Paul-Henri Campbell: Zu David Harsents Gedicht aus: „Lieder von derselben Erde“, IV. Sequenz

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu David Harsents Gedicht aus: „Lieder von derselben Erde“, IV. Sequenz aus David Harsent: Lieder von derselben Erde. –

 

 

 

 

DAVID HARSENT

aus: „Lieder von derselben Erde“, IV. Sequenz

Wer ist er, das Messer in der Hand – der Mann der leeren Straßen
und blinden Winkel, der Mann, der viele Lächeln hat?

Woher nahmst du seine Erscheinungen?
Könntest du ihn in der Menge ausmachen? Ist da eine leere Seite,

solo, im Familienalbum? Kam er zu deiner Hochzeit
mit Scheren zum Geschenk und trug ein Sträußchen Weißdorn angesteckt?

Ist dies seine einzige Stimme – jene, die du am besten erinnerst
aus jener Zeit, also du dich stets im Haus aufhieltst und schliefst

bis die frühe Dunkelheit dich weckte?
Dachtest du, er könnte dein provisorischer Freund werden?

Nein… Aber da ist er, wartend am Pfad, der dich hinunterführt
aus dem Licht, wohin du immer zu gehen glaubtest,

wohin du zu gehören glaubst.
Wer dort lebt, lebt im Schatten. Geh weiter… geh…

 

Als der britische Dichter David Harsent (*1942)

sich mit dem Komponisten Sir Harrison Birtwistle darüber besprach, wie denn eine Auftragsarbeit zum hundertsten Geburtstag (2013) von Benjamin Britten klingen könnte, schienen sich die beiden uneinig. Zunächst, berichtet Harsent, entstanden eher szenische Entwürfe, die Titel trugen wie „Scene one: A Beach“ oder „Contre Jour.“ Nachdem er sie verwarf, wandte sich der T.S. Eliot Prize-Träger einem in Episoden vorzutragenden Zyklus mit linearer Erzählweise zu. Auch diese Skizzen erwiesen sich als ungeeignet. Allmählich reiften jedoch, dem Dichter fast unmerklich, jene zehn Sequenzen, von denen die vierte hier zu lesen ist. Lieder von derselben Erde nennt sein deutscher Übersetzer, der Münchener Dichter Ludwig Steinherr, die Songs from the Same Earth. Der Zyklus zeigt, so David Harsent, „eine Frau am Rande des Zusammenbruchs.“ Über alle Sequenzen hin herrscht eine geradezu bukolische Verssprache, die getragen wird von einer somnambulen Wahrnehmung, die zersetzt und unterspült wird von Impulsen der Gewalt und Angst. Das Subjekt stellt eingangs eine scheinbar gezielte Frage: „wer ist er, das Messer in der Hand.“ Doch im nächsten Moment variiert der Dichter das „wer-mit-Messer“ ins Abstrakte: Es wird zum fraglich bleibenden Gespinst: „der Mann der leeren Straßen / und blinden Winkel.“ Der legendäre Herausgeber der Zeitschrift New Review, Ian Hamilton, sagte einmal, David Harsent sei aus dem „Nichts“ in seinen Kreis gekommen (dazu gehörten auch etwa Julian Barnes, Christopher Hitchens und Martin Amis). Während des Zweiten Weltkriegs wächst Harsent zwischen Frauen auf. Irgendwo schreibt der Dichter: Als Kind wusste er mehr von Menstruation als von Fußball. Auch dieser Zyklus ist geprägt von der labilen Empfindsamkeit eines Autodidakten, der zehn Jahre lang als Buchhändler seinen Bookshop systematisch beklaute.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 3, 2018

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00