Paul-Henri Campbell: Zu Besik Kharanaulis Gedicht aus: „Die behinderte Puppe XVIII“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Besik Kharanaulis Gedicht aus: „Die behinderte Puppe XVIII“ aus Besik Kharanauli: Sprich mir vor, Angelina!

 

 

 

 

BESIK KHARANAULI

aus: Die behinderte Puppe XVIII

Ich bin nicht tot,
ich ahme doch nur einen Toten nach,
hab keine Angst.
Du hast den Petre doch gekannt,
lag er nicht genau so da, mit dem ausgerenkten Kiefer?
Andere sagten dann,
sie kämen, um ihm den Unterkiefer hochzubinden,
wenn er kalt genug geworden sei.
Auch hatte man ihm seine Knie beschwert mit Steinen,
damit er sie nicht anziehen konnte.
Aber der Garten der Mitternacht sprach:
„Nichtig ist alles, was hier gewesen,
was sich bei Tage ereignet hat!“

 

Als hätte ein Romancier

seine Geschichte in Versen hingeschüttet aufs Papier: Das buchstarke Poem „Die behinderte Puppe“ des georgischen Dichters Besik Kharanauli (*1939) beginnt siebzehn Gesänge vor diesen hier abgedruckten Zeilen. Die Versnovelle schildert in der allerersten Szene den Protagonisten im Bett liegend, seine Geschichte setzt mit argem Zweifel ein – „Kümmert es im Grunde jemand, / kommt es überhaupt darauf an, / wie oft man noch erwachen kann?“ Daran schließt sich achtzig Seiten später der Wunsch nach Rückkehr in den mütterlichen Uterus an. Dazwischen aufgespannt, rollen sie dahin, die quälenden Reflexionen über die Liebe, den Sinn des Lebens und die zerknirschten Epiphanien des lyrischen Subjekts. Für die Wende-Generation der georgischen Literatur spielt Kharanauli eine prägende Rolle, waren es doch seine oft mit Walt Whitmans Leaves of Gras verglichenen Langgedichte, wie „Sprich mir vor, Angelina!“ oder „Einer liegt in Agonie“, die den vers libre zu einem probaten Stilmittel der Wahl etablierten. Und es ist tatsächlich der Fall, dass sich durch diese erzählenden Poeme, die oft eher in Kapitel als in Sequenzen eingeteilt sind, eine lichte Individualität freizusingen scheint, die mehr aus ihrem seelischen Bedürfnis, klar und direkt, als in Reaktion auf soziale Umstände, umständlich und verhuscht, dichtet. Norbert Hummelt, der nun fünf Langgedichte von Besik Kharanauli in einer deutschsprachigen Bearbeitung nach den Interlinearversionen von Nana Tchigladze vorlegt, spricht von einer „plötzlichen Transposition“, die unter anderem „bestehende Formen in einen neuen Kontext“ stürzen. Sicher, es finden sich in Kharanaulis Versnovellen auch Passagen gestauter, bitterer und gehemmter Stimmungen, die unter unmittelbarem Eindruck des Zusammenbruchs der Sowjetunion stehen, die Jahrzehnte lang den unabhängigen Geist der Georgier in ihren Würgegriff gehalten hatte. Aber gleichwohl existiert bei Kharanauli kein postmoderner Zynismus, sondern eher ein humorvoller Duktus, darin Heiterkeit und Schwermut, Hebungen und Senkung innerhalb eines Silbenmaßes sind.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 4, 2018

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