden war. Sie unterhielte einen ,zionistischen Zirkel‘: nur, weil sie ab und zu Freunde zu sich einlud. Solche Verunglimpfungen waren eben möglich. Das waren die Parvenus, die nachdrängten. So etwas passierte immer wieder. Und irgendwie knisterte es ständig.

In seinem Gedichtband Fazit schreibt Streubel:

Die Macht, die ich gewinne –
die habe ich zwar inne.
Sie aber übt mich aus…
Wie mich die Fäden schnüren!
Ich kann mich kaum noch rühren.
Im wahren Sachverhalt…
Wie still der Baum das Blatt verstößt.
Kein Wind muß wehen.
Wie leicht das Blatt vom Baum sich löst.
Um zu vergehen…
Denn das Vergangene:
das hält uns fest…
Daß ich nicht zerschelle,
türm ich Schicht auf Schicht:
stelle. Und verstelle
mir die Sicht…
Weil uns der Boden doch beugt
ins Bodenlose…
Erst die Ent-Täuschung lehrt
uns wirklich tauschen…
Lobend aus blutigen Kehlen
das ewige Spiel …
Erst in der Dunkelheit:
lichtsatt und todgeweiht:
leuchten die Dinge…
Gestundete Gestalt –
vor dunklem Hinterhalt
schon aufgesogen.

Immer sind Streubels Gedichte auch poetische Protokolle seines Seelenzustands, in denen die im Alltagsleben überspielte Angst mitschwingen konnte. „Radikalität wäre gesünder gewesen“, wird er nach dem Ende der DDR sagen. Und er meint eine Radikalität, die herausgeschleudert wird aus dem Innern. So war sein Leben innerhalb der Diktatur ein Sichabmühen, Sichschinden, Steckenbleiben, Sichentwinden. Seine Gedichte spiegeln eine fast krampfhafte Verfestigung des Autonomieanspruchs seines Ichs. Ein Dichter auf der Suche nach dem Sinn in der Sinnlosigkeit, der seinen Herzinfarkt als normalen Schmerz einreihte in seine Schmerzensgeschichte und nicht zum Arzt ging.

Du guter Haß – stolz trug ich deine Bürde
Du schöner Abscheu: ehrlicher Bezug –
du gabst mir Kraft. Gabst meinem Wesen Würde:
die starke Spannung, die mich hielt und trug.

Die Zeit verging. Mein Stolz ist nicht gebrochen.
Nur stetig unterspült und überweht,
So ließ ich mich unmerklich unterjochen?
Wie still Zerstörung doch vonstatten geht.

Ich möchte schrein. Und kann doch nur noch raunen.
Mein guter Haß – wo bist du hin? Wohin?
Und sehe, ach, mit jämmerlichem Staunen:
wie ähnlich ich nun dem Verhaßten bin.

In seinem Gespräch mit den Dresdner Heften erinnert Streubel an den Mauerbau von 1961 und die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ von 1968:

Beide Male war man hilflos. Den Menschen ist gnadenlos demonstriert worden, wo für sie die Grenzen liegen. Und der Westen sah sich in beiden Fällen außerstande, etwas zu tun. ’68 fand ich geradezu empörend, daß sich die linken Intellektuellen im Westen in ihren revolutionären Sandkastenspielen gefielen – so empfand ich es –, statt sich für die wirklichen Veränderungen in der ČSSR zu verwenden. Das war ein Beleg dafür, wie strikt die Welt in zwei Hälften geteilt war. Diese herbe Einsicht kam vielen. Was also blieb? Vom Westen war nichts zu erwarten, von innen heraus gab es keine Chance, also war man gezwungen, die Bedingungen anzunehmen. Die Frage war nur, wie. Für mich hieß es, sie annehmen, ohne sich damit abzufinden. Aber man ist nicht immer auf der Höhe seines Anspruchs. Das ist eben eine Kraftfrage. Und damit leistet man natürlich der Anpassung Vorschub.

Streubel erinnert sich an den zwölf Jahre jüngeren ungestümen Dichter Siegmar Faust, heute sächsischer Landesbeauftragter der Gauck-Behörde. „Siegmar Faust wollte provozieren“, sagte Streubel in dem Interview.

Mir hat er damals gesagt, er wolle in den Knast, er wolle diese Erfahrung machen… Ich hatte keine Lust, mich irgendwie hineinziehen zu lassen.

Und so stimmte auch Streubel für den Ausschluß Fausts aus der Dresdner Arbeitsgemeinschaft für Junge Autoren.
Da war sie wieder, jene Angst von 1945 und 1956, und als Folge ein Verhalten, das ihn „dem Verhaßten ähnlich“ machte. So jedenfalls empfand er es. Siegmar Faust wurde 1971 in Dresden wegen staatsfeindlicher Hetze verhaftet und kam nach elf Monaten wieder frei. Er hat Streubel als den einzigen Dresdner Schriftsteller in Erinnerung, der sich betroffen fühlte:

Streubel half meiner Familie, schickte Kindersachen.

In Dresden kam Siegmar Faust noch glimpflich davon. In Leipzig wurde er 1974 zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Das Wort: das ungesagte:
fault bitter mir im Mund.
Der Wurf: der nicht gewagte:
zieht grau mich in den Grund.

Es beruhigte Streubel nicht, wenn er, der in der nationalsozialistischen Diktatur aufwuchs und die sozialistische durchlebte, über die Menschen seines Alters sagte:

Diese Generation konnte überhaupt nicht Luft holen. Sie kam nie zur Ruhe.

Es hieß, ein schlimmes Untier sei entflohn.
Man müsse ihm vereint das Schandmaul stopfen
und also rasch auf alle Büsche klopfen.
Und jedem Klopfer winke auch ein Lohn

So kam man dem Gesuchten auf den Schlich.
Und immer mutiger erschien die Menge –
trieb das gehetzte Wesen in die Enge.
Da: endlich: trat es vor. Es stellte sich.

Und sprach mit Menschenstimme. Bat um Gnade.
Als ihresgleich. Daß den Leuten graute.
Und manche ließen ab schon von der Beute.

Die Schläger aber schlugen. Nun gerade!
Und hörten: wie erhofft: viehische Laute.
Na also, meinten die erlösten Leute.

Manfred Streubel sah die Situation des Einzelgängers in der durch zwei Diktaturen geprägten Gesellschaft klar. Hatte er in den siebziger Jahren als Lyriker immer wieder versucht, sich mit clownesker Attitüde Freiräume zu schaffen, so nahm er diese Haltung völlig zurück. Er bündelte alle seine Kräfte, um nach dem Fazit von 1983 den verborgenen Text vieler Menschen in der DDR zur Sprache zu bringen. Ihre Resignation in der Aussichtslosigkeit zum Beispiel, Mißtrauen:

Das kriecht heran – sich heimlich aufzuhocken.
Das wächst und wuchert – weich wie Schnee und Moos.
Das läßt die munteren Gespräche stocken
und macht den Blick so seltsam ausdruckslos.

Das schmiegt sich immer enger um die Kehlen.
Das saugt sich tiefer in den Herzen fest.
Sein Farbstoff Grau läßt uns den Freund verfehlen.
Und matt ersticken Frage und Protest.

Ach, alles ist von Lethargie vergiftet.
dem neuen Tag gilt keine Hoffnung mehr.
Ein schlimmer Friede wird im Land gestiftet.
Es läuft. Und läuft. Jedoch der Lauf ist leer.

„Jeremiaden“ nannte Streubel jene Gedichte, die heute als Abgesang auf die DDR gelten können – und doch viel mehr sind. Sie haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren nach der Wende von 1989. Eine Wende, in der er Menschenverachtung so sicher aufspürte wie in der DDR. Eine Wende, die Streubel sehr schnell als „Windung“ sehen sollte:

Als weitere Stufe zur Perfektionierung der Massengesellschaft, der industriellen. Auf dem Wege der Termitisierung.

Seit 1982 lebte der Dichter mit Beate Richter, Mutter einer Tochter und geschieden, zusammen. Eine Frau von der Vitalität der Irmhild Illgen, einer Lebenskraft, die allen Zumutungen des Systems trotzte. Beate Richter, als Präparatorin am Museum für Tierkunde angestellt, war genau jene Frau, die Streubels Anlehnungs- und Harmoniebedürfnis entsprach. Beate Richter hatte ein sicheres Gespür für Nähe und Distanz. Ihr Haus stand dem Dichter offen, aber sie zog nicht zu ihm.
Beate Richter sind alle nachgelassenen Gedichte zu verdanken, die Manfred Streubel auf der Höhe seines Könnens zeigen. Ohne ihre Fähigkeit, die Bitterkeiten, Bedrückungen, Enttäuschungen immer wieder aufzulösen oder zurückzudrängen, wären die Gedichte nicht entstanden. Mit Beate Richter bekam Streubel wieder einen Sinn an seine Seite. Von den „Jeremiaden“, in denen die Ausblicke immer zu Todeszeichen werden, ging er zurück in die Kindheit. Den Fälschern der Zukunft, unter denen zu leben er gezwungen war, setzte er unglaublich gelöst die Verheißung des Erwachens in seiner Lyrik entgegen:

Nimm einem Vogel die Ferne.
Nimm ihm das Material.
Daß er das Wahrsein verlerne.
Strafe ihn so, radikal –
heißt er sich dennoch willkommen.
Feiert er dennoch sein Fest.
Ist ihm auch alles genommen –
baut er zur Bauzeit ein Nest…

Die vierzehn Jahre jüngere Beate Rieß, seit 1996 in zweiter Ehe verheiratet, hat als Wesentliches der Beziehung zu Manfred Streubel in Erinnerung:

Unser Humor hat sich absolut gut vertragen. Da konnte sich jeder am anderen steigern. Da gab es immer wieder irrsinnig schöne Situationen. Wir haben aneinander soviel Spaß gehabt, und wir haben ihn genossen. Es war eine Atmosphäre, in der er erzählen konnte, in der er so frei war, um sich preiszugeben, seine Seele herauszunehmen mit all dem, was sich in ihr gestaut hatte.

Was Beate Richter dem Dichter aus der Gartenstraße 9 in Gohlis bedeutete, beschrieb er im Gedicht „Mutter Natur“, das er ihr widmete. Es sind Verse aus dem Buch Mein Lausitzer Guckkasten des naiven Malers Max Langer, die Streubel zu dessen Bildern gestellt hat:

Das ist die Sphinx von Niederoderwitz.
Die Mona Lisa ohne Schuh und Strümpfe.
Die hohe Hüterin von Kauz und Kitz.
In allen Saaten hat sie ihren Sitz.
Die Nachbarnymphe.

Die gute Göttin der Gelassenheit.
Das Rätsel, dessen Lösung wir gern wüßten.
Der Ungeist geifert. Und der Esel schreit.
Sie aber ruht in lauter Lebenszeit.
Mit prallen Brüsten.

Und hat so manche Sehnsucht schon gestillt.
Ach, allen deckt sie ihre grünen Tische.
Die große Mutter. Deren Gabe gilt.
Die ihre Kinder tröstet oder schilt.
In Frucht und Frische.

In ihren Schoß. Da sind wir endlich quitt.
Indes sie nackt die Nachgebornen segnet.
Doch manchmal macht sie jede Mode mit.
Und ist das Weib, das uns auf Schritt und Tritt begegnet.

In der Weisheit der bodenständigen Maler Max Langer aus dem oberlausischen Niederoderwitz, Wilhelm Rudolph aus Dresden und Kurt Querner aus Börnchen fühlte sich Manfred Streubel aufgehoben, ja zu Hause. Ihnen gegenüber, die er besuchte, war er ohne Mißtrauen. Ihre Bilder hingen in seiner Wohnung. Von allen dreien am meisten mochte er Querner, den Schuhmachersohn, mit seinem „Selbstbildnis mit Brennessel“, das 1933 dessen Ablehnung der Diktatur darstellte. Manfred Streubel, der Brennesselmann der zweiten deutschen Diktatur dieses Jahrhunderts.
Er kannte seine Gegend. Er kannte die Interna. Sascha Anderson, der vielen in Dresden als ein Gegner des Regimes erschien, hielt er immer für einen Spitzel, wie sich Beate Rieß erinnert. Und hatte er auch nicht immer ein Wissen darüber, wer wie auf welche Weise den anderen behindert, so war es sein Sensorium, das ihn warnte. Er wußte um Freunde, die keine waren. Er wußte, daß diejenigen, die ihn als „Zersetzer“ führten, bis zuletzt eine subtile Zersetzungsarbeit gegen ihn geführt hatten.
Ein Jüngerer wie Thomas Rosenlöcher konnte dies nicht verstehen. „Ich habe nie gewußt, warum Manfred Streubel so überängstlich war“, sagt er und erinnert sich, wie er, der 1987 aus der SED austrat, ein Jahr zuvor bei Streubel Rat suchte:

Ich hab’ ein Problem. Ich will aus der Partei raus. Was soll ich machen?

Rosenlöcher bekam keinen Rat:

Streubel fühlte sich provoziert, glaubte wohl, ich sei geschickt worden.

Der Schriftsteller Jochen Laabs schreibt in dem Band Gedenkminute über Streubel:

Sich auf ihn einzulassen hieß, von seiner Sensibilität zu gewinnen, seinem Kunstverstand, seiner Klugheit, seinem Gerechtigkeitsanspruch, seiner geradezu rührenden Herzlichkeit und der Bereitschaft zu beinahe kindlicher Vertrauensseligkeit, hieß jedoch andererseits, seinen Empfindsamkeiten ausgeliefert zu sein, die um ihn ausgelegt waren wie in einem Minenfeld, dicht bei dicht, und von denen, bei einer auch nur hinlänglich langen Begegnung, keine zu treffen, völlig ausgeschlossen war.

Manfred Streubel konnte hinreißend erzählen, mit hintersinnigem Humor, wie sich Beate Rieß erinnert. Etwa die Geschichte über eine Lesung des gebürtigen Dresdners Erich Kästner in den sechziger Jahren:

In aller Verschwiegenheit wurden wir Autoren eingeladen. Dann gab es einen freien Kartenverkauf, und die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Dresden. Die Karten waren im Nu weg, man hätte Lautsprecher anbringen müssen für die Massen im Zwingerhof. Das war der Bezirksleitung zuviel. Es kam ja der Klassenfeind aus München. Alle bereits verkauften Karten wurden anulliert, das Ganze in den Gobelinsaal verlegt und neue Karten nur gezielt an geladenen Gäste vergeben. Kästner las dann vor einem halbvollen Saal.

Zur selben Zeit las Anna Seghers unbehindert in Frankfurt am Main. Heinz Klemm, der Dresdner Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, ging am nächsten Tag mit Kästner ins Astoria zum Mittagessen. Kästner bestellte einen Whisky, Klemm einen Wodka. Der Kellner brachte zwei Wodka. Kästner sagte:

Ich wollte doch Whisky.

Klemm sagte:

Nehmen sie Wodka. Schmeckt fast genauso.

Darauf Kästner:

Überzeugen, nicht überreden.

Manfred Streubel gehörte in Dresden zu den ersten, die sich mit rigoroser Kritik an dem SED-System in der CDU-Zeitung Union hervorwagten. Die Gruppe der 20, die den Umschwung in Dresden entscheidend vorantrieb und von denen die meisten sich der CDU zuwandten, suchte den kulturpolitischen Rat bei Streubel, wie Steffen Heitmann, heute sächsischer Justizminister, sich erinnert. Rudolf Scholz, damals SED-Parteisekretär des Schriftstellerverbandes, erinnert sich so:

Ein nahezu ungläubiges Erstaunen erfüllte Streubel, als wir zusammen auf dem Postplatz standen, von wo sich die große Demonstration Dresdner Künstler am 18. November in Bewegung setzte.

Die Euphorie Streubels wich sehr schnell der Enttäuschung. Die cleveren Mietbaren des Systems, die niemals enttäuscht werden können, sahen nach einer kurzen Schrecksekunde, in der sie glaubten, es könne ihnen so ergehen wie ihren Opfern nach 1945, daß ein demokratisches System die Mietbaren schätzt, solange sie ihm nützen. Streubel fühlte sich mit vielen wieder als Ver-Wendeter. Er kritisierte, nun nur noch als Prosaist, die „Blitzkriegsgewinnler“ und „Kraft-durch-Freude-Strategen“. Zugleich reagierte er schroff, wenn ihm ob solcher Haltung jemand mit DDR-Nostalgie auf der Zunge schmeicheln wollte.
Da schrieb ihm eine Bekannte, Juristin von Beruf:

Aber ich habe auch vieles nicht gewußt und frage mich jetzt, wie ich es hätte wissen können und müssen…

Und Streubel antwortete:

Genauso haben die meisten Deutschen nach dem Zusammenbruch 1945 geredet. Das ist doch der Slogan der braven Mitmacher. Der nach Mitscherlich zur Trauer Unfähigen oder Unwilligen. Wo haben Sie denn gelebt die ganze Zeit? Nur in Ihrer Wissenschaft? Und da wollen Sie nichts vom zunächst schleichenden, dann galoppierenden Ruin (geistig, moralisch, materiell) dieser DDR gewußt oder zumindest gespürt haben. Wußten Sie nichts von ungerechten Verurteilungen und Verfolgungen (Havemann)? Sahen Sie nicht die Verwüstung, Auspowerung des Landes? Die mit jedem Jahr stumpfer und böser werdenden Gesichter. Haben Sie – bei Ihrem Beruf! – keine Gänsehaut bekommen, wenn Sie diese Sprache, diese Phrasen und Lügen hörten? Bei dieser Barbarei, die kaum geringer war als die in Klemperers LTI dokumentierte.

In der Zeitschrift neue deutsche literatur erinnerte Streubel 1991 an die gescheiterte Rosa Luxemburg und den gescheiterten Claus Graf Schenk von Stauffenberg und fragte:

War also das Scheitern (das, im Vergleich, ziemlich glimpfliche!) unserer wackeren Bürgerbewegung, des dritten deutschen Heilbringerakts des Jahrhunderts, vielleicht ebenso nötig und somit ,richtig‘? Nicht nur, weil ein Pendel, das sich in Bewegung, in Schwingung befindet, eben nicht irgendwie ,maßvoll‘ in der Mitte Halt machen kann, sondern auch, weil eine siegreiche Reform, ein gelungener Einsatz ,Für unser Land‘ möglicherweise nur auf eine Ummodlung, Renovierung (Neutapezierung), also Erhaltung des verfluchten Kaspar-Hauser-Käfigs hinausgelaufen wäre und nicht auf dessen wirkliche Demontage? Weil uns in diesem Fall, bei Triumph, wie auch immer geartet, die fällige Katharsis noch gründlicher erspart worden wäre als nun? Weil (und hier schließt sich der Kreis) das Prinzip ,Hoffnung‘ eben nur aus dem Scheitern, aus dem echten Zusammenbruch, gültigen Untergang, neu hervorgehen kann? Aus der Asche? Der tabula rasa? Wäre dem so, würde dem weiter so sein, dann hätten Erschütterung, Verzweiflung und (vorübergehendes) Die-Sprache-Verschlagen wohl doch einen Sinn. Einen tieferen, heimlichen. Dann wüßte ich endlich, was es bedeuten soll: daß ich so traurig bin…

Manfred Streubel ging noch ein Mal den Ursachen seines Scheiterns gegenüber seinem Sohn nach:

Wie konnte ich glauben, der Verantwortung für neues, junges Leben gerecht werden zu können in einer Umwelt, der ich gleichzeitig meine Mitverantwortung, ja bloße Beteiligung entzog?

Er klagte sich an, den Sohn benutzt zu haben als Teil des eigenen Rettungsversuchs. Er fühlte sich gegenüber dem eigenen Vater in der Schuld, weil er nicht vorankam mit dessen Rehabilitierung. Er mußte sich damit abfinden, daß der Mitteldeutsche Verlag für ihn, den Hausautor, zu dessen 60. Geburtstag die Herausgabe eines Auswahlbandes ablehnte. Auch westdeutsche Verlage zeigen kein Interesse und geben den Rat:

Schreiben Sie weiter, der Weg stimmt…

Wie sich die Farben grau in grau vermischen
und wie die Bilder sich in eins verwischen!
Als letztes bleibt: ins eigne Herz zu sehen.

„Ich denke immer an Manfred Streubel, weil ich weiß, daß er konsequenter war als ich“, sagt Wulf Kirsten. „Er war literarisch überhaupt noch nicht am Ende.“ Zum 65. Geburtstag Streubels 1997 wollte Kirsten die „Jeremiaden“ zum Druck bei Elmar Faber unterbringen, bei ebendem Verleger, der einst an der Spitze des Aufbau-Verlages jenes System mitrepräsentierte, das Streubel gehaßt hatte. Streubel sollte in Fabers Reihe Die Sisyphosse erscheinen. Beate Rieß lehnte ab. Und Streubel kann Kirsten nur noch im Gedicht antworten:

Verdammt! Ich hätte dir noch was zu sagen.
Doch eine handvoll Dreck stopft mir den Mund.

Es bedurfte bereits 1992 nur eines Anstoßes, um das Leben des 59jährigen Manfred Streubel zu beenden. „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Tages verhaftet“, so heißt es in Franz Kafkas Prozeß. Jemand mußte gewußt haben, wie es um Manfred Streubel stand. „Dienst für morgen. Das ist vorbei“, schreibt er in einer „Selbstanzeige“. „Vermutlich gibt es gar kein Morgen mehr… Totale Entmoralisierung.“
Der Verrat, dem Manfred Streubel nachspürte, war greifbar, aber nicht zu fassen. Ein Mann kam. Ein Mann ging. Ein Mann hing in einem Strick. So oder so – die „Dahlener Schuttgrube“ seiner Heimat von 1945 hatte ihn nie losgelassen:

Da war ich oft. Stets war da was zu erben.
Geheimnisvolles Reich aus Schrott und Plüsch!
Da suchte ich als Knabe bunte Scherben.
Und hockte wie ein Hase im Gebüsch.

So sah ich einst – drei Männer mit dem Spaten.
Und hörte: „Tief genug!“ Und lief nach Haus.
Die Eltern glaubten nicht, was die da taten.
Und redeten mir meinen ,Irrtum‘ aus.

Erst heute: von Erfahrung ganz verschlissen:
weiß ich genau: Da unten ist ein Grab –
im längst versunknen Reich der Knabenlust.

Nun hab ich diesen Mord auf dem Gewissen.
Obwohl ich den doch nicht begangen hab.
Und schwören kann: Ich habe nichts gewußt.

Jürgen Serke, aus Jürgen Serke: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR, Piper Verlag, 1998

Letzte Begegnung – Manfred Streubel

Streubelscher Tag, dachte ich. Hochsommer im Mai. Ich war zwischen zwei Gehöften in den schmalen Weg eingebogen, und nach ein paar Dutzend Schritten hatte ich zwischen den Zäunen auf beiden Seiten nicht nur Serkowitz, sondern von einem Schritt zum andern die ganze Stadt mit ihrer Glocke aus Unruhe, Hast und Lärm hinter mir gelassen. Vor mir nur noch die menschenleeren Uferwiesen, in die hinein sich der leicht abfallende Weg zum Pfad verengt und in deren hüfthoher, gräserner Üppigkeit der Fluss verschwunden war, ertrunken. Ein Stück entfernt – ich wusste, das bedeutete am anderen Ufer – tauchte wieder Landschaft auf, Gebüsch und Bäume in verschiedenen, durch das helle Licht gebleichten Grünschattierungen, ein Streifen Felder, der die Häuser zurück- und im Hintergrund die Hänge hinaufdrängte – Gohlis.
Dort irgendwo wohnt er. So kann man leben. Aber unvermittelt war ich drauf gefasst, ihn hier, in der grünen Menschenleere am Fluss, zu treffen, tief im Versteck, wo er die Welt, das große Tier belauscht. Und wo er dahintreibt am dunklen Grund der Gräser. Wusste ich doch, dass seine Gedichte auf langen Spaziergängen entstanden, die er an der Elbe entlang unternahm. Aber ich wusste es aus einer Zeit, die um – unglaubliche! – Jahrzehnte zurückliegen sollte. Ich wusste nicht, was noch galt. Er tauchte nicht in den Wiesen auf. Wir standen uns erst in seiner Haustür gegenüber. Ich noch einen Schritt davor, auf dem mit Autos vollgestellten Hof, die die Vorstadtidylle abrupt in Realität ernüchterten, er am Fuß der Stiege, die in dem Anbau nach oben in seine Wohnung führte.
Wir begrüßten uns erfreut und mit einer Selbstverständlichkeit, als gelte es mit dem Handschlag eine Woche und nicht mehr als ein Jahrzehnt zu überbrücken. Und ebenso wie früher, als wir nur drei Minuten voneinander entfernt wohnten, ich seine damalige Wohnung genau kannte, und der Anlass, der zu erledigen war, nicht mehr als die Begegnung vor der Tür erforderte, bat er mich auch nun nicht hinein. Vielmehr verblüffte er mich mit der Mitteilung, zu dem Interview, für das wir dazu auch noch mit einem Redakteur verabredet waren, nicht bereit zu sein. Aber diesmal war ich über zweihundert Kilometer angereist. Von einem Moment zum andern war ich das aufkeimende schlechte Gewissen wegen meiner jahrelangen Zurückhaltung wieder los, das die geradezu herzliche Begrüßung ausgelöst hatte. Sofort war ich wieder in die Anspannung versetzt, die ich von fast jedem Zusammensein mit ihm kannte, egal ob es sich um eine Begegnung nur zwischen uns beiden, eine Gesprächsrunde oder eine Silvesterfeier handelte. Mit ihm zu reden hieß, von seinem Kunstverstand, seinen Kenntnissen, seinem Anspruch auf Gerechtigkeit zu profitieren, von seiner mitunter fast kindlichen Vertrauensseligkeit gerührt zu sein, hieß aber gleichzeitig, seinen Empfindsamkeiten, die dicht bei dicht wie ein Minenfeld um ihn ausgelegt waren, ausgeliefert zu sein, und von denen, bei noch so ungezwungener Atmosphäre, auf keine zu geraten, völlig ausgeschlossen war. Die Wege dieser Erde führen mitten / durch mich hindurch – und lassen mich zurück. / Ich bin ein Schnittpunkt. Also ganz zerschnitten.
Er machte das Interview doch. Wie weit es am Auf-ihn-Einreden lag, lässt sich nicht sagen. Er machte nicht nur ein Interview, er lebte auf. Unsere Fragen waren wie Ventilöffner eines Kessels mit Überdruck. Er ging aus sich heraus. Mit souveräner Heiterkeit, schien es, ließ er seiner Enttäuschung freien Lauf, über das, was sich allerorts zutrug – direkt draußen greifbar in den Autos unter seinem Fenster, die kaum einen Zugang zu seiner Behausung ließen – wie die Grobschlächtigkeit der bisherigen Verhältnisse von der Rücksichtslosigkeit der nun aktuellen Verhältnisse überrollt wurde. Schließlich ließ er es seiner Verbitterung an Deutlichkeit nicht fehlen. Er war wieder einmal in das schwarze Loch hinter den geplatzten Illusionen gestürzt. Diesmal war es bodenlos. So wie er auf dem Sofa saß, mit auf der Rückenlehne breit ausgestreckten Armen, unter Querner’schen Aquarellen, erweckte er den Eindruck, als behaupte er zumindest diesen Platz an der Peripherie, vielleicht meinte er nicht nur die der Stadt, wo Wünsche und Träume dennoch ihren Platz bewahrten. Tatsächlich aber fiel er bereits, wie sich erweisen sollte, und zwar im Sturzflug. Ich erkannte es nicht.
Er war für mich über die lange Zeit, in der ich ihn nicht gesehen hatte, geblieben, wie er immer gewesen war, auf der unentwegten Suche nach einer spielerischen Welt, einer verspielten. Einflugschneise für Spaßvögel hatte er über die Tür seines damals vielleicht zehn-, zwölfjährigen Sohnes gepinnt. Er hat sie nicht nur nicht gefunden, er ist auf der Suche, bei der ihm auf Dauer niemand bereit war zu folgen, alleingelassen an sich verzweifelt. Ach, immer wieder ist ganz ohne Sinn, / was ich erfahre. / Und immer wieder werd ich, was ich bin: / der Unbrauchbare. Hätte einen an diesem Nachmittag in seiner schattigen, puppenstubenartigen Wohnung eine Ahnung anrühren können – müssen –, als ihn seine Worte bis ans Äußerste, sich das Leben nehmen zu können, davontrugen? Aber wem gehen nicht schon mal hingesagte Wörter zu weit! Und er sagte es eben so hin, ließ uns die Chance, es zu überhören. Die nutzten wir: Der letzte leise Ausweg führt nach innen. / In eine Sphäre, die es gar nicht gibt…
Was in mir selbstgefällig nachhallte, war, dass er sich in unserer Dreierrunde wohlgefühlt habe, endlich wieder einmal. Ich glaubte, mit dem läppischen Angebot von zwei, drei Anlässen, die ihn nach Berlin locken sollten, bei denen wir uns wiedersehen könnten, wäre es fürs Erste getan. Allein, als es um eine Übernachtungsmöglichkeit für ihn ging, war die Grenze meiner Bereitschaft erreicht. Ich sagte ausweichend, das finde sich schon. Wie zutreffend.
Eine der ersten heftigen Auseinandersetzungen hatte ich mit ihm Mitte der Sechzigerjahre über sein Gedicht „Tod“. Ich warf ihm vor, das Gedicht sei großmäulig, ästhetisierte Pose, unwahrhaftig: Tod. Mein großer Widersacher… / Ich komme dir gründlich zuvor / … verwandle in Wirkung… meine vergänglich Masse. / Vermache mich allem Lebendigen: liebe. Und lasse / dir nur die Knochen, du Hund. – Er hat es wahr gemacht. Sechs Wochen nach dem Interview, das sich zu einem vertraulichen Gespräch entwickelte und das in Dresdner Hefte 31, 1992 unter dem Titel „Die knisternde Idylle“, wie er die Stadt charakterisierte, erschien, hat er sich am 10. Juli 1992 das Leben genommen.
Zehn Jahre danach blieb mir aus Anlass der Veröffentlichung seines Gedichts „Untergang im Spiegel“ lediglich zu bekennen, dass mich dieses Gedicht in besonderer Weise berührt, weil es der Zeit geschuldet ist, in der er und ich auf vielfältige Weise verbunden waren. Der gleichen Altersgruppe zugehörig, in den gleichen gesellschaftlichen Bedrängnissen, in ähnlichen privaten Problemen verhaftet und in Dresden nachbarschaftlich in Leuben verortet, fühlten wir uns, beide mit dem Anspruch, sich einen Platz als Lyriker zu verschaffen, trotz unserer mentalen Unterschiede geradezu aufeinander angewiesen.
Es ist unmöglich, Streubels Gedichte heute nicht im Wissen um sein Ende zu lesen. „Untergang im Spiegel“ nun – als probiere er in den, wie es gemeinhin und fahrlässig heißt, besten Jahren, bereits den Abschied. Er ist Anfang dreißig, in Kleists Sterbealter. Den endgültigen Schritt behält er sich jedoch weitere dreißig Jahre vor. Aber als hätten diese schon ihr Maß erreicht: Er sieht sich verwittert, brüchig, im grauen Kahn der Jahre, in der Dämmerung. Gezeichnet von Überforderung, dem unaufhebbaren Gegensatz zwischen Anspruch und Lebenswirklichkeit.
Sein Rettungsversuch: dem Unvereinbaren – Aas und Orchideen – eine Form zu geben, es zu bannen in Sprache und Rhythmus, in zwei Dutzend Zeilen Klang, um lesend sich für eine Minute in Einklang mit der Welt zu bringen, unbeschwert in die blaue Flut von Flieder zu sinken, erfüllter Kindertraum. Das Aufbruchpathos der Zeit, dem sich hinzugeben er anfänglich bereit war, das aber längst ramponiert war, rettete er in die Beschwörung seiner Wünsche und deren Vergeblichkeit. Was ihm blieb, war, zwischen Symbolen von Furchtbarkeit wie Guernica und Eatherly und den begrifflichen Unverbindlichkeiten Geraubtes Glück und Unerhörte Fracht hin- und hergerissen zu sein.
Nachdem sich die Gegebenheiten zu Jahrzehnten gehäuft hatten, unvermittelt und unerwartet dann doch noch Raum für Hoffnung aufzubrechen schien, um sich in der Konsequenz jedoch als noch grandiosere Täuschung zu erweisen, bohrte ihn die früh prognostizierte Enttäuschung in den Grund. Der gespiegelte Untergang forderte seine reale Entsprechung ein.

Joochen Laabs, aus Wulf Kirsten, Rudolf Scholz und Michael Wüstefeld (Hrsg.): Gedenkminute für Manfred Streubel (1932–1992), Buchlabor, 1993

 

 

GEDICHTE
Für Manfred Streubel

Dichtung: dauerndes Dulden
Im Drängen und Dröhnen der Zeit;
Ablaß verschwiegener Schulden,
Mund der Verlegenheit;

Wirbel verwundbarer Worte,
Wurmstich der Wirklichkeit;
Ekstatischer Abfall, Eskorte
Der Mühsal, lautendes Leid;

Widerstand, wachsender Wille,
Gleichnis gereifteren Glücks;
Verschworene Schwester der Stille,
Zügel des Augenblicks;

Flüchtig, trotz festeren Fügens
Metamorphose, Moment
Maßvollen Ungenügens,
Vollendbar nie: Menschheitsfragment.

Uwe Nösner

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDb + Kalliope

Zum 10. Todestag des Autor

Uta Dittmann: „Und kann’s doch nicht lassen… mir meinen Reim zu machen.“
Ostragehege, Heft 26, 2002

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