Michael Hamburger: Zu Hans Arps Gedicht „Aus: Häuser“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Arps Gedicht „Aus: Häuser“ aus Hans Arp: Gesammelte Gedichte II. Gedichte 1939–1957. –

 

 

 

 

HANS ARP

Aus: Häuser

In einem Hause
hatten alle Bewohner den gleichen Traum.
Sie träumten
daß sie täglich kleiner und kleiner würden
und schließlich stürben.
Vorsorglich zimmerten sie sich daraufhin
ihre Särge zu Särglein um
und trugen sie stets mit sich
unter dem Arm.
Sie taten recht daran.
Obwohl zuerst das Kleinerwerden
nicht der Rede wert war
und zudem unregelmäßig vor sich ging
ja sogar einmal mehrere Monate stockte
übertraf es plötzlich jede Erwartung.
Eines schönen Tages
erwachten die Bewohner des Hauses
in dem alle den gleichen Traum geträumt hatten
klein wie Puppen
und paßten tadellos in ihre Särglein.

 

Verschiedene Grade der Absichtslosigkeit

Die sogenannten Experimente in der Kunst haben zwar ein Ergebnis: das zustandegekommene Werk. Sie unterscheiden sich aber von Experimenten in der Naturwissenschaft dadurch, daß sie nichts zu beweisen brauchen. Hans Arp, der die Absichtslosigkeit zu einem Strukturprinzip machte, wollte ganz gewiß mit seinen Gedichten nichts beweisen. Selbst den Sinn – oder den Unsinn – seiner Gedichte überließ er dem Zufall. Daß sie aber trotzdem einen Sinn haben und fast alle Möglichkeiten der Lyrik durchspielen von Scherz, Satire, Ironie zur tieferen Bedeutung, von reiner Phantasie zum persönlichem Bekenntnis und zur Allegorie, bestätigt seine eigene Bemerkung:

Bevor Dada da war, war Dada da.

Auch dieses Wortspiel soll wohl nichts beweisen. Es war ein Einfall, aus den Zufälligkeiten der Sprache geschöpft. Das verhindert aber nicht, daß es sinnvoll ist, sogar mit sieben kurzen Worten eine historisch-kritische Abhandlung ersetzt – nämlich über den Anteil des Zufalls an vor-dadaistischen Gedichten, auch nach-dadaistischen oder nicht-dadaistischen. Freilich gibt es selbst innerhalb des Gedichtwerks von Arp verschiedene Grade der Absichtslosigkeit, wie der Titel seiner Sammlung „Gedichte mit und ohne Anker“ schon andeutet. So kommt das hier zitierte Gedicht ohne Wort- und Redensartspiele aus, verzichtet also auf eine Quelle der Zufälligkeit. Die Sprache des Gedichts wird mit einer so prosaischen Strenge gehandhabt, daß man sie leicht für zielbewußt halten könnte. Dann wäre dieses Gedicht eine Parabel oder Allegorie.
Keine Absicht des Autors verbietet einem Leser, es als solche zu lesen. Im Gedichtwerk Arps kommen auch Allegorien vor, im Glücksfall sogar Ansätze zu einem modernen Mythos. Wie gesagt kommt in Arps Gedichten fast alles vor, was man von irgendeiner Lyrik erwartet. Nur soll man nicht den Autor für die aus seiner Erzählung geschöpfte „tiefere Bedeutung“ verantwortlich machen, da das Lesen nicht weniger als das Schreiben vom Zufall abhängt. Arp schrieb in einem früheren Manifest:

dada ist unsinnig wie die natur und das leben. dada ist für die natur und gegen die kunst. dada will wie die natur jedem ding seinen wesentlichen platz geben.

Von dem Gegensatz zwischen Natur und Kunst können wir in der späteren Lyrik Arps absehen, da die Kunstfeindlichkeit der Dadaisten nur dem Mißbrauch der Kunst als „Kulturgut“ und Erziehungsmittel galt. Nachdem Arps Kunst wieder zu Natur geworden war, konnte auch die Natur wieder zu Kunst werden. Aber „unsinnig“ oder – wie es in einem anderen Zusammenhang heißt – „rätselhaft“ mußte diese Kunst bleiben, denn „das Leben ist ein rätselhafter Hauch“.
Darum versuche ich nicht, das Gedicht „In einem Hause“ zu deuten. Daß die „unsinnige“ Begebenheit des Gedichts ganz konsequent, sogar logisch und nüchtern erzählt wird, verleitet mich nicht zu Spekulationen darüber, was der Autor damit gemeint haben möchte. Die Begebenheit spricht mich an, amüsiert mich, überzeugt mich sogar, ohne daß ich zu wissen brauche, wovon.
Daß das Kleinerwerden der Hausbewohner im Traum beginnt und ins wache Leben übergeht, empfinde ich als sinnvoll und naturgemäß; ebenso, daß es unbestimmt bleibt, ob sie nicht auch ihre Särglein im Traum zimmerten und herumtrugen. Von einem Erwachen ist erst am Ende die Rede; und da Arps Lyrik so viele Grenzen überspringt, könnte selbst dieses Erwachen wieder in einem Traum geschehen.

Michael Hamburgeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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