KEINER FÜR SICH, ALLE FÜR NIEMAND
Wie es mir vorkommt das kahle Licht
in dem ich still, eingesunken, weiteratme
− geräumter Saal, Stühle auf den Tischen
ich war nie so zufällig
Im Treppenflur weht die Zeitung auf
ich fühle mich auf einem Schiff, das Messing
blinkt, und schöne Handschrift in Kontoren.
Der Schmerz ist dünn geschliffen bis die Welt
erfährt. Die Welt erfährt nicht
Die Erde wiederholte sich, ich glaube du und ich
wir sind jetzt kaltgestellt, Vorfahrn von nichts.
Vertraute Wege sind weg
in irgendwelchen Zielen abgefangen
Abgefangene Nachrichten, scheinbares Leben
Datenungeheuer werden gesucht.
Gute Not, ihr Fehlen macht mich kopflos
überall verlangt das stille Geld zu arbeiten
Vom Fenster aus seh ich die Menge
eingehn in die Hallen, in die rieselnde Maschine
geplünderte Gesichter, der Morgen leergemacht
keiner mehr für sich, alle für niemand
Deine Schuhe stehen aufgeweicht neben dir
du bist so fest in deinem Gefühl zu mir, daß es
zu viel für mich ist,
die Ernte leuchtet, Prunkzeug der Wissenschaft
die Welt gesehen, durchschaut was nicht dahinter
Sonne da, gesiebt das Land von dir zu mir
so schön du bist von allem abgetrieben
wir können uns nicht treffen in den Zimmern
noch hier im Park der gefegt ist
Mit den Augen des Entdeckers geht Nicolas Born durch seine vom schönen Schein der Medienworte und Kaufangebote verhüllte Alltagswelt. Entdecken, um die Dinge als gesellschaftliche Realität auszuweisen, um Mechanismen zu durchschauen und durchschaubar zu machen – in Gedichten, deren eilende Zeilen im nicht abreißenden Strom der Erfahrungen und Assoziationen kein Entkommen zulassen. Phantasie und Fiktionen sind ihm Mittel beim Entwurf einer Gegenwelt, an die er nur einen Anspruch stellt: Maß zu sein für das Mögliche.
Verlag Neues Leben, Ankündigung, Heft 166, 1981
„Die Gedichte sollen roh sein, jedenfalls nicht geglättet; die rohe, unartifizielle Formulierung, so glaube ich, wird wieder Poesie, die nicht geschmäcklerisch oder romantisierend ist, sondern geradenwegs daher rührt, daß der Schreiber Dinge, Beziehungen, Umwelt direkt angeht, das heißt also, Poesie nicht mit Worten erfindet.“ (1967)
„Ich zeige Rituale und Übereinkünfte, die ich erkenne, bin aber ebenso darauf aus, mein eigenes Ritual und meine eigene Übereinkunft zu erkennen und loszuwerden.“ (1970)
„In neue Vorstellungsräume eindringen. Ganze Skalen von Empfindungen in Bilder und Bewegungen verwandeln. Mit der Entdeckung anderer Lebensmöglichkeiten eine Kettenreaktion von Wünschen und Sehnsüchten auslösen, die das standardisierte Lebens-Schema zersetzen.“ (1972)
Nicolas Born, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1981
(…)
Der einundvierzigjährige Nicolas Born ist der jüngste und zugleich bekannteste unserer drei Autoren. Sein vielbeachteter Roman Die er dab gewandte Seite der Geschichtet (1976) hat ihm den Bremer Literaturpreis eingebracht. Er ist Mitherausgeber des Rowohlt-Literaturmagazins. Nicolas Borns frühere Gedichtbände Marktlage (1967), Wo mir der Kopf steht (1970), Das Auge des Entdeckers (1972), ergänzt durch neunzehn seither geschriebene Gedichte und einige lyrische ,Notizen’, liegen nun gesammelt vor in Gedichte (Rowohlt Verlag 1978).
Borns Gedichte markieren am ehesten das nach dem Zerfall der Studentenbewegung (1968) gewandelte Bewußtsein der jungen intellektuellen Linken, das sich in der Neuen Subjektivität der Lyrik artikuliert. Auch Borns frühe Veröffentlichungen schließen das direkte politische Gedicht oder gar den Agitprop-Vers aus. (Bezeichnenderweise nahm er die politischen „berliner Para-Phrasen“ aus dem zweiten Gedichtband, auch einige andere schwächere Gedichte, in den Sammelband nicht auf.) Von Anfang an überwiegt eine Sensibilität, die überaus scharf, bewußt oberflächig, detailreich das Alltägliche und Triviale erfaßt, und zwar in engster Beziehung zum persönlichen Ich, zur Selbsterfahrung, ohne Rücksicht auf irgendwelche Tabus. Das provozierend Gesellschaftskritische versteht sich von selbst, bedarf nicht einer ideologischen Vorgabe.
Born hat von der neuen amerikanischen Lyrik der Olson, Creely, Frank O’Hara gelernt, ebenso von der „lyrischen Expansion“ Apollinaires, der die ästhetische Befangenheit aufriß für das Banale und Zufällige. Aber auch hier, Anregungen aufnehmend, ist Born „darauf aus, mein eigenes Ritual und meine eigene Übereinkunft zu erkennen und loszuwerden“. „Ich bin es. Ich bin es immer gewesen.“ Er ist alles andere als ein naiver Lyriker, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß er wie kaum ein anderer seiner Generation zur Selbstironie fähig ist („auf Wiedersehn du alter Dichter in mir“).
Bemerkenswert bei den ersten Gedichten sind die „Nachrufe“ in ihrer unpathetischen Faktizität und Lakonie, etwa:
Am Morgen harkte er noch den Gartenweg
der alte Herr Barun 1891–1964
…
Ich, Born, Sohn des Born
habe ihn vom Fahrrad herunter gegrüsst
…
Am Abend starb er am Herzschlag.
…
Mit Vorliebe notiert Born scharf belichtete „Ausschnitte aus Lebensläufen“, konkrete alltägliche Hantierungen oder das, was präzise Datierungen und Ortungen an Lebensinhalt hergeben. Außenwelt und Innenwelt mischen sich zu einer genau erfaßten Gegenwärtigkeit wie in „Bahnhof Lüneburg. 30. April 1976“:
Es ist 5 Uhr 45, unausgeschlafene
Autolandschaft,
als habe damit alles endgültig seinen
Platz.
…
Welch ein Morgen und welch ein Auge
darin.
Wie verlassen und müde ich bin.
Wie krank und verwohnt ein Schnell-
zug vorbeiweht.
Die letzten Gedichte, das zeigt der Sammelband auch, haben manche anfänglichen Schwächen abgeschüttelt. Manche früheren Verse blieben allzu roh in der Faktenreihung stecken, blieben mitunter deklamatorisch oder deskriptiv. Auch ein so unstimmiges Bild wie „Die Nacht ist poetisch und rauh“ würde sich der Autor der letzten Gedichte nicht mehr erlauben.
Mit dem Band Das Auge des Entdeckers weitet sich nicht nur der Erfahrungshorizont, sondern wird Borns Handschrift im Gedicht sicherer und lockerer, werden die Verse stimmiger in ihrer poetischen Konkretheit, auch im Zusammentreffen von Persönlichem und dem allgemeinen Befund, von Ich-Erfahrung und Welt-Erfahrung. Im großen, litaneihaft: ausschwingenden Verstext „Im Innern der Gedichte“ gibt Born eine „Summe menschlicher Existenz“, realistisch und utopisch, falsche Erwartungen abbauend und am Ende, im wiederholten „du bist…“ dialektisch Begrenzung und Möglichkeiten des Menschen benennend. Das Gedicht beginnt:
Du kannst nicht davon leben
mit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit
leben
aber du kannst einen Eingriff überleben
…
Land und Wasser sind geblieben
der Himmel ist geblieben
und du bist geblieben
du hast dich auf nichts einzurichten
kleine Sonnen erleuchten deine Demokratie Und
du wählst das Leben und den Tod
Einige der neueren großen Gedichte Borns gehören zum Eindringlichsten, das heute im Gedicht sagbar ist, das „Liebesgedicht“, das eigentlich ein weitgespanntes Friedensgedicht ist, „Dick vermummtes Winterbild“ oder „Fortsetzungsgeschichte“. Die letzten Gedichte sind kein ,Neubeginn’, sondern das Ergebnis einer konsequenten Entwicklung des Lyrikers Nicolas Born. Wenn ihnen wenig Hoffnung mitgegeben ist („Gras stürzt, die Gärten stürzen, niemand / unterm Geldharnisch fühlt die Wunde / entsorgt zu sein von sich selbst“), so liegt das nicht an den Gedichten. Sie behaupten sich gegenüber der Erstarrung einer technifizierten Welt, weil sie noch fähig sind, konkrete Wahrheit und sinnliche Schönheit zu vermitteln.
Eberhard Horst, Neue Rundschau, Heft 4, 1978
Beginnen wir am besten dort, wo gewisse naturgegebene Zweifelhaftigkeiten in jeder Hinsicht unstrittig sein dürften. Ich meine, daß weder Born noch ich geborene Niedersachsen sind und eine gewisse landsmannschaftliche Querspange in eine gänzlich andere Richtung weist. Demnach wurde Nicolas Born am 31. Dezember 1937 in Duisburg geboren und ich am 25. Oktober 1929 in Dortmund, was für uns nur gelegentlich ein Gegenstand literarischer Erörterungen war, aber als Teilzeit-Niedersachsen haben wir uns durchaus gemeinsam empfunden, wobei gerade das Wendland eine nicht ganz nebensächliche Rolle spielte.
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Als mir Nicolas in den frühen Siebzigern erzählte, daß er sich nach einem reichlich schlenkrigen Curriculum doch allmählich ein festes Dach über den Kopf wünschte, am liebsten ein Reetdach im Kreis Lüchow-Dannenberg, sagte ich zu ihm, ah die Gegend kenn ich, da kommt nämlich meine halbe Familie her, denn in Hitzacker hat mein Großvater mal als Pastor gewirkt und im nahen Zebelin wurden nicht nur meine Mutter, sondern auch ihre beiden Brüder geboren, alles wunderbar verwunschenes Gelände auch heute noch und noch nicht bis zur letzten Elbschlinge mit Ytong-Steinen durchgepflastert, also „Glückauf!“ und viel Fortuna über dein Haupt und deinen weiteren Lebensweg.
Kennengelernt hatten wir uns allerdings weder auf diesem noch auf jenem Mutterboden, sondern in dem mobilen, quicken, wirbligen und in jeder Hinsicht colloquial gestimmten Berlin, wo Walter Höllerer in den frühen Sechzigern eine Pflanzschule mit dem Namen „Literarisches Colloquium“ eröffnet hatte. Die Idee war so einfach wie genial und speiste sich aus vielen sehr unterschiedlichen Quellen. Einerseits konnte sie sich auf gewisse Erfahrungen an amerikanischen „schools of creative writing“ berufen, andererseits griff sie durchaus auch auf viel ältere Traditionen zurück, ich denke an die sogenannten „Fruchtbringenden Gesellschaften“ der Barockzeit oder an die Versklopfer- und Silbenstecherschulen des Minne- und Meistersangs, aber natürlich hatte auch die Gruppe 47 mit ihren etwas zweifelhaften Vortrags- und Rezensionspraktiken in gewisser Hinsicht Pate gestanden.
Trotzdem lief hier alles ein bißchen anders. Während die Vorgabe der Themen weitgehend in die Hände etwas älterer und erfahrener Semester gelegt war (ich nenne neben Walter Höllerer und Hans Werner Richter noch Peter Weiss, Günter Grass und mich), blieb es den Alumnen überlassen, der Aufgabenstellung in freier Wahl ihrer Ausdrucks- und Darstellungsmittel gerecht zu werden. Dabei konnten die Textproduzenten jederzeit auch in die Rolle von Rezensenten oder Selbstverteidigern springen, was gelegentlich schon mal auf ein ziemlich rabiates Hauen und Stechen auslief. Um Ihnen wenigstens eine vage Vorstellung von der schon ziemlich exquisit zusammengesetzten Kombattantenschar zu vermitteln, verweise ich Sie mit Vergnügen auf solche nicht ganz unbekannt gebliebenen Namen wie Hubert Fichte, Peter Bichsel, Peter Schneider, Hans Christoph Buch, Hermann Peter Piwitt, Peter O. Chotjewitz, Klaus Stiller und – eben – unseren Nicolas Born, dessen Ausnahmeposition in diesem hochelaborierten Kreis uns noch ein bißchen beschäftigen soll.
Im Gegensatz zu seinen bis hoch unter die Schädeldecke mit Bücherwissen vollgestopften Kollegen, war ihm nämlich weder der Besuch einer Oberschule noch ein sich anschließendes Studium vergönnt gewesen, sondern nur der über zehn Jahre hinweg ausgeübte Brotberuf als Chemigraph in einer Essener Klischier- und Plakatdruck-Anstalt. Was ihm selbst rückblickend als vergleichsweise ätzende und ihn seinen eigentlichen Interessen entfremdende Tätigkeit nachging, schien uns anderen allerdings als eine beinah schon beneidenswerte Berührung mit der wirklichen Erfahrungswelt. Der Mann war irgendwie aus solidem Stoff gebaut und verfügte über Fähigkeiten und Fertigkeiten, die unserem sentimentalischen Interesse an praktischen Arbeitsvorgängen ein beachtliches Stückchen voraus war. Es versicherte ihn zumal der besonderen Zuneigung von Günter Grass, der nicht nur wußte, zu was ein ordentliches Mundwerk taugte, sondern auch was ein richtiges Handwerk wert war und der seine eigene Steinmetzlehre eher als ein frühes Adelsdiplom betrachtete. Entsprechend ungleich fallen die Bekenntnisse zu ihren Herkunfts- oder Heimatstädten aus. Wo sich dem einen sein Danzig von Buch zu Buch mehr verklärte, schien dem andern sein Duisburg eher wie ein grauer Schatten anzuhängen.
Also, er „türmte“, büxte aus, trampte in den folgenden Jahren durch halb Europa und schließlich sogar nach Syrien – suchte Anschluß an literarische Kreise und verschickte Sendschreiben an diverse von ihm geschätzte Autoren, hier sitz und dichte ich, ich kann nicht anders – fand in dem Lyriker Ernst Meister einen getreuen Freund und steten Förderer seiner Talente und debütierte auf dessen Vermittlung hin im Jahre 1961 mit einem Gedicht in der Neuen Ruhrzeitung – bis wir ihn in den Jahren 1963/64 in Walter Höllerers Berliner Talentschmiede wiederfinden, wo aus Rohdiamanten Kohinoore geschliffen wurden. Richtiger wohl, wo sich ungestüme junge Begabungen derart aneinander abschmirgelten, daß zeitweilig sogar die Befürchtung laut wurde, daß ein allgemeiner Collquiumsstil die individuellen Ausdrucksweisen zu überlagern drohe. Solche Bezweifelungen waren einschneidend, weil sie ja den Lehrbetrieb als ganzen in Frage stellten, nur daß unser Nicolas Born gegenüber solchen Versuchungen noch am ehesten gefeit schien.
Und er hatte es sich ja alles selbst einmal in sein autobiografisches Stammbuch geschrieben. Daß sich der Erdenlehm und der Dreck des Ruhrgebiets an seine Hacken heften würde wie eine durch kein Putz- und kein Scheuermittel wegzutilgende Mitgift der Natur. Und der Kleineleutemief des Reviers sich ihm in die Kleider hängen würde bis ans Ende seiner Tage und der Steinstaub seines Berufes nie mehr unter den Fingernägeln wegzukriegen sei, ob er wolle oder nicht. Aber er hatte in einer Art von selffulfilling prophecy schließlich auch noch angemerkt, daß gerade das verhaßte Milieu ihn vermutlich zum Schreiben veranlaßt habe – heißt, zur Flucht in einen anderen und ihm mehr Lebensglück und Selbsterfüllung verheißenden Beruf.
Und da sehen Sie nun auch schon oder ahnen doch bereits, worauf ich hinauswollte. Wo Sprache nämlich als Magie begriffen wird – und nicht bloß als krudes Mitteilungsinstrument – gehen die Wünsche und die Verwünschungen oft eine seltsame Einheit ein und verweben sich zu einer Art von (apotropäischem, das heißt schadenabweisendem) Schutzmantel, von dem unverträgliche Einflüsse oder Einflüsterungen schlichtweg abgewiesen werden.
Das meint, daß der sogenannte „Colloquiumsstil“ – eine Schreibart, die es meist auf schnelle Effekte, prompte Pointen und flache Lacher abgesehen hatte – einfach von ihm abglitt oder an ihm vorbeiwehte, und – statt dem neuen Großstadtklima nebst seinem colloquialen Citysound seine Reverenz zu erweisen, griffen Borns literarische Schreibversuche genau auf jenes Milieu zurück, von dem er sich eben noch so brüsk verabschiedet hatte.
Peter Rühmkorf, aus Susanne Fischer und Stephan Opitz (Hrsg.): Peter Rühmkorf: In meine Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen, Wallstein Verlag, 2012
Peter Rühmkorf erhielt den Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen 2003. Der Text folgt dem Typoskript seiner Dankesrede zur Verleihung (Auszug, Titel von den Hg.).
Ein Abriß zur Lyrik im Kontext der Studentenbewegung
Fragen, soweit die Worte reichen.2
Wenn später meine Kinder mich fragen sollten, wie war das denn so, das Lebensgefühl in jenen Jahren, ich würde einige […] Gedichte [Nicolas Borns, d. V.] heraussuchen und sagen: da lies, genauso war’s.3
Vollzieht man die Genese der literarischen Subjektivität im Verlaufe der späten sechziger Jahre nach, so bleibt bemerkenswert, daß die Studentenbewegung – wohlgemerkt vor Einsetzen ihrer theoretischen Grundsteinlegung – ein deutlicher Ausdruck subjektiven Befindens war. Symbolisch beschreibt Eva Demski im Roman Scheintod den Frankfurter Kaufhausbrand vom Frühjahr 1968 und bringt das betont subjektive Interesse an den Erlebnissen zum Ausdruck:
Aber in den Anfangsjahren, als das Kaufhaus gebrannt hatte, konnte man sich noch an diesen Flammen wärmen.4
Im Rückblick hebt Peter Schneider in seiner Atempause hervor:
Es gab zuerst ein massenhaftes und oft noch sprachloses Bedürfnis nach einer Revolte und dann deren politischen und ideologischen Ausdruck.5
Und Bopp berichtet:
Die meisten Rebellen waren jedoch zunächst auf der Straße und versuchten dann, sich schrittweise gegenseitig klar zu machen, warum sie dort waren, was sie wollten […].6
Maßgeblich hatte seinerzeit die Kritische Theorie der Studentenbewegung ihrem anfänglichen Spontan-Aktionismus eine dogmatische Ausrichtung gegeben und legte eine weitreichende Gesellschaftsanalyse vor, die die Defizite des spätkapitalistischen Subjekts in der Theorie decouvrierte: Die technische Befreiung des Menschen, die Freisetzung und Mobilisierung von Kräften des Fortschritts und nicht zuletzt die daraus resultierende Ausstattung des Individuums mit reproduzierbaren Gütern haben materielle Unabhängigkeit bewirkt, die allerdings mit dem Prozeß der Selbstentfremdung bezahlt wird, indem die eigenen Bedürfnisse fremdgelenkt werden, eigene Tätigkeiten letztlich erstarren.
Der Einzelne zahlt dafür mit dem Opfer seiner Zeit, seines eigenen Bewußtsein, seiner Träume.7
Um aber den Widerspruch zwischen erträumter und tatsächlicher Lebensform zu verdecken, muß – so die Kritische Theorie – das Ziel des Kapitalismus darin bestehen, „die Bedürfnisse selbst zu manipulieren, also dort anzusetzen, wo die menschlichen Wünsche und Bedürfnisse ihren Ursprung haben. An die Stelle dieser Wünsche und Bedürfnisse treten die Interessen des Systems [kursiv im Original, d. V.].“8 Denn, so interpretiert Lampe die Analyse, „die Individuen könnten kein Bewußtsein von ihrer Unterdrückung entwickeln, da dieses System und sein spezifischer Produktionsprozeß eine unmittelbare Identifikation des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als einem Ganzen zum Ergebnis habe.“9 Durch vielfältige Arten der Manipulation – Massenkonsum, Medien, Vergnügungsindustrie, die alle nur kurzfristige Gratifikationen böten – bleibe diese Ausbeutung unerkannt.10 Das Schwinden jenes Bewußtseins, welches überhaupt die Unterdrückung reflektierend freilegen könne, mündet für Marcuse letztendlich in die Eindimensionalität des Subjekts.11 Horkheimer resümiert:
Deutlich scheint, selbst mit der Erweiterung des Denk- und Handlungshorizonts durch das technische Wissen, die Autonomie des Einzelsubjekts, sein Vermögen, dem anwachsenden Apparat der Massenmanipulation zu widerstehen, die Kraft seiner Phantasie, sein unabhängiges Urteil zurückgehen.12
Doch sei dieser Analyse zufolge das Bewußtsein des Individuums „sowohl der Ort des falschen Bewußtseins, insofern es vom ungebundenen Unwahren der gesellschaftlichen Totalität durchsetzt ist; es ist aber auch der Ort des Widerstandes und der Erlösung, insofern es als befähigt gedacht wird, sich der drohenden Fremdbestimmung entgegenzustemmen und, im günstigsten Fall, die Gesellschaft seinerseits nach seinen Bedürfnissen umgestalten zu können.“13
Die Kritische Theorie sah vor, daß die Überwindung des Systems Menschen bedürfe, die „physiologisch und psychologisch fähig sind, sich dem Verblendungszusammenhang zu entziehen und sich selbst sowie die Dinge in ihrer wahren Bestimmung zu erfahren. Auf diese Weise wird die neue Sensibilität zur politischen Kraft.“14 Marcuse spricht in seinem „Versuch über die Befreiung“ von dem Subjekt, das „andere Triebbedürfnisse, andere Reaktionen des Körpers wie des Geistes“15 herausbildet, das „sowohl eine andere Sensibilität als auch ein anderes Bewußtsein besitzt“16 und sich befreit von der „falschen Identifikation gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse“.17
Doch blieb der erhoffte Umschlag der Theorie in gesellschaftliche Praxis aus. Die Diskrepanzen zwischen formuliertem Anspruch und manifester Wirklichkeit schienen unvereinbar. Mit seiner Erzählung Lenz hatte Peter Schneider subtil darzulegen verstanden, inwieweit die Studentenbewegung hinter ihren eigenen Proklamationen zurückblieb, wobei nach dessen Einschätzung die „Feststellung eines nahezu völligen Scheiterns auch zu[trifft]“.18 Schneiders Protagonist, der sich als spezifische Folie einer Generation identifizieren läßt und den der Autor als „kollektive[] Figur“19 deklariert, bemerkt im Anschluß an die kathartische Italien-Reise eine „Angst, die einen, was man wahrnimmt, so hastig verschlingen und in Begriffe verwandeln läßt.“20 Gescheitert ist die Bewegung nicht zuletzt auch an ihrer fälschlich sicher geglaubten Übereinkunft zwischen Intellektuellen und Arbeiterschaft. In Schneiders Erzählung formuliert Lenz an die bundesrepublikanische Gesellschaft gerichtete Vorwürfe – wohl wissend, daß sie „sich gegen ihn selber richteten“.21 Am Ende der siebziger Jahre nimmt Rühmkorf im Gedicht „Selbstporträt“ Stellung zum Verhältnis von Utopie und Subjekt, indem er mit sich und einer Generation von Lyrikern Desillusionierung betreibt:
Aber Kinder, da ist doch irgendwas
mit der Perspektive los!
Alle Wände verzogen
seit wir das letzte Mal über Zukunft sprachen.
Prinzip Hoffnung total aus der Flucht.
’N wahres Wunder, daß wir nicht
alle schon schielen.
[…]
Mit der Arbeiterklasse hängt Ihr
doch auch nur noch übers Weltall zusammen22
Diskrepanzen innerhalb der Bewegung vermeldet auch Born in einem Brief:
Priviligierte Intellektuelle biedern sich mit revolutionären Phrasen beim Arbeiter an, und das in vermeintlicher Proleten-Sprache. (WM, S. 62)
Zu dieser zentralen und schmerzlichen Erfahrung am Ende der Studentenbewegung hält Demetz in seinen Betrachtungen „fette Jahre, magere Jahre“ in bezug auf Nicolas Born fest:
Born, der die industrielle Produktion aus eigener Erfahrung und nicht nur aus der Theorie kannte, erhebt sich […] als Maschinenstürmer gegen die mechanisierte Welt, vermeidet aber die vereinfachenden Argumente vieler seiner Zeitgenossen.23
So erklärt sich, warum der Ich-Erzähler aus der „erdabgewandten Seite“ jedes aktionistische Engagement für sich ablehnt, den Begriff der Solidarität als „Selbstbetrug“ (ESG, S. 195) brandmarkt und „warum ich eigentlich meine Wut nie zu einer politischen Wut werden ließ“ (ESG, S. 187). „Der bloße Solidaritätsbegriff“, gesteht auch Born selbst, „sagt mir einfach immer weniger. Ich kann damit nichts mehr anfangen.“24 Rothmann kommt zu der Einschätzung:
Er [Born, d. V.] sympathisiert mit den Studenten, die 1967/68 dort [in Berlin, d. V.] gegen die gesellschaftlichen Zustände protestieren. Weil er aber schon etwas älter, viel zu individualistisch und zu sehr mit seinen Beziehungsproblemen beschäftigt ist, um sich selber politisch zu engagieren, bleibt er Beobachter der Szene.25
In einem Gespräch mit Schneiders Hauptfigur Lenz nimmt Roberto, ein gewerkschaftlich organisierter italienischer Arbeiter und Kommunist, als wichtiges Fazit der Bewegung vorweg: „[…] ihr habt uns Kampfformen vorgemacht, die wir schon fast vergessen hatten, ihr könnt uns helfen, Flugblätter zu schreiben, die ohne eure Hilfe nicht zustande kämen. Aber“ – so resümiert Roberto nüchtern – „wie lange werdet ihr dabei bleiben? […] Ihr habt nicht die gleichen Probleme wie wir, weil ihr nicht dieselbe Arbeit machen müßt wie wir. […] Ihr gefallt mir. Aber ihr verbergt irgendwas.“26 Und in Borns erdabgewandter Seite prophezeit ein Arbeiter, der „bei Siemens im Akkord“ (ESG, S. 106) tätig ist „Eure ganzen linken Kopfprobleme landen auch auf dem Kehrichthaufen“ (ESG, S. 106). Paul Konrad Kurz legt die Konsequenzen dar:
Die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Utopie, zwischen persönlicher Unfähigkeit und moralischem Anspruch erzwang Agitation. Die gescheiterte Agitation und die nachfolgende Selbsterkenntnis zeitigte Frustration.27
Und im weiteren Verlauf der Bewegung geriet das subjektive Moment immer stärker ins Hintertreffen: Später muß der seinerzeit engagierte Peter Schneider einräumen, daß „jene trotzige, in Gesetzesform gekleidete Hoffnung, die ich in meinem Aufsatz [gemeint ist „Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution“,28 d. V.] artikulierte, mir in meinen Nächten um die Ohren geschlagen [wurde].“29 Peter Schneider bezweifelt schließlich, daß sich die Bedürfnisse und Utopien, die die Revolte antrieb, in den jeweiligen Begriffen adäquat ausgedrückt hätten.30 In Lenz heißt es:
Die Gruppe habe sich die Aufgabe gestellt, diesmal gemeinsam zu verreisen, damit die privaten Beziehungen mit den politischen Schritt hielten. „Aufgabe, Aufgabe, habt ihr denn auch Lust dazu?“, fragte Lenz31
Durch die provokante Figur Lenz artikuliert sich in großem Maße die Erkenntnis Schneiders, daß „das Gruppendenken und die Gruppenwahrnehmung sich schrittweise an die Stelle der Wahrnehmung jedes einzelnen Mitglieds setzte, bis zu dem Punkt, da der einzelne einer eigenen Wahrnehmung nicht mehr fähig war. Die Unterwerfung verlor mehr und mehr den Charakter eines bewußten Entschlusses, und schließlich wurde nur noch die durch die Gruppe definierte Realität wahrgenommen“.32 So formuliert Buselmeier, was auch Schneider in ähnlicher Weise offenbarte:
Als ich nach Jahren ausschließlich politischer und theoretischer Anstrengung 1974/75 wieder anfing, Gedichte zu schreiben, so tat ich dies, weil sich meine Wahrnehmungen, Erinnerungen und Wünsche, das, was man den ,subjektiven Faktor‘ nennt, nicht länger ausblenden ließ.33
Die spontane Artikulation einer aufbegehrenden Subjektivität war also auslösender Impuls und Fundament der Studentenbewegung, deren politisierte Laufrichtung Born jedoch zu keinem Augenblick praktisch nachvollzog, gleichwohl adaptierten Born und andere Subjektive die theoretischen Implikationen der Kritischen Theorie. So resümiert Lampe für Rolf Dieter Brinkmann:
Bestimmte kulturkritische Ansätze, wie sie in der Form bestimmter Schriften der Kritischen Theorie für die Studentenbewegung von tragender Bedeutung waren, sind auch in Brinkmanns Lyrik erkennbar…34
Kammermeier kommt zu dem Ergebnis, „daß wesentliche Bestimmungen dieses Begriffs [der ,neuen Sensibilität‘, d. V.], bei Marcuse noch auf eine spezielle Form politischen Handelns bezogen, in das Selbstverständnis vieler Lyriker der Neuen Subjektivität eingehen.“35 Allen Theorien und Theoriefragmenten, die in der Frühphase der Protestbewegung rezipiert und wirksam wurden, ist gemeinsam, „daß in ihnen fast ausschließlich Werte wie Entfaltung von Subjektivität, Aufhebung von Selbstentfremdung, Entwicklung von Bewußtsein, Emanzipation der Sinnlichkeit, Autonomie und Authentizität Bedeutung hatten.“36 Folgt man der Kritischen Theorie, so „ist das Beharren auf dem Subjektiven in dem Maße als gesellschaftlich und politisch notwendiger Schritt zu werten, als Objektivität ineins fällt mit technischer Rationalität und der bewußtlosen Einwilligung des Individuums in solche Rationalität“37 Letztlich eröffnet die Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung, „daß der Anspruch auf Subjektivität kein Randphänomen und kein als Ausdruck der ,Tendenzwende‘ zu beurteilendes Zerfallsprodukt darstellt, sondern von zentraler und permanenter Bedeutung ist.“38 Und die Ansicht, „daß Literatur seit der Hochphase der Studentenbewegung und Kulturrevolution für einige Jahre darniederlag, um sich etwa mit dem Jahr 1972 im Zeichen der Neuen Subjektivität wie ein Phönix aus der Asche wiederzuerheben, diese Ansicht ist, gerade weil sie sich zu sehr auf das öffentliche (veröffentlichte) Bewußtsein von damals verläßt, falsch. Die Literatur war nicht tot.“39 Vielmehr hallt die Kulturrevolution, „die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre so ungestüm auf die Auflösung der Literatur oder auf den operativen Einsatz der Literatur drängte“,40 in der Lyrik der Neuen Subjektiven nach:
So ist die Lyrik der Neuen Subjektivität zum einen der offensichtlichste Widerruf der einstigen kulturrevolutionären Bestrebungen; zum anderen werden aber auch Momente der Kulturrevolte beibehalten und gehen konstitutiv in das Selbstverständnis mancher Autoren ein. Zu denken ist hierbei besonders an wirkungsästhetische Momente wie Verständlichkeit oder Identifikationsmöglichkeit.41
Einerseits spiegelt sich die Übernahme zentraler theoretischer Figuren der Kritischen Theorie in Nicolas Borns literaturtheoretischen Äußerungen wider: „Realität sorgt dafür“, schreibt Born, „daß sich die immer schwächer werdenden Vorstellungen immer genauer mit dem decken, was sie liefern kann“ (WM, S. 51); andererseits, so bleibt hervorzuheben, ging Borns utopischer Subjektivismus zweifelsfrei nicht unmittelbar – und ebensowenig linear – aus der Abkehr von politischen Allgemeinbegriffen der Studentenbewegung hervor, stieß aber teilweise auf ein solcherart sozialisiertes Publikum, das – vom vielzitierten „Erfahrungshunger“42 getrieben und von Verlagshäusern versorgt – die Reanimation des intimen Ich einforderte. Rühmkorfs Einschätzung, derzufolge die „Geburtsstunde des neuen Ich-Gefühls mit dem Zerfall der Studentenbewegung“43 datiert, ist daher für Nicolas Born zurückzuweisen. Richtig hingegen ist die Einschätzung, daß das Gedicht für Born frühzeitig der Ort des Subjektiven war. Deutlich werde diese Tendenz bei Born, so Kammermeier, schon „zu einer Zeit, als die Neue Subjektivität längst noch kein ,Trend‘ war.“44 Als ebenso richtig erweist sich die Anschauung, daß sich Born bereits vor dem markanten Jahr 1968 einem subjektiven Realismus verschrieb, den er – wie noch aufzuzeigen sein wird – modifizierte und schließlich 1972 mit Vorlage des Bandes Das Auge des Entdeckers durch das utopische Sprechen in eine eigene Konzeption lyrischer Subjektivität überführte. Dabei legte Born seine realistische Wahrnehmung in den sechziger Jahren an, baute sie – nicht zuletzt auf dem Hintergrund der versagten gesellschaftlichen Utopien der Studentenbewegung – in den siebziger Jahren weiter aus.
Doch nicht erst um 1968 wird offenkundig, „daß das Gedicht im Kulturbetrieb des Westens längst seine auratische Unangreifbarkeit verloren hat“,45 bilanziert Korte in seiner Geschichte der deutschen Lyrik seit 1945. Bereits zuvor setzen Diskussionen über die Funktion von Literatur und ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität ein. Bezeichnenderweise stellt etwa Enzensberger nach seinem Gedichtband Blindenschrift46 die Publikation von Lyrik – nicht hingegen die Produktion, wie die Sammlung Gedichte 1955–197047 beweist – vorerst ein und widmet sich der Herausgabe des Kursbuchs, worin er den Diskurs um den vorgeblichen ,Tod der Literatur‘ zwar nicht anführt, aber doch in Gang setzt.48
Und auch ein anderer Tod, namentlich der von Celan, erbringt neben dem jähen Ende der euphorischen Studentenbewegung einen weiteren Einschnitt.49 Nachdem in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit die Rede war vom absoluten Gedicht, mithin von monologischer Lyrik, die sich dezidiert von gesellschaftlicher Wirklichkeit absetzt50 sowie später engagierte51 Lyrik hinzutrat, hat auf diesem Hintergrund die Lyrik der Neuen Subjektivität von Anfang an versucht, so schreibt Lamping, sich „gegen die drei wichtigsten Richtungen der modernen Gegenwartslyrik abzugrenzen. Gegen die Unverständlichkeit der hermetischen Lyrik stellt sie eine auf Symbole, Chiffren und Metaphern weitgehend verzichtende Einfachheit, Direktheit und Durchsichtigkeit der Rede; gegen die abstrakten Demonstrationen der Konkreten Lyrik die Konzentration auf sinnlich erfaßte Details realen Lebens; gegen das intellektuelle Pathos der politischen Lyrik die Beglaubigung durch alltägliche Erfahrungen.“52 In klarer Abgrenzung zu vorherrschenden Traditionen schreiben die wichtigen Wortführer der neuerlich subjektiven Lyrik Theobaldy und Zürcher:
Der Gestus des dunklen Dichters schliff sich zur modischen Pose ab, die verabsolutierte Metapher und die Chiffre als wichtigste formale Errungenschaften wurden zerschlissen. Ein esoterischer Code war verfügbar geworden, und je länger in ihm geschrieben wurde, desto fragwürdiger mußte seine Eignung werden, adäquater lyrischer Ausdruck von wirklichen geschichtlichen Erfahrungen zu bleiben.53
Das neue lyrische Paradigma des Subjektiven galt einer Reihe von Lyrikern als Befreiungsschlag gegen die überhöhte Ästhetisierung der absoluten lyrischen Rede, die – trotz ihres deutlichen Erfolgs beim Publikum – im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche zu stagnieren begann; es galt ebenso als ein Befreiungsschlag gegen die politische Lyrik, die sich seit Ende der fünfziger Jahre in ihrem aufklärerischen Anspruch dominant setzte und zudem maßgebliche literaturtheoretische Diskurse prägte. Höllerer setzte der überkommenen hermetischen Lyrik seine „Thesen zum langen Gedicht“54 dagegen, in denen er „Gedichte freierer Bewegung, größerer Aufnahmebereitschaft gegenüber der gesprochenen Sprache, geringerer Einengung durch festgelegtes poetisches Instrumentarium“55 einforderte. In Anlehnung an Höllerer wird in Borns erstem Gedichtband Marktlage die bundesrepublikanische Wirklichkeit „mit dem Vokabular des Alltags knapp und lakonisch auf Fakten reduziert.“56 Und gemäß der Leitlinien Höllerers erhebt das Ich in dem Gedicht „Licht an“ (G, S. 176) aus Das Auge des Entdecker den Anspruch:
und hier habe
ich Lust auf ganz lange Gefühle
und ganz lange
Zeilen.
Mit der Zuwendung zur Alltagssprache geht eine deutliche „Metaphernkritik“57 einher:
Das wenig metaphorische Gedicht nach der Metaphernkrise tendiert zu epischen Redeformen wie Bericht, Beschreibungen und Reflexion, zuweilen auch zur szenischen Darstellung.58
Herburger plakatiert für das offene Gedicht:
Wer Metaphern anfaßt, verbrennt sich die Finger.59
Höllerer prangert jene „starrgewordene Metaphorik“60 an, und für Born ist die Metapher, so der Autor Ende der sechziger Jahre, ein „Verstoß gegen die zeitgenössische Verabredung“ (WM, S. 130)61 Ist für Saalmann die „radikale Absage an die Metapher“ eine „Reaktion auf die politische und soziale Unbeweglichkeit“62 der ausgehenden sechziger Jahre, so erkennt Schuhmann hierin literarische Opposition zur „öffentliche[n] Metaphorisierung“ der Themen Auschwitz, Vietnam und Kapitalismus.63 Für Poch wird deutlich, daß mit dieser Haltung „nicht nur Literaturkritik geübt wird, sondern daß es auch um die eigene Selbstfindung als Lyriker im Sich-Abstoßen von überkommenem geht.“64 Erscheint sie Höllerer epigonal und kraftlos, so ist sie Born „ein unechtes und unglaubwürdiges Mittel der Sprachverschönerung“.65
Diese Tendenz zur direkten Vermittlung lyrischen Sprechens, durch die der Leser nicht dem freien Fall in sprachliche Assoziationen überlassen werden soll, greift Born in seinem Gedichtband Marktlage programmatisch auf, wenn er schreibt:
Weg von der alten Poetik, die nur noch Anleitung zum Poetisieren ist; weg vom Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern; weg vom Ausstattungsgedicht, von Dekor, Schminke und Parfüm. Die Gedichte sollen roh sein, jedenfalls nicht geglättet […]66
Allkemper sieht in Borns Verzicht auf Metapher und Symbol – insbesondere in dessen frühen Gedichten aus dem Band Marktlage – das poetische Verfahren, „einer lyrischen Verklärung der Wirklichkeit zu entgehen, um gegen deren zu oft mit hohem Pathos zugedeckte und Tiefsinn vortäuschende Leere konkret zu werden, Dinge und Tatbestände der Realität in ihrer unscheinbaren Alltäglichkeit ,roh‘ und ,nicht geglättet‘ vorzuführen, damit sie erkennbar werden.“67 Doch in Borns letzter Gedichtsammlung Keiner für sich, alle für niemand zeigt sich eine Rückbesinnung auf die bildhafte Darstellung, wenngleich Born im darin enthaltenen Gedicht „Stilles Leben“ (G, S. 207) sein Verhältnis zur Bildgestaltung kritisch aufarbeitet:
Vielleicht schreib ich mal was über die Traumwelt
der Millionenerben, die vollkommen ungegenständlich
arbeiten: sie schieben bloß Metaphern herum.
Aber eines Tages werden alle Bilder wahr […] (G, S. 208).
Poch versteht die Verse als „Gleichnis für eine nutzlose und irreale Lebensform. […] Die Metapher hat für Born die Aura eines abgeschmackten, überflüssigen Ästhetizismus.“68 Dennoch weist Poch für die späten Gedichte Borns eine „schwindende Berührungsangst vor metaphorischen Äußerungen“69 nach.
Sowohl Brinkmann als auch Born sind in ihrem lyrischen Verfahren der „Attraktion des Banalen“ (WM, S. 115f.) gefolgt und nachhaltig von den Amerikanern Charles Olson, William Carlos Williams, Ron Padgett, Kenneth Koch, Charles Bukowski sowie Frank O’Hara70 und anderen beeinflußt worden. Die Aufkündigung tradierter Ästhetik in der Lyrik sieht Born insbesondere bei diesen Amerikanern verwirklicht doch bleibt bei Born die radikale Zuwendung zur amerikanischen Szene aus, wie sie hingegen Brinkmann vollzieht. So lobt Born etwa die Gedichte Kenneth Kochs da sie „gegen die offizielle poetische Rechtschreibung verstoßen“ (WM, S. 143). Nicolas Born, der die Literatur zeitgenössischer amerikanischer Autoren vielfach rezensiert71 und deren Einflüsse auf das eigene Schreiben nicht verschwiegen hat,72 bescheinigt seinen amerikanischen Vorbildern, sie machten „Literatur, die kriminell ist und die sich durch permanente Provokation der reinen literarischen Haut entledigt und wenigstens in ihren besten Momenten die klassische Leben/Kunst-Trennung aufhebt“ (WM, S. 44 ). In geradezu programmatischer Weise bekennt Bernward Vesper in seinem Romanessay:
[…] es ist Zeit, zu zerstören, was man mir als Schönheit andrehte, es ist Zeit, die Schönheit der Zerstörung zu begreifen […]73
Diese radikale Haltung nimmt ebenso Brinkmann ein, der – als ein mit Sicherheit vehementer Vertreter der Alltagslyrik – proklamiert:
Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen!74
Dem vielzitierten Satz Rolf Dieter Brinkmanns fügt Born hinzu:
Dies war ein Schritt, den Brinkmann nicht als erster versuchte, aber so kompromißlos und radikal hatte ihn noch keiner wirklich getan. (WM, S. 117)
Zum Anspruch der Kunstlosigkeit überschreibt Wellershoff einen Essay über Brinkmann mit „Destruktion als Befreiungsversuch“.75
Brinkmann beanspruchte die Aufkündigung jeder Differenz zwischen empirischem und fiktionalem Ich, den – wie Born über Brinkmann anmerkt – bewußten „Verzicht auf alle kanonisierten Errungenschaften der Poesie“ (WM, S. 122f.) sowie die letztliche Herstellung einer „Kongruenz von Leben und Kunst“76 Im gleichen Atemzug bekennt sich Brinkmann zu seiner Theorielosigkeit:
Hätte ich eine Theorie anzubieten, ein Weltbild, eine Ansicht, eine Ideologie, wäre mir zu schreiben leichter gefallen. So aber ist nichts außer dem einen Augenblick, an dem ich schrieb, da gewesen.77
Schlösser kommt zu der Einschätzung: „Die amerikanischen Schreiber, die keine Hemmungen vor Obszönität oder Trivialität hatten, waren Brinkmanns Vorbilder nicht für die Kunst, sondern für den Versuch eines interessanten, lockeren, freien Lebens“,78 denn „wichtig ist nur noch die Rolle, die Kunst im Leben ihrer Benutzer spielt“.79 Gelegentlich stutzt Brinkmann die eingefangenen Momente auf knappe Filtrate einer Bedeutung – so etwa im Gedicht „Photographie“:80
Mitten
auf der Straße
die Frau
in dem
blauen
Mantel.
Brinkmann radikalisiert seinen Realismus soweit, daß ihm „eine Abschaffung der Kunst durch die sinnlichen Wahrnehmungen des einzelnen möglich erschien“.81 Der Lyriker Brinkmann benötigt hierzu – in bewußter Abkehr vom autonomen Artefakt – „kein ein anderes Material als das, was allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht.“82 Gerade wegen solcher Bekenntnisse beschließt Born seinen Nachruf anerkennend mit den Worten:
Rolf Dieter Brinkmann ist ein Schriftsteller geblieben, das hat er an sich selbst nicht verhindern können. (WM, S. 67)
An anderer Stelle notiert Born zur Lyrik Brinkmanns:
Daß diese neue Art von Gedichten [gemeint ist das als kunstlos betonte Verfahren der Reduktion bei Brinkmann, d. V.] dennoch beim Lesen wiederum die alte Faszination hervorrufen und dennoch zurückfallen in den Kanon ästhetischer Ausdrucksmöglichkeiten, daß sie gerade durch ihren radikalen Schritt aus der Tradition heraus solche geradezu stiften, das bleibt der Widerspruch, der in ihnen mitschwingt, wie es eine Tatsache ist, daß sie nach wie vor aus Sprache bestehen. (WM, S. 117)
Die Gedichte Brinkmanns sind, so Born, „auf ein Beinahe-Nichts zusammengestaucht“ (WM, S. 117). Doch „der Alltag ist kein Ziel Brinkmannscher Gedichte, sondern ihr Material. Darin unterscheidet er sich von jenen Lyrikern der siebziger Jahre, deren Texte im zufälligen Schnappschuß einen begrenzten Wirklichkeitsausschnitt wie auf einem Foto festhalten wollen.“83 Das Bild war für Brinkmann „das Element, das geeignet schien, mit der deutschen Lyriktradition, in der unmittelbare Realitätswahrnehmung durch sinnorientierte, rational-synthetische Reflexions- und Erkenntniskategorien verhindert worden sei, zu brechen.“84 Bei Brinkmann werde die eingefangene Realität „als Oberfläche abgebildet“.85 Trotz aller Distanz zur Tradition, zu Formen und Gattungsgrenzen äußert Brinkmann im Gedichtband Die Piloten in seiner Notiz:
Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick deutlich sich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten.86
In Keiner weiß mehr schreibt Brinkmann:
Fotos herausgenommen aus dem Kopf und als Vorstellungen an die Wände projiziert, von den Zimmerwänden zurückgefedert in den Kopf als ein feststehendes Bildraster für die Außenwelt, ein festes System von Bezugspunkten […].87
Das von der amerikanischen Literaturszene beeinflußte Verfahren photographischer Einstellungen trägt – so betont Späth – „dem Faktum Rechnung, daß Umwelt nicht mehr als geschlossene erfahrbar ist, in der ihre einzelnen Elemente auf ein Ganzes hin angeordnet sind, von dem aus sie ihren Sinn bezögen, sondern vielmehr eine Vielzahl von unabhängig voneinander existierenden Reizungen und Sinneseindrücken eine momentane, ausschnitthafte und wandelbare Realität konstituiert.“88 Jappe erkennt in dem Verfahren der Momentaufnahme, des snap-shot, ein „hier und jetzt gewonnenes und schon wieder sich verflüchtigendes Zutrauen“.89 In der Wahl des Gegenstandes zeige sich sodann die „gesellschaftliche Perspektive, aus der die Wirklichkeit wahrgenommen und aufgenommen wird“ sowie die „je bestimmte Betroffenheit des Subjekts“,90 die auch in Borns erdabgewandter Seite zum Ausdruck kommt: „Manchmal hielt ich beim Lesen die Luft an“, formuliert der Ich-Erzähler, „um dem Geschehen besser folgen zu können“ (ESG, S. 238). Programmatisch bekennt sich der Protagonist aus der erdabgewandten Seite zu einer Literarisierung alltäglicher Wahrnehmungsreflexe:
Es war so kleinlich und lächerlich, etwas Selbstverständliches zu einer Wahrnehmung zu machen, das, was nur eine kurze, schnell vergeßbare Aufmerksamkeit beanspruchte, dick hervorzuheben. […] Andererseits, könnte es je ein Bild geben ohne die Anstrengung, es vorher wahrzunehmen? (ESG, S. 222)
In der Fälschung hingegen überführt Born die photographische Darstellungstechnik nahezu ins Makabere:
Es war ein Foto, schon bevor Hoffmann die Kamera hob. (F, S. 56)
Rolf Dieter Brinkmann stellt in seinem Gedicht „Politisches Gedicht 13. Nov. 74, BRD“ diese oberflächliche Sehweise zur Disposition:
Faktenblindheit
verrottetes
alltägliches Leben,
(…).91
Born legt seinen Band Marktlage im Jahre 1967 und damit zu einer Zeit vor, „da die einen den Tod der Literatur ausrufen, die andern die Gleichung Leben = Kunst postulieren“,92 zugleich bekennt sich Born zur Überwindung der traditionell überhöhten Ästhetisierung. Noch in den Nachbemerkungen zu seinem Gedichtband Das Auge des Entdeckers postuliert Born: „Wir beseitigen den Vorwand zwischen Leben und Kunst. Wir wollen nicht, daß unten die Maschinen laufen und oben die Filme“ (WM, S. 90), und er weist in dem Gedicht „Drei Wünsche“ (G, S. 100) aus:
Ich wünsche mir ein Buch in das ihr alle vorn hineingehen
und hinten herauskommen könnt.
Diese Gegenüberstellungen Borns sprechen von der nachhaltig geforderten Durchdringung des ästhetischen Moments mit Wirklichkeitspartikeln und vice versa. Bei Borns Gedicht „Fensterputzen“ (G, S. 22) handelt es sich – darin dem amerikanischen Verfahren des projektiven Verses ähnlich – um einen „Kult der Oberfläche“,93 der durch das Prinzip der minutiösen, zugleich kommentarlosen Bestandsaufnahme des Alltags mit Bedeutung unterlegt wird. Doch eine wesentliche Differenz beschreibt Krechel:
Bei Brinkmann drängt die Konkretion ins Mythische; bei Born bleibt sie beiläufig.94
Die von der Pop-Literatur akzentuierte Sicht auf die Welt des Konsums und der Werbung ging anfangs vom bewußt subjektiv geleiteten Interesse und von offensiver Teilhabe an Gesellschaft und Massenkultur aus. Dieses Lebensgefühl spiegelte sich seinerzeit in Musik und Literatur wider.95 „Realismus und Phantastik, Affirmation und Kritik sind nicht mehr einander ausschließende Gegensätze“, schreibt Hartung und führt Born als postmodernen Lyriker ein.96 Born hingegen spricht von den „tautologischen Tricks der Pop-Ära“ (WM, S. 119). Festzuhalten bleibt in der Tat, daß die Annäherung von Gegensätzlichem nicht deren Widersprüche aufhebt:
Wer die Kulturindustrie kritisiert, muß […] an ihr zugleich teilhaben und nicht teilhaben…97
Der ,Underground‘ wird uns überdies auch deshalb erhalten bleiben, weil die Kulturindustrie viel Geld in diesen Mythos investiert hat. ,Pop-Subkultur‘ ist heute ein Industrieprojekt. Die Underground-Mainstream-Dichotomie wird von der Kulturindustrie als unverzichtbares Identifikationsangebot gesponsort. (Günther Jacob: „Kunst, die siegen hilft! Über die Akademisierung des Pop-Diskurses: Kritische Betrachtungen zwischen high & low culture“. In: Neue Zeitschrift für Musik. Heft 3/4 [1997], S. 19).
Allein, die Pop- Kultur stellt sich als „eine Art unentfremdeter Entfaltungsraum dar und wird bisweilen zu einem utopischen Ort stilisiert“,98 schreibt Korte für die Lyrik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Als sicher dürfte indes gelten, daß „die Rezeption der Pop-Art aufgrund des rebellischen, antitraditionellen Zugs dieser Richtung von der allgemeinen Aufbruchsstimmung um die Mitte der 60er Jahre begünstigt wurde. […] Aus anderen Gründen, als Enzensberger und Michel sie hatten, wurde das Ende der bürgerlichen Kunst und Literatur angestrebt; Kunst und Leben sollten ineinander gehen…99
Als erwiesenermaßen kontraproduktiv für die Umsetzung subjektiver Belange erwies sich die Idee einer pragmatischen Politisierung der Lyrik: die Idee der Agitproplyrik. In der Phase der Studentenbewegung kursierten rasch diese tagespolitisch grundierten Gedichte, die einer unmittelbaren Verwertung auf Flugblättern und in Sprechchören auf Demonstrationen zugeführt wurden. Kennzeichnend für diese lyrische Spielart ist die „Unterordnung ästhetischer Qualitäten unter Wirkungsintentionen“.100 Die Gedichte ermöglichten sehr wohl, tagesaktuelle Geschehnisse spontan in eine Kunstform zu transformieren, dabei verschaffte sich jedoch das lyrische Subjekt allenfalls als politisch treibende Kraft Gehör, denn tatsächlich „findet in der Agitprop-Lyrik keine subjektive Wirklichkeitsentfaltung statt. Das Individuum, taucht es überhaupt in der Darstellung auf, wird als ein politisch bewußtes idealisiert.“101 Hubert umreißt den subjektiven Gehalt dieser Lyrik wie folgt:
Die politischen Agitprop-Gedichte sparten das Private als Thema aus und sprachen das Subjekt als theoretisches, rationales, kaum (d.h. nur unterschwellig) als sinnliches Wesen an.102
Die Artikulation gesellschaftstheoretischer Zielvorgaben und die Forderung nach einer Beseitigung ihrer realen Widerstände konfigurierte eine als Solidarität deklarierte Bewußtseinslage, bei der sich die objektiven von den ehemals subjektiven Motiven zusehends ablösten, was zum Ergebnis hatte, daß die literarische Umsetzung einer Subjektivität mittels Agitprop nicht gelang. Dennoch hat Born, der seine im Band Wo mir der Kopf steht enthaltenen „Berliner Para-phrasen“103 in den späteren Sammelband nicht mehr aufnimmt,104 vereinzelte lyrische Versuche unternommen, in das politische Tagesgeschäft per Gedicht einzugreifen.105 Auffällig oft wurden vereinzelte ambitiöse Gedichte Borns in Anthologien abgedruckt,106 so daß Born mitunter als in der Hauptsache politisch agitierender Lyriker rezipiert wurde:
Borns Gedicht „Berliner Para-phrasen“ zirkuliert zunächst auf Flugblättern und erlangt dann eine Berühmtheit, die Born den unerwünschten Ruf eines politisch engagierten Autors einbringt.107
Zum Entstehungszusammenhang des Gedichts notiert Born:
Etwa im Juli 1967, während des Höhepunkts der Pressekampagnen Springers gegen Studenten. Ich habe damals die markigsten und markantesten Schlagzeilen der Springerpresse gesammelt und sie in tendenziöser Weise an den Absender zurückgeschickt, als Montage, aber auch als Beispiel defensiver Manipulation.108
Von derlei literarischen Versuchen wie etwa den „Berliner Para-phrasen“, die nach Hartung „undialektisch angelegt, unaktuell geworden sind“,109 nimmt Born später Abstand:
Ich habe tausend Resolutionen, Aufrufe, offene Briefe etc. mitunterschrieben, ein paar Mal war’s nicht nutzlos. Habe gelegentlich Agitproplyrik gemacht, obwohl ich sie für nutzlos hielt. (WM, S. 61)
Er distanziert sich vom operativen Gestus, jener „Freund-Feind-Poesie“ (WM, S. 136) und betont, die revolutionären Puristen einer solchen Lyrik seien „von derselben Stange wie jene, die den Raum der Imagination abgetrennt haben von der materiellen menschlichen Existenz“ (WM, S. 51). Nach Born hat „ein Teil der Literatur (ich denke an gefriergetrocknete Realismen, die auf Halde liegen, bis sie zur Anwendung kommen, an Agitprop und an einige besonders sklavische Dokumentliteraturen) […] sich von kritischen Außensteuerern auf Funktion reduzieren lassen“ (WM, S. 56). Statt Autor zu sein, „der die Wirklichkeit direkt anzapft, bis der schauerlich-schöne O-Ton herauskommt“ (WM, S. 88), sieht Born sich vielmehr als Autor einer „Literatur, die doch gerade das Medium zwischen Imagination und Realität sein sollte“ (WM, S. 53 ). So bleibt nach Born ebenso die zeitgenössische dokumentaristische Verfahrensweise, „die sowohl das ist, was ist, als auch gleichzeitig die Kritik daran“ (WM, S. 50), den qualitativen Mustern der reflektierten Wirklichkeit verhaftet.„Ich habe nie politisch sein wollen, und noch viel weniger wollte ich politisch sein müssen“, schreibt Born 1977.
Politisch sein wollen, gar parteipolitisch, das bedeutet für mich […], dem immanenten Vernunftbegriff des Machbaren und der angeblichen Sachzwänge zu verfallen, dem Realitätsprinzip. (WM, S. 77)
Wird nach Borns Dafürhalten „an die Literatur die Forderung nach Nützlichkeit und Effektivität gestellt, so unterwirft man sie gerade den Kriterien, die außerliterarisch gelten.“110 Die denkbare utopische Funktionsweise von Literatur führt Allkemper an:
[…] durch die alternativ entworfenen Möglichkeiten, und nur durch sie, soll die Realität ihrerseits als Möglichkeit erkannt werden, quasi historisch verflüssigt werden, denn nur, wenn die vorgegebene Realität als kontingente historische Möglichkeit durchschaut ist, kann sie um ihren ,Alleinvertretungsanspruch‘ gebracht und damit verändert werden. Dadurch wird zugleich noch einmal betont, daß die forcierte Restauration der transzendierenden utopischen Möglichkeiten des poetischen Scheins unmittelbar zwar keine kritische Rücksicht auf die vorhandene Realität nimmt, aber auch nicht die Errichtung eines wie immer zu fassenden autarken transzendent-poetischen Reiches bedeutet […].111
Daß Born seiner Lyrik die Funktion eines Widerparts zum Verblendungszusammenhang zubilligt, macht seine literaturtheoretische Argumentation deutlich, die er der vermeintlich totgesagten Literatur nach dem Gusto Enzensbergers und Michels112 entgegnet. Kammermeier läßt denn auch jedwede Überlegung dahingestellt, „ob in den Gedichten der 70er Jahre noch die ,Zuversicht auf die Veränderbarkeit der Lebensumstände‘ zugrunde liegt oder nicht – jedenfalls zielen sie nicht mehr auf den unmittelbar-wirksamkeitsheischenden ,operativen Eingriff‘ ab.“113 In einer Rezension aus dem Jahre 1974 äußert sich Born deutlich gegen die vielfach eingeklagte, wenn auch – je nach Spielart – unterschiedlich ausgerichtete Nützlichkeit von Literatur:
Der vulgär-marxistische Dogmatismus hat zu Haltungsschäden geführt […]. Dieser Dogmatismus gestattet höchstens noch eine […] Jeder-Schuß-ein-Treffer-Poesie, idealistisch im Gedanken, knackig im Wort. Alles andere ist ihm elitäre Chiffre, Onanie usw. Ich weiß nicht mehr, wer die kluge Bemerkung gemacht hat, Gedichteschreiben sei heute ein Vorschuß auf die Zukunft. Jedenfalls sind sie nicht Gebrauchsgegenstände geworden, wie es in den sechziger Jahren ein paar Poesielaboranten gefordert haben.114
Noch zu Anfang der siebziger Jahre weist Born sich als politischer Zeitgenosse aus:
Ich bin Utopist, wünsche auf jeden Fall das Beste. Mit meinen marxistischen Freunden (ich bin keiner) bekämpfe ich Industrie- und Kapitalkonzerne (WM, S. 61).115 Aber seine ablehnende Haltung gegenüber einer Überhöhung des revolutionären Subjekts, dessen Bedürfnislage letztlich nur defizitär in den gesellschaftlichen Entwurf der Studentenbewegung eingeht, zeigt sich deutlich in den Reflexionen des Ich-Erzählers aus der erdabgewandten Seite, wenn dieser inmitten der Schah-Demonstration erkennt:
Es tat nicht weh, und ich sah da auch nichts: Aber ich merkte, daß hier immer nur ein einzelner erstaunt war, irgendwie getroffen zu werden, vielleicht auch darüber, daß es ihn als einzelnen immer noch gab. (ESG, S. 49)
Politisch ambitionierte Lyrik erscheint letztlich auf dem Hintergrund des subjektiven Entwurfs einer Utopie – wie ihn Born anstrengte – als Engführung der Literatur, die damit unter ihren Möglichkeiten bleibt und zudem auf eindeutige Resultate beim Rezipienten aus ist.
Dennoch summiert Kammermeier für die Lyrik der siebziger Jahre:
Durch ihre Hinwendung zu verifizierbaren Tatsachen einerseits, durch ihren gesellschaftsanalytischen Anspruch […] andererseits beeinflußte die Dokumentar- und Agitpropliteratur sicher auch die Lyrik der Neuen Subjektivität.116
Die Neue Subjektivität, der Born spätestens mit Vorlage seines dritten Gedichtbands Das Auge des Entdeckers (1972) zuzurechnen ist, repräsentiert, mit Hartung gesprochen, „ein neues Ich, das durch die Erfahrung der Revolte, durch das Erlebnis der Kollektivität hindurch gegangen war“.117 Zum Ende dieser Revolte, so heißt es bei Fröhlich und Lennartz, seien sich die Autoren „der Kluft zwischen Realität und Darstellung bewußt“118 und böten daher „illusionslose politische Lyrik […], ohne Agitprop-Dichter zu sein.“119 Und Kurz definiert jene Subjektivität wie folgt:
Obwohl wir in einer explosiv politischen Zeit leben, resultieren daraus keine großen politischen Gedichte. Man hat in den letzten Jahren viel von der ,Neuen Subjektivität‘, von der ,Neuen Innerlichkeit‘, von der ,Neuen Privatheit‘ im Gedicht gesprochen. Mir scheint, man müßte ganz einfach von ,persönlichen Gedichten‘ sprechen. Das sind weithin unideologische, unagitatorische Gedichte, in denen ein Ich nichts anderes sucht als eine wahre Selbsterfahrung, eine eigene Sprache, eine wahre Beziehung zur Mitwelt, schließlich so etwas wie den Atemraum Freiheit und in diesem Atemraum die eigene – von den öffentlichen Mechanismen verweigerte – Gestalt. In dieser Sicht sind sehr viele Gedichte heute Notwehr, Abwehr des öffentlichen und anonymen Drucks, Versuche der Selbstfindung, der geformten persönlichen Gegenwart.120
Gnüg bilanziert für die lyrischen Tendenzen der siebziger Jahre:
Vergessen oder verdrängt haben die Schriftsteller [der Neuen Subjektivität, d. V.] ihre politischen Erfahrungen also nicht, aber stärker als zuvor bringen sie jetzt sich selbst als erlebendes wie als wahrnehmendes Subjekt mit ein, Gedichte als in Sprache gewandelte Selbsterfahrung – Selbsterfahrung als Welterfahrung.121
Jörg Eggerts, aus Jörg Eggerts: Langsam kehrten die Farben zurück. Zur Subjektivität im Romanwerk, im lyrischen und literaturtheoretischen Werk Nicolas Borns, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002
GEDENKBLATT FÜR NICOLAS B.
Die Telefonmünzanlage spuckte die kleinen Stücke
aaaaazurück in meine Hand, eins
Nach dem anderen. Du standest neben mir
Mit diesem wollüstigen Lächeln. Das kenn ich,
aaaaariefst du, das kenn ich gut:
Der ewige Schaden an der Seele der Automaten
(Und Menschen). Komm mit in diesen Porno-Shop.
WIR KÖNNEN UNS ETWAS WÜNSCHEN. Das kann ich
Nicht, das kenn ich nicht, das hab ich nie gelernt,
aaaaaklagte meine äußere Stimme. So trieben wir
Weiter in diesem Farbfilm. UND DIE GESPENSTER
DER KINOS zeigten ihre hygienischen Rachen.
Weißt du einen andren Ort, wollte ich wissen,
aaaaadoch du sahst so verwechselt aus.
(Ist dir nicht wohl, mein Freund. Du hast
So bleiches Blut!) Es ist nichts. Nichts ist,
Sagtest du. Komm, laß uns weiterlaufen.
Uwe Lummitsch
SIE SIND UNS DRAUF-
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagekommen, Nicolas,
sie haben uns die Todesarten ausgespannt,
sind in den schon bewehrten Arm gefallen.
Na wer schon! Jene Könige der Unterwelt-
Labors, die Mäuseregenten, Geschwürezüchter.
– Sind Sie so wissenschaftsfeindlich ein-
gestellt? – Ich stehe auf Sand
und mache in Luft wie du: heikles
Gewerbe, nichts für den grünen Klee.
Ach wär ich das Bäuerlein, ginge
der Furche nach… Tausendjährig
idyllischer Dreck. Ich flieg den poetischen
Düngerbomber. – Was meinen Sie nur? –
Sie sind uns draufgekommen, Nicolas.
Wie listig von dir, jetzt zu schweigen.
Wie listig, Gedichte zu haben.
für Nicolas Born, 1988
Uwe Kolbe
FÜR NICOLAS BORN
Freunde tragen
schwer am Wohlbehagen ihrer
Freunde
die zurückgezogen wie Piloten
lange aufsteigend
winken von einer Hochebene
mit bloßen Händen
Und in Gesellschaft von Wildhütern
und Teerkochern
ihren Beruf überleben
Hannelies Taschau
Ausstellung Unter Tage vom 7.10. bis 18.11.2023 in der Galerie Amalienpark und im Kabinett ZeitMaschine. Eine Erinnerung an Nicolas Born, Lyriker
Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017
Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017
Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017
Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018
Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980
Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
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