Melchior Vischer: Muß wieder ein Morgen sein

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Melchior Vischer: Muß wieder ein Morgen sein

Vischer-Muß wieder ein Morgen sein

GOTTES IRDISCHES ROT

Nie vermessen,
Längst vergessen –
Denn Gott sein,
Chemisch rein,
Heißt stumpf sein
Wie Gefühle ungesotten
In frischalten Muttergrotten.

Keine Falter, keine Birken, keine Koggen,
Nichts flattert, nichts birkt, nichts segelt.
Nur Platons und Nietzsches tiefschnatternde
Gilden
Verspeicheln so urmüden Speichel immer und
immer wieder:
Und es glimmt durch der Atomstürme
verebbende Nebel
Etwas zeraschte Weisheit
mager, willig und arm.

 

 

 

Melchior Vischers Seil zur Luftwurzel

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, fragte ihn der in München geborene Peter de Mendelssohn, dem Zugriff der Nazis 1933 über Paris nach England entkommen, ob er bereit sei, das Feuilleton der von der britischen Besatzungsmacht gegründeten Zeitung Die Welt aufzubauen. Als Presseoffizier der amerikanischen Informationskontroll-Abteilung Berlin hatte Mendelssohn, inzwischen britischer Staatsbürger, gleich zu Melchior Vischer Kontakt gesucht. Doch Melchior Vischer, der den Krieg in Berlin überlebt hatte, sagte Nein. Er glaubte, als leitender Redakteur nicht mehr ausreichend zu seiner Arbeit als Schriftsteller zu kommen.
Dabei gingen die Literatur-Insider längst davon aus, daß sich Vischer bereits Ende der zwanziger Jahre von der Dichtung verabschiedet hatte, um sich mit Unterhaltungsromanen auf leichtere Art als bis dahin sein Geld zu verdienen. Zum Teil in Zusammenarbeit mit seiner Frau Eva waren Bücher mit Titeln wie Kind einer Kameradschaftsehe, Elisabeth geht zum Tonfilm, Liebeswunder, Eine Stadt sucht ein Kind erschienen. Auch zwei Kinderbücher mit Indianer-Thematik hatte er 1940 veröffentlicht. Unter seinem bürgerlichen Namen Emil Fischer, geboren am 7. Januar 1895 im böhmischen Teplitz-Schönau.
Nur wenige wußten und wissen es bis heute, mit welch nie nachlassender Leidenschaft Melchior Viecher seit seinen schriftstellerischen Anfängen dem Schicksal des 1415 auf dem Konzil von Konstanz als Ketzer verbrannten tschechischen Reformators Jan Hus nachging. Jan Hus, der sterben mußte, weil er sein Gewissen über jegliche andere menschliche Autorität stellte, blieb für Melchior Vischer ein Leben lang zentrale Figur seines Denkens, auch ein Spiegel für seinen Katholizismus der Kindheit in Böhmen. Ebenso wenige wußten und wissen es bis heute, daß Vischer mit dem Geld aus den Honoraren für seine Unterhaltungsromane jene langwierigen und kostenaufwendigen Recherchen finanzierte, die ihn an seine Hus-Darstellung heranbringen sollten.
Als schließlich 1940 die 814 Seiten umfassende Hus-Vita als zweibändige Ausgabe im Frankfurter Societäts-Verlag erschien, war mitten im Dritten Reich die historische Wahrheit Mitteleuropas wiederhergestellt. Im Urteil der Nazipresse hieß das, Melchior Vischer habe nach der „selbstverständlichen Zertrümmerung“ des tschechischen Staates den „verirrten tschechischen Geschichtsmythos“ gerechtfertigt:

Der Laienleser im Führerstaat hat es mit dem klassischen Fall jener Objektivität zu tun, deren Eltern der Liberalismus und der Intellektualismus sind.

Die Hus-Ausgabe, die ein Register von 231 Seiten mit Recherchenbelegen und Anmerkungen enthielt, wurde verboten und aus dem Verkehr gezogen.
Damit war die Situation für den Schriftsteller, der seit 1931 die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, existenzbedrohend geworden. Melchior Vischer gehörte zu dem kleinen Kreis von Berlinern, der Juden half, sich zu verstecken, um sie vor der Deportation in den Tod zu bewahren. Er selbst war seit Ende des Ersten Weltkrieges mit einer tschechischen Jüdin verheiratet. Gegen alle Pressionen der Nazis, die auf Scheidung drängten, verweigerte er sich jener Forderung. Nach dem Novemberpogrom 1938 stufte ihn die NS-Presse als „Literatur-Juden“ ein. Seine Frau Eva starb ein Jahr vor Kriegsende im Alter von 48 Jahren an Krebs.
Als der Presseoffizier Peter de Mendelssohn dem Schriftsteller 1945 sein Angebot machte, war Melchior Vischer 50 Jahre alt und hatte eine politische Gratwanderung hinter sich. Was ihn beherrschte, war der Gedanke an eine Wiederveröffentlichung seiner Hus-Biographie, deren tschechische Quellen seine Frau Eva bereits übersetzt hatte. Durch ihre ganze Ehe war die Arbeit an dieser Biographie gegangen, dieses Hus-Wort:

Suche die Wahrheit, höre die Wahrheit, lerne die Wahrheit, sage die Wahrheit, halte die Wahrheit, verteidige die Wahrheit bis zum Tode!

In Melchior Vischer lebte die emotionale Kultur seines Geburtslandes. Er kam aus einer Kultur der Verlierer, auch wenn die Deutschen in Böhmen bis 1945 nie alles verloren hatten wie so häufig die Tschechen. Die Tötung von Jan Hus – so erschien es dem Schriftsteller – hat als Unheil fortgewirkt in unsere Tage hinein. Der Durchbruch des Ich-Bewußtseins, des modernen Denkens, erfolgte, was die religiöse Seite betraf, in Prag. Daß das Gutgemeinte der Infiltration des Bösen radikaleren Vorschub leistet als jene andere Haltung, zeigt die grausame böhmische Geschichte.
Von Hus führte der Weg zu den Hussitenheeren, die, von Kaiser und Papst angegriffen, an jener Gewalt Gefallen fanden, die ihnen zur Verteidigung aufgezwungen war. Auf dem religiösen Weg zum Absoluten siegten immer diejenigen, die totalitär dachten und handelten. Die tschechische Kultur versank nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 im Dorf, von wo aus sie ihr Land erst im 19. Jahrhundert wieder eroberte, um im 20. Jahrhundert wieder im „Dritten Reich“ unterzugehen.
Böhmen als religiöse Kampfstätte: Das Barockreich, das Österreich nach dem Dreißigjährigen Krieg im rekatholisierten Böhmen aufrichtete, wurde die authentische Kultur der Tschechen. Die Kultur der Sieger wurde zur eigenen Kultur. Aus diesem Widerspruch, aus dieser Dialektik, lebte Böhmen. Fremd im Heimischen, heimisch im Fremden. Fremdheit im eigenen Land ist ein wesentlicher Ausdruck tschechischer und deutscher Literatur in Böhmen. In dieser Fremdheit lebte auch Melchior Vischer. Aus dieser Fremdheit hatte er seine Literatur, seine geistige Konzeption entwickelt.
Alles, was den Dichter Melchior Vischer in den zwanziger Jahren berühmt gemacht hatte, war in Prag entstanden. Vischer, Sohn eines Apothekers, kämpfte während des Ersten Weltkrieges in der k.u.k. Armee, war Leutnant, wurde nach einem Halsdurchschuß für kriegsuntauglich erklärt und nahm daraufhin sein Studium an der Karls-Universität in Prag auf. Er studierte Philosophie, Germanistik und Mathematik. Die Mathematik nannte er später ihrer objektiven Klarheit wegen die „letzte Lyrik“ und fügte hinzu, die Mathematik habe ihm das Eindringen in die Kunst erleichtert.
An der 1921 gegründeten, mit Regierungsmitteln unterstützten Prager Presse wurde Melchior Vischer Redakteur, schrieb vorwiegend Film-, aber auch Theaterkritiken. In einem „Bekenntnis zum Journalismus“ erklärte Vischer den Journalisten zum „Schriftsteller der Zukunft“. 1923 ging er zusammen mit seiner Frau, die als Schauspielerin unter dem Namen Eva German auftrat, als Dramaturg und Regisseur nach Würzburg, dann nach Bamberg und Baden-Baden, um sich schließlich Ende der zwanziger Jahre in Berlin niederzulassen.
Als Melchior Vischer Prag hinter sich ließ, waren von ihm folgende Werke erschienen: das dem Dadaismus zugerechnete, mit Schwitters-Umschlag versehene Buch Sekunde durch Hirn. Ein unheimlich schnell rotierender Roman (1920), Der Teemeister. Dramatische Dichtung (1920), Strolch und Kaiserin. Eine Schelmengeschichte (1921), der Teemeister als erzählerische Prosa (1922), die Erzählungen Der Hase (1922) und Simon von Kyrene (1922) sowie das Theaterstück Die Börse (1923). Noch nicht erschienen, aber bereits 1921 geschrieben war das Theaterstück Debureau, das 1924 bei Kiepenheuer herauskam.
Das 49-Seiten-Buch Sekunde durch Hirn hat den Absturz des Stukkateurs Jörg Schuh vom Baugerüst zum Inhalt. Erzählt wird, wie in der Sekunde des Absturzes ein ganzes Leben aufflammt und wie sich dieses Leben zugleich spiegelt im Absturz Europas – besiegelt durch den Ersten Weltkrieg. Alles erhält in diesem Mini-Roman die gleiche Gegenwart. Die Zeitgleichheit von Nähe und Ferne bringt die Zuspitzung der Erfahrung von Welt. Und die Sprache will mehr als „nur“ die Sache benennen, von der sie handelt, sie will sein, was sie schildert: Absturz.
Der in Brünn geborene Romancier Ernst Weiß, der Sekunde durch Hirn ein „müheloses Gnadengeschenk“ nannte, sah als einziger im spektakulären Meinungsstreit von damals, daß diese „außerordentliche Arbeit“ weit über den Dadaismus hinausging.
In Sekunde durch Hirn vernimmt der Stukkateur, daß er das Kind eines Schwarzen und einer Weißen ist:

Darum ist auch Dein anderes Ohr schwarz. Das weiße hingegen hört alles: Vergangenes und Zukünftiges, bis sich der Kreis schließt. Es hört so genau, daß es weiß. Und vernimm: Es gibt keine Grade, was grad deucht, ist Stück vom Kreis…

Die Kommunion von linearem Denken und Kreisdenken, auch in anderen seiner Werke sichtbar, wird zum poetologischen Konzept, so wie sie Nikolaus von Kues (1401–1464) in „gotischer Zeit“ gedacht hat, als er die „Sprengmetapher des Kreises“ ersann, dessen Radius unendlich wird, wobei die Peripherie eine unendlich kleine Krümmung enthält, so daß Bogenlinie und Gerade zusammenfallen.
Außerhalb Böhmens schrieb Melchior Vischer die Theaterstücke Fußballspieler und Indianer und Chaplin, die 1924 bei Kiepenheuer erschienen. In beiden Stücken wird gezeigt, wie Natürlichkeit dem Flitter des technischen Fortschritts gewichen ist und der Traum von der Rückkehr in die Natürlichkeit beginnt.
Mit jenen zwei Theaterstücken endete die literarische Diskussion über Melchior Vischer, der sich historischen Themen zuwandte und schließlich Unterhaltungsromane schrieb. Niemand ahnte, daß dieser Vischer Ende der zwanziger Jahre von der Dramatik zur Lyrik überging. „Lyrik als Signal, nie Lyrik als Wort“, schreibt er, schreibt er sich vor, als ginge ihm jener an ihn gerichtete Brief Franz Kafkas durch den Kopf, in dem es heißt:

Expressionismus ist für mich eine Sehnsucht, deren Erfüllung ich nicht ertragen könnte.

Mit den gleichen Zweifeln, die Kafka dazu brachten, die Vernichtung seines unveröffentlichten Werkes zu verfügen (woran sich sein Freund und Testamentvollstrecker Max Brod nicht hielt), näherte er sich in dem bisher unveröffentlichten Brief der Teemeister-Prosa Melchior Vischers. Das Expressionistische, was Kafka im Teemeister suchte, aber nicht fand, faßt er in die Worte „Welt-auflösend, den Kunst-Tod bringend“.
Zwei Themenkreise werden von Melchior Vischer nebeneinander gestellt und zum Teil ineinander verflochten: die Folgen für den westlichen Menschen, eine Welt ohne Gott zu denken, und die Sinnstiftung, die in der vermeintlichen Schwäche ostasiatischen Denkens liegt. Wer die Gedichte in diesem Band gelesen hat, sieht, daß es Ende der zwanziger Jahre keinen Bruch in der literarischen Entwicklung Vischers gegeben hat. Vischer bleibt in der Kontinuität eines Denkens, das bereits in den literarischen Anfängen sichtbar ist. In meinem Buch Böhmische Dörfer: Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft (Paul Zsolnay-Verlag, 1987), dem Einführungsband für diese Reihe, bin ich in einem Vischer-Porträt ausführlich auf diese Zusammenhänge eingegangen.
Als ein Beispiel unter zahlreichen für die Kontinuität des Denkens sei eine Passage aus dem Frühwerk Der Teemeister zitiert:

Liebe Freunde, hinter jeder Handlung, hinter jeder Erscheinung verbirgt sich der Vorgang des Vorgangs, Erscheinung der Erscheinung. Ein Augenaufschlag von Blick zu Blick schöpft mehr Geschehen als tobend schreiende Schlacht von sechzig Tagen. Laßt eure Blicke kreisen: Tod ist nicht Tod, irgendwo ward er schon vorher getötet, Leben ist nicht Leben, irgendwo ward es schon vorher gelebet, vorherbestimmend unter der Fläche. Es gibt keinen Zufall, ein Gesetz aber ist. Ihr seht nur die Wirkung, ich aber schaue im ewigen Wechsel des unsterblichen Tao den Grund…

Gesetz, das kein Joch sehen will, sondern Bindung, Offenbarung, Liebe. Ein Gesetz, das transzendentalen Ursprungs ist, jeder Gemeinschaft unmittelbar und jedesmal wieder neu gegeben. Melchior Vischer arbeitet im Teemeister mit einem japanischen Sujet. Doch in dem ostasiatischen Motiv ist auch Vorderasien inbegriffen, die jüdische Thora. Zugleich wird der Teemeister von zwei Schnittlinien durchzogen: dem Protestantismus der Hussiten und dem Katholizismus barocker Provenienz, der jene Grausamkeit verdeckt, mit der die Böhmen zum alten Glauben zurückgeholt wurden. Und doch ging in Böhmen die hussitische Grundeinstellung, ohne Vermittlung direkt mit Gott zu sprechen, nicht verloren.
In der frühen Erzählung Simon von Kyrene knüpft Melchior Vischer den Faden zu jenem Juden, der auf dem Passionsweg Jesu gezwungen wird, dessen Kreuz nach Golgatha zu tragen. Simon von Kyrene, der als Mensch unserer Tage dargestellt wird, klagt sich an, einst als Pförtner der Prager Theinkirche mit der Befreiung der Glocken im Turm den Turm selbst zum Einsturz gebracht zu haben. Das gotische Bauwerk in Prag war die Hauptkirche der Hussiten, jener Bewegung also, die das Scheitern der mittelalterlichen Theodizee signalisiert, die den Bruch vollzieht zwischen der lex divine und der lex naturalis, die die Befreiung des Einzelwesens einleitet. Die Theinkirche wird in der Erzählung Vischers Symbol für die Geburtsstunde des Individualismus.
Simon von Kyrene trägt bei Melchior Vischer die Geschichte der Befreiung wie ein Kreuz. Denn die Geschichte der Befreiung ist auch die Geschichte des Verrats: Der Gott, der noch immer außer Frage steht, wird in Frage gestellt, ehe sich der Mensch aus allen metaphysischen Zusammenhängen entläßt. Der souveräne Mensch wird Mensch-Gott, der Antichrist, und keine rationale Ethik wird ihn aufhalten, andere und sich selbst zu vernichten.
Aus der in die gotische Zeit eingebetteten Menschenliebe wird die Menschenverachtung aus Wissensbegierde. Simon von Kyrene ist das Ergebnis einer abendländischen Entwicklung. Vergebens bäumt sich Melchior Vischers Gestalt „gotisch steil“ auf, er kann das Feuer nicht verhindern, in dem sich die Welt auslöscht. Mit der gotischen Zeit verschwindet für den böhmischen Dichter „gleichsam das letzte ,Asiatische‘, das sich auch im westlichen Christentum von seinen Uranfängen her noch erhalten hatte, eben dieses Aufgehen des Einzelnen in der Gesamtheit“.
Die Figuren, die den Handlungsfäden Melchior Vischers folgen, haben alle eines gemeinsam: Sie betonen den transitorischen Charakter allen Lebens, ohne dabei in eine Daseinsentwertung oder in eine Weltverneinung zu fallen. Es sind Menschen, die sich losgerissen haben, die sich aufmachen, die sich in Bewegung halten, die unterwegs sind, die vom Haus in die Hauslosigkeit gehen, wie es bei Buddha heißt. Melchior Vischer erweist sich als der grenzenlos aufmerksame Beobachter der Schöpfung, sucht die bergenden Zusammenhänge und findet sie in der Figur des Pilgers, des Wanderers, des Vagabunden, des Landstreichers. Und diese Figur strebt der universellen Versöhnung zu.
Mit der Lyrik, die Vischer seit 1930 schreibt, weist er sich selbst diesen Weg zu, der eine Blickrichtung bleibt. Verharrend in der Anschauung, wandern die Augen. Verharrend in der reinen Anschauung, als könne sich das unbeständige Empfinden durch zupackendes Erleben nur um so schneller verflüchtigen. Bewegung im Stillstand und Stillstand in der Bewegung – aus dieser Diskrepanz, aus dieser Spannung lebt die Lyrik Vischers. Er folgt nicht der Illusion des Fest-Gestellten, sucht Bilder, die sich dem Be-Greifen entziehen. Der Geborgenheit der Entrückung zustrebend, läßt diesen Melchior Vischer die Zeit doch nicht los. Er trägt die Züge des Vergessenen zusammen, um das eine Gesicht in die Unvergänglichkeit zu überführen. Im „Dysangelium“, der schlechten Botschaft, bleibt das Evangelium, die gute Botschaft, virulent:

Die Taube,
Jäh gefallen aus der Dreifaltigkeit –
An die glauben das Kind und die Mutter…

In dem Gedicht „Wider Luzifer“ heißt es:

Gib mir die Gnade und Kerze und Kraft
Zum Gebet,
Wie ich als Kind es einst so innig getan

Das Prag-Gedicht „Der späte Gast anno 1913“ endet:

Nun Glockenstille.
Ein wenig Wind, dann schüchterner Regen:
Ich höre,
Wie Gott zu mir flüstert.

Der erste Gedichtzyklus von Melchior Vischer, der den Titel „Licht im gotischen Schatten“ trägt, nimmt dessen Prinzip der Bewegung wieder auf, das den Raum der gotischen Kathedrale beherrscht. Der gotische Raum, der in einem ständigen Werden und Verändern erscheint, war dematerialisiert und spiritualisiert. Endlos, war er doch gleichzeitig organisiert und rhythmisch gegliedert. In jener zyklischen Zeit, in einer Zeit, die in sich selbst zurückführt, entstand das Bild vom Rad des Schicksals, das Melchior Vischer in seinem Gedicht „Entträumte Sackgasse“ anspricht:

Schicksal –
Als Sinn von keinem erkannt, von keinem empfunden,
Verleugnet von Leugnenden und vergessen von Geleugneten.

Die Erinnerungen an den Katholizismus der Kindheit gleichen Inseln in den Gedichten des ersten Zyklus. Sie weichen dann einer Prähistorie der Wirklichkeit, die nur immer stärker in den Gedichten Platz findet. Das Ich in der Verbindung mit dem Archaischen schafft sich eine neue Ritualität. Doch bereits der Zyklus „Das Stirnauge“ verbindet das „Seil zur Luftwurzel“ wieder mit der abendländischen Welt. Zwar weist das Stirnauge, das dritte Auge also, in die Vorgeschichte, doch es taucht dann als Symbol für geistiges Sehen in den frühen Kulturen der Hethiter, der Ägypter, der Inder auf, auch bei den Griechen und bei Ezechiel im Alten Testament.
Mit dem Zyklus „Das Stirnauge“ – die einzige Sammlung, in der alle Gedichte vorhanden sind, die auch in der Titelauflistung von Melchior Vischer genannt werden – eröffnet der Dichter ein Zusammenspiel der Entsprechungen, entwickelt er ein Lebensverständnis, in dem die kulturellen Grenzen aufgehoben sind. Seine Anschauung, die dem Leser ein anderes Sehen abverlangt, hat Melchior Vischer in dem Vorwort Krückstock und Lesebrille zuvor dargelegt.
In einem Brief vom 7. Dezember 1954 an Anton Schnack befand Vischer, daß die ersten beiden Zyklen „noch nicht ganz mit der Tradition brechen“, daß aber der dritte Zyklus, „Das Stirnauge“, „ganz die üblichen geistigen Grenzen zerstößt“. Aus einem Brief an Max Brod vom 11. Oktober 1954 geht hervor, daß er damals einen Verleger suchte. In dem dann folgenden Zyklus, mit dem Vischer sein lyrisches Werk abschloß, kehrte er zu den Fragestellungen („Irgendwo ein biblischer Stern fern?“) des ersten Zyklus zurück. In jenen Zeitraum gehört aller Wahrscheinlichkeit nach auch das als Fragment abgedruckte Gedicht, von dem die erste Manuskriptseite nicht mehr auffindbar ist:

Lyrik als Siegel, nie Lyrik als Wort.

Im Nachlaß Melchior Vischers befindet sich ein Prager Zeitungsausschnitt mit einem kleinen Gedicht aus dem Jahre 1920, „Das Erlebnis“:

Ich trat aus Dunkel heraus
in den Park.
Licht.
Ein Stein.
Sein.

In der „nackten Lyrik“, die ursprünglich den Titel „Flöte aus Stein und Fleisch“ trug, endet das Gedicht „Vor dem Haus der tausend Bücher“ ein wenig verändert – mit den Zeilen aus dem Jahre 1920.
Der österreichische Literaturwissenschaftler Raoul Schrott fand in der Bibliothèque Littéraire Jacques Doucet in Paris vier von Vischer signierte und zwei unsignierte Texte aus dessen Prager Zeit. In diesem Archiv werden auch sechs Briefe an Tristan Tzara und Francis Picabia aufbewahrt.
Alle diese Texte wurden auf 37 Seiten 1988 in der von Franz-Josef Weber und Karl Riha herausgegebenen Reihe Vergessene Autoren der Moderne der Universität-Gesamthochschule Siegen mit einem Vor- und Nachwort von Raoul Schrott herausgegeben. Die dadaistischen Gedichte waren zur Veröffentlichung für die Anthologie Dadaglobe vorgesehen, die über das Stadium der Planung nicht hinauskam. In „Marmeladen-Sure an Allah“ auch hier der Hinweis an Prag:

Hurrah! es brennen Wüstenpferde,
der violette Mohn hat das Kolibrie geschwängert,
o wie seufzen aus meiner Leber
koschere Tempel, hussitische Kirchen und Lavendelaltäre,
in der Milchstraße fließt Bier, Schokoladentrunk und
Kaviarwein,
weiße Flöhe, deutsche Unken und tschechische
Generäle
pissen auf den Friedensvertrag,
der den Völkern H2SO4-Scharmützel schenkt,
gängeru hu mu schu lu lu lu,
reißt die Telefone aus den Ohrmuscheln der Welt,
Gruß an Serner, Tzara, Picabia, Arp und den Papst
von Prag Konfitüren und Hühnersuppen lachen aus
allen Klosetts, Lyriker und Unterhosen fliegen durch
die Luft,
auf der Schildkröteninsel hab ich eine Korsettfabrik,
die Damen bekannter Pariser Politiker loben meinen
Bauch,
auf dem Ozean stehe ich und trinke ihn aus,
bis das Wasser unter meinen Füßen Sand wird,
hin falle ich, brülle und weine zugleich:
Ich bin Trillionär, mir gehört der Grund des Meeres!
Republikanische Minister stehen an kontinentalen Ufern
in weißen Nachthemden und grüßen mich,
mich den Scheik des Meers,
o wie sie singen die Quallen, Mollusken und
Rettiche, Allah ill’allah!
groß bist du Dadallahdada!
Rote Kühe und gelbe Bären
grüßen den komfortablen Aschermittwoch: Dallahda!

Die Briefe Vischers an Tzara und Picabia zeigen, wie der 25jährige Autor in Prag begierig Anschluß an eine Gruppierung der Moderne suchte. Eine Suche, die er schnell aufgab, weil die dadaistische Komponente einer ganz eigen-sinnigen Dichtung wich. In seiner Erzählung Der Hase, eine Geschichte des Verfolgens und des Verfolgt-Seins, verwendet Vischer eine ganz einfache Sprache.
Der Melchior Vischer der zwanziger Jahre war vergessen, als der Zweite Weltkrieg beendet war. Vischer heiratete ein zweites Mal, wurde Vater eines Mädchens. Er schrieb Rezensionen für die Berliner Zeitungen Telegraf und Tagesspiegel, auch für die Welt. Mitten im „Kalten Krieg“ ging er von Westberlin nach Ostberlin. Kulturminister Johannes R. Becher hatte ihn mit dem Versprechen gelockt, in der DDR würde sein Hus-Buch gedruckt werden. Erbittert mußte er feststellen, daß auch die DDR seinen Hus in der von den Nazis einst verbotenen Fassung nicht für akzeptabel hielt und Änderungen verlangte. Melchior Vischer kehrte nach Westberlin zurück.
Seine Situation war katastrophal. Er hatte den Spott zweier Seiten zu ertragen. Die sechsköpfige Familie – Vischers zweite Frau hatte drei Kinder aus erster Ehe – mußte von der Arbeitslosenunterstützung leben. Die Ehe wurde geschieden. Die Tochter Jana blieb beim Vater, der sich in seiner Wohnung Lindauer Straße immer stärker zurückzog. Von New York aus schickte Johannes Urzidil, der Prager im Exil, mit dem Vischer korrespondierte, Geld. 1955 veröffentlichte der Frankfurter Societäts-Verlag ein zweites Mal Vischers Hus in einer um die Hälfte gekürzten Fassung. Der einschneidende Kompromiß brachte etwas Honorar, aber keine öffentliche Aufmerksamkeit für sein Thema. Melchior Vischer begann ein neues Werk: Hus und die Unzucht seiner Zeit, das er nicht mehr abgeschlossen hat.
Die Wiederentdeckung des Dichters ließ auf sich warten, fast zwei Jahrzehnte lang. Und als der winzige Verlag petersen press berlin 1964 Sekunde durch Hirn als Faksimiledruck herausbrachte, wurde diese Tat kaum bemerkt. Auch als das Goethe-Institut 1966 hektographierte Auszüge aus dem Hasen zur Pflichtlektüre für Studenten machte, hatte dies wenig Auswirkungen. Peter-Paul Zahl brachte im selben Jahr in einem verkleinerten Format noch einmal einen Faksimiledruck von Sekunde durch Hirn in Berlin heraus. Als dann doch die ersten Studenten bei Melchior Vischer in der Lindauer Straße an der Wohnungstür klingelten, wies er sie ab. Er hatte mit seiner Literatur-Vergangenheit abgeschlossen.
Das hieß nicht, daß er an eine Zukunft seiner Dichtung nicht mehr glaubte. Seine Dichtung konnte warten über seinen Tod hinaus. Auf dieses Warten verpflichtete er auch seine Tochter Jana, Wegbegleiterin des Einsamen, der wie Wittgenstein um die „Kälte der Weisheit“ wußte, auch wenn er die eisige Region von Wahrheit und Weisheit immer mit Feuer in Verbindung gebracht hat. Stirnauge: im flammenden Durchbruch der Erkenntnis allein.
Ein paar Jahre früher, da wäre dieser Melchior Vischer noch zugänglich gewesen. Zwischen 1958 und 1960 hatte er eine Stelle als Bibliothekar in der Städtischen Bibliothek in der Dudenstraße. „Er archivierte, er beriet Leser“, erinnert sich Tochter Jana. „Es waren wohl die in gewisser Weise glücklichsten Jahre meines Vaters nach 1945.“ Doch mit Erreichen des 65. Lebensjahres mußte Vischer aufhören. Wieder mußte er von der Sozialhilfe leben. Damit man ihm die neue Schreibmaschine, die er 1963 für einen Sonderpreis von 210 Mark erwarb, nicht wegnehmen konnte, überschrieb er sie seiner Tochter. Noch einmal tippte er nun alle seine Gedichte ab.
Den ersten ernsthaften Ansatz zur Wiederentdeckung erlebte er nicht mehr mit. Melchior Vischer starb am 21. April 1975 im Alter von 80 Jahren in Berlin. Ein Jahr später brachte Hartmut Geerken, Mitherausgeber der Reihe Frühe Texte der Moderne in der edition text + kritik die Prosa Vischers heraus. Im Jahre 1984 kam in derselben Reihe der Band Fußballspieler und Indianer. Chaplin. Zwei Schauspiele, herausgegeben von Sigrid Hauff, heraus. 1988 reihte die Bibliothek Suhrkamp mit Sekunde durch Hirn / Der Hase Melchior Vischer in einer von Peter Engel editierten Ausgabe als modernen Klassiker ein.
Mit den bisher unveröffentlichten Gedichten unter dem Titel Muß wieder ein Morgen sein soll nun mit jenem Vorurteil Schluß gemacht werden, dem der bei seinen Recherchen sonst so akribisch genaue Harmut Geerken 1976 aufgesessen ist, als er schrieb:

Der Beginn des Tausendjährigen Reiches und das Versiegen von Vischers kreativem Schaffen scheinen zeitlich zusammenzufallen.

Als Melchior Vischer seine Wohnung in der Lindauer Straße aufgab und in die Pflegestation eines Altersheims kam, nahm er drei Dinge mit: den Zinnteller seines Vaters, von dem bereits sein Großvater, ein Wanderlehrer und Orgelspieler, gegessen hatte, die Gedichte und das nicht vollendete Hus-Manuskript.

Jürgen Serke, Nachwort

 

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