Norbert Hummelt: Zu Georg Trakls Gedicht „Ein Winterabend“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „Ein Winterabend“. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Ein Winterabend

2. Fassung

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.

 

Die Schwelle

Unter den Gedichten Georg Trakls, mit denen ich seit langem stillen Umgang pflege, ist mir dieses eines der liebsten. Es lange zu kennen heißt nicht, es ganz erkannt zu haben. So wie das Gedicht eine Einladung ausspricht, der nicht eilig entsprochen werden kann, weil sie für den, der spricht, zögerndes Nähertreten auf dunklen Pfaden nötig macht, ist auch das Schreiben darüber kaum mehr als ein Schritt, der an jene Schwelle führt, die der Schmerz versteinerte – bevor etwas erglänzen kann.Vor 25 Jahren fühlte ich mich allerdings frei genug, einen Vers aus diesem Gedicht herauszulösen, der mir gefiel, und damit zu machen, was ich wollte. In meinem Prosagedicht „winterreise“ ist dieser Vers, der erste aus Trakls Gedicht, in eine Passage eingelassen, die sich folgendermaßen liest: 

wo find ich nun einen, der mir sprache leiht, es ist nichts zu hören, und wenn der schnee ans fenster fällt, was dann, was dann, was geschieht dann mit meinen blühenden wörtern, den rosenknospen japanischen kirschen, und wo nehm ich wenn es winter ist den hellen schein der straße? 

So fern mir diese Zeilen heute erscheinen, so sprechen sie doch das bleibende Problem des Schreibens an, woher eigentlich das Gedicht kommt. Ihm muß ein Hören vorausgehen und ein Sehen, erst dann kommen die Worte zum Zug. Aber dieses Hören und Sehen entzieht sich dem Zugriff, es muß sich ereignen wie der lautlose Schneefall, der nicht bereitet werden kann. Sorgloser als heute mochte ich mich seinerzeit aus dem Fundus des schon Gedichteten bedienen, um die Wartezeit auf den Vers zu verkürzen, und so trieb ich in einer einzigen Satzperiode den Eingangsvers Trakls dem noch berühmteren Hölderlin-Vers aus „Hälfte des Lebens“ zu; unbekümmert darüber, daß für Trakls Gedicht nicht diese, sondern eine andere Hölderlin-Entsprechung wesentlich ist, nämlich die zu der großen Elegie „Brod und Wein“.
Gänzlich unbekannt war mir auch, daß es ausgerechnet das Gedicht „Ein Winterabend“ ist, an dem Martin Heidegger in einem Vortrag von Oktober 1950 seine Wesensbestimmung der Sprache ausführt, die da lautet: Die Sprache spricht als das Geläut der Stille. Das Gedicht verbildlicht diesen Satz im Geläut der Abendglocken, die mit dem Schneefall eine leise eindringliche Öffnung darstellen. Es geht von drinnen (wenn man sich den, der den Schnee und die Glocken am Fenster wahrnimmt, in einer warmen Stube vorstellen möchte) nach draußen und wieder nach drinnen, an eine Schwelle, von der nicht gesagt wird, daß sie überschritten wird, doch hinter ihr tut sich ein heller Raum auf, in den man schauen kann. Wer geht diesen Gang und warum? Heidegger interessiert das nicht. Seine folgenreiche These, es sei die Sprache, die da spricht, nicht der Mensch oder gar ein bestimmter namens Georg, dem dies oder jenes widerfahren ist, kann hier weder nachgewiesen noch widerlegt werden. Mich hat nur immer schon interessiert, was mir die Sprache über den Menschen sagt, also im Zweifel über mich, und so komme ich bei der Lektüre dieses Gedichts nicht umhin, mir aus den Worten eine Welt zu formen, in der ich mich versuchsweise bewegen kann.
Deshalb bin ich auch wohl schon vor 25 Jahren über den eigentlich fehlenden Anschluß zwischen den ersten beiden Versen und den beiden folgenden gestolpert. Aus Gründen der rhythmischen Glättung schreibt Trakl ja nicht: „Wenn der Schnee ans Fenster fällt, / Lang die Abendglocke läutet, / dann ist vielen der Tisch bestellt“ usw. Er führt den Konsekutivsatz nicht aus, sondern läßt das Wörtchen Wenn wie eine lose Fahne im Winde klirren, so daß mein einhakendes was dann, was dann und die ihm folgende Hölderlin-Assoziation vielleicht doch nicht bloßer Launenhaftigkeit entsprangen. Das Gedicht hebt mit der dritten Zeile syntaktisch unvermittelt wieder an und das macht die Verbindungen der Bilder brüchig. Das Isolierte der einzelnen Verse gehört zur Methode Trakls; innerhalb seines poetischen Systems sind sie bis zu einem gewissen Grad frei austauschbar. Die Brüchigkeit der Bezüge hebt uns als Leser aber nicht darüber hinaus, nach dem Fehlenden zu suchen, sondern fordert dazu auf. Die formale Geschlossenheit der Trakl-Gedichte ist ja doch der Hinweis auf ein je Ganzes; sein Sinn für das Schwebende der Bedeutung, für die Offenheit, in der die Schönheit gründet, führte den Dichter allerdings dahin, zu stark festlegende Bilder auszutauschen.
Das ist auch bei der Arbeit an „Ein Winterabend“ geschehen. In der ersten Fassung lauten die letzten sechs Verse völlig anders, nämlich so:

Seine Wunde voller Gnaden
Pflegt der Liebe sanfte Kraft.

O! des Menschen bloße Pein.
Der mit Engeln stumm gerungen,
Langt von heiligem Schmerz bezwungen
Still nach Gottes Brot und Wein.

In dieser ursprünglichen Fassung ist nun die Lesart gar nicht abweisbar, daß das Tor, an das der Wanderer auf dunklen Pfaden gelangt ist, eine Kirchenpforte ist. Er bringt einen Schmerz mit, der so ist, daß er nur im Altarssakrament, im gewandelten Brot und Wein, Linderung erhoffen kann. Psychologische Lesart und biographische Zuordnung bieten sich deutlich an; Reue über eine tiefe Schuld treibt jemanden zum Besuch der Abendmesse, womöglich sogar der Christmette. Die schon im Umfeld des Brenner gestellte Frage, inwiefern Trakls Gedichte christlich gelesen werden müssen, kann hier nicht diskutiert werden; für die Deutung dieses einen ist jedoch der Gang der Überarbeitung bemerkenswert, der Eindeutigkeit zurücknimmt, ohne die Lesart ganz zu verstellen.
Daß der Tisch bereitet ist, ist ja schon in der unveränderten ersten Strophe eine liturgische Wendung – eben als Tisch des Herrn gedacht. Die alte Fassung der Einsetzungsworte (die damals freilich noch auf Latein gelesen wurden) lautet: „… für euch und für viele vergossen“ (mittlerweile heißt es: „für euch und für alle“). Die Kirche (als Institution) als Haus zu denken ist ebenfalls ein einschlägiges Bild. Mag man so weit gehen, den „Baum der Gnaden“ in der zweiten Strophe als Kreuz Christi zu denken – oder, da es von diesem Baum heißt, daß er „golden blüht“, gar als Weihnachtsbaum? Heidegger kommt natürlich nicht darauf, warum sollte die Sprache denn auch solche Dinge sagen; in der Tat macht die Vorstellung verlegen, man möchte sie als zu einsinnig beiseiteschieben, und mit der Wendung „aus der Erde kühlem Saft“ scheint das Bild sich auch sogleich wieder der Festlegung zu entziehen; wenn, ja wenn man nicht so weit gehen will, an eine Topfpflanze zu denken, aber so weit ginge die Sprache von sich aus nie.
In der dritten Strophe setzt Heidegger dann ein Komma ein, wo keines steht. „Wanderer tritt still herein“ liest er eindeutig als eine Aufforderung; die schwingt durchaus mit, aber ohne das Komma ist die erste Lesart doch eher die eines Aussagesatzes, und zwar im verknappten Stil einer Bühnenanweisung: „Wanderer [tritt still herein]“. Und nun kommt der Vers, der den Zugewinn der Überarbeitung am deutlichsten macht: „Schmerz versteinerte die Schwelle“. Ein Satz für viele, wenn nicht für alle, die einmal an einer Schwelle verharrten und nicht wußten, ob sie den nächsten Schritt noch gehen können. Der Gebrauch des Präteritums, der vielleicht durch den rhythmischen Fluß des Verses angeregt wurde, ist eine ausgezeichnete Wahl – die Versteinerung durch den Schmerz ist etwas in der Vergangenheit Erlittenes; ob es fortbesteht, ob aus der Versteinerung erlöst werden kann, darüber wird nichts gesagt – außer:

Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.

Eine Epiphanie, die zumindest im reinen Schauen, das das Gedicht gewährt, einen erlösenden Glanz hat. In der Rücknahme der Eindeutigkeit der ersten Fassung wird dieser Schluß und damit das ganze Gedicht in der Deutung frei, auch die Peinlichkeit, alles auf einen Sinn hin lesen zu müssen, schwindet. Wer angesichts der um die Gaben erglänzenden Helle keine Christus-Begegnung haben kann, wird nicht genötigt; er wird einen anderen Gastgeber, einen anderen Gastraum erblicken können, eine Schenke tut es am Ende auch, wenn man gewandert ist und aus dem Dunklen kommt. 

Norbert Hummelt, aus Mirko Bonné und Tom Schulz (Hrsg.): TRAKL und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal, Stiftung Lyrik Kabinett, 2014

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