Norbert Hummelt: Zu Thomas Rosenlöchers Gedicht „Der stille Grund“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Thomas Rosenlöchers Gedicht „Der stille Grund“ aus Thomas Rosenlöcher: Das Flockenkarussel. 

 

 

 

 

THOMAS ROSENLÖCHER

Der stille Grund

Von ganz weit oben her, wie abgeschüttet,
jedoch sich lautlos lösend, fiel
rechts links hangab ein kleiner Jubel Glück
als Himmelsvorhang nieder. Kurz, es schneite,
die Luft durchschippernd, bis herab zum Grund.
Daß jedes Astes Ästlein schneebeladen
ein anderes, weiß überfiedert, kreuzte,
und ich in immer tiefre Wirrnis ging.
Längst schlief die Brücke unterm Brückenbogen.
Nur zu sich selbst noch redete der Bach,
bauchrednerisch. Und wenn auch meine Stapfe
mir längs des Wegs treulich im Zickzack folgte,
blieb unbegreiflich, daß jemals mein Fuß
dereinst das Weiß vor mir betreten könnte.
Zumal der Sohle Raster unter sich
die Fußspur jeden Augenblicks begrub.
So lebte ich. Kein Mensch kam mir entgegen.
Nichtmal mein Vater, viel zu lange tot.
Nur noch ein Knochenbündel in der Erde.
Da mir es nun ja doch gelungen war,
ihn zu vergessen, denn ich ging und ging,
nichtahnend, daß ich längst wie er
im Gehn die Arme hinter mir verschränkte.
Und daß vor lauter Frost und Schnee
mir Bart und Haare weiß geworden waren,
als käme er in mir mir selbst entgegen
und keiner stürbe. Irrsinniges Stieben
schräg übern Weg hin. Unter mir im Eis
sehr großer Blasen eiliges Pulsieren.

 

Ein kleiner Jubel Glück

Nicht wenige Menschen sind überzeugt, in ihrer Kindheit habe es mehr geschneit als heute – ganz gleich, wo sie aufwuchsen und was die Klimaforscher dazu sagen. Denn der Schnee und zumal der erste in einem jeden Winter hat über das Gemüt eine große Kraft. Die Überraschung der ersten Flocken, das Aufschauen zum Himmel, aus dem sie in Fülle herabrieseln, und wie die Dinge unter der weißen Hülle ihre Konturen verlieren – diese Erlebnisse bringen Anflüge von Frieden und Unschuld zurück, wie man sie nur als Kind ungebrochen erleben konnte.
Der aus Dresden stammende Dichter Thomas Rosenlöcher ist nicht der erste, der das Wunder des Schneiens in Worte fasste. In seiner Fähigkeit, dieses zarte Geschehen in Versen so plastisch zu gestalten, dass man nach den Flocken förmlich greifen kann, wird er jedoch so leicht von niemandem übertroffen. Es gehört zu den Eigenheiten seiner Dichtkunst, die Sätze so zu bauen, dass der Leser gar nicht anders kann, als seinen Blick zu teilen. Rosenlöcher erreicht das durch die Genauigkeit der Beobachtung, erfindungsreiche Wortwahl und nicht zuletzt durch eine vertrackte Grammatik, die jedes eilige Weghuschen über seine Zeilen ausbremst. So muss der Leser schon im Nachvollzug der ersten Worte gleichsam den Kopf in den Nacken legen, um zu sehen, was da wie und woher „von ganz weit oben“ kommt. Und wird dabei von einem kleinen „Jubel Glück“ überschüttet, noch bevor er die Sache auf ihren Begriff bringen kann:

Kurz, es schneite.

Damit drückt Rosenlöcher einen grundlegenden Sachverhalt ganz einfach aus: wie uns ein Hochgefühl überkommt und wie das begriffliche Denken uns daraus wieder abstürzen lässt. Die Wendung des Blicks vom staunenden Betrachten zur lapidaren Erkenntnis ist typisch für diesen Autor, der seine romantische Weltsicht von jeher mit verschmitzter Ironie abzupuffern wusste. Nachdem der Betrachter dem Fall der Flocken „bis herab zum Grund“ mit den Augen gefolgt ist, beginnt er nun erst recht, sich umzusehen. Er erkennt die vielgliedrige Gestalt der Bäume und nimmt wahr, wie „jedes Astes Ästlein schneebeladen / ein anderes, weiß überfiedert, kreuzte“.
Man kann hier, wie oftmals bei Rosenlöcher, Anklänge an Barthold Hinrich Brockes hören, den Meister der lyrischen Naturbetrachtung, der im achtzehnten Jahrhundert eine „Kirsch=Blühte bey der Nacht“ beschrieb:

Es schien, ob wär ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der klein’ste Ast
Trug gleichsam eine rechte Last
Von zierlich=weissen runden Ballen.

Die Nähe zu den Versen Rosenlöchers frappiert, aber mehr noch, wie der heutige Dichter aus dieser fernen Quelle einen Ton schöpfen kann, der lebendig und unverkennbar eigen ist. Brockes reimt, Rosenlöcher verzichtet darauf, wenn er auch viele Anklänge schafft, so dass man Reime zu vernehmen meint, wo gar keine sind. Und während bei Brockes die Naturbetrachtung noch stets in theologische Meditationen übergeht, kann das moderne Bewusstsein die Bilder der Natur auf seiner Suche nach einem letzten Sinn nur in die eigene Erinnerung verweben.
Das Gewirr der Äste macht, dass der Sprecher „in immer tiefre Wirrnis“ geht, und wie er langsam weiterwandert, denkt er darüber nach, dass hinter ihm die Abdrücke seiner Schritte sichtbar sind, vor ihm aber jungfräuliches Weiß sich auftut. So führt die Schneewanderung ganz von selbst auf die Lebenswanderung. Der Schnee, der in dieser Stunde vom Himmel herabkommt, berührt den Wanderer in einer Weise, dass er die fast physische Erscheinung seines Vaters vor sich sieht, der „viel zu lange“ tot und den zu vergessen ihm nicht leichtgefallen ist – er kann ihn gar nicht vergessen, weil er sogar in seiner Körperhaltung fortlebt:

nichtahnend, daß ich längst wie er
im Gehn die Arme hinter mir verschränkte.

Diese Art des Gehens ist auch von Goethe überliefert, von alten Männern überhaupt; es ist nicht nur die Kindheit, die hier aufsteigt, sondern mit ihr der Gedanke an den Tod. „Und daß vor lauter Frost und Schnee / mir Bart und Haare weiß geworden waren“, ist eine Reminiszenz an das Lied vom „Greisen Kopf“ aus der „Winterreise“, die Schubert nach Gedichten Wilhelm Müllers komponierte. Im Leben hat man nur einen Vater, im Schreiben können es viele sein. Für den Leser, der solche Anleihen erkennt, ist etwas gewonnen, für den, dem sie entgehen, nichts verloren. Auch ist es zum Verständnis des Gedichts nicht nötig, aber doch bereichernd zu wissen, dass es im Elbsandsteingebirge ein Tal gibt, das tatsächlich „Der stille Grund“ heißt. Denn diese Verse könnten zu jedem sprechen, der einmal Kind war und Schnee liebt. Sie rühren an den stillen Grund unserer Existenz, und von dort kann uns der Gedanke anwehen, dass Leben nichts anderes ist als „sehr großer Blasen eiliges Pulsieren“.

Norbert Hummeltaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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