Paul Hoffmann: Das erneute Gedicht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Paul Hoffmann: Das erneute Gedicht

Hoffmann-Das erneute Gedicht

DIE SITUATION DER LYRIK NACH 1945

Als Herr Joachim Schmidt mich einlud, in Tutzing im Rahmen dieser österlichen Tagung über die deutsche Lyrik nach 1945 zu sprechen, sagte ich gerne zu. Es war verlockend, über derlei an dem Ort zu sprechen, der für mich mit dem Werk von Marie Luise Kaschnitz bedeutsam verbunden ist. Ihren Tutzinger Gedichtkreis von 1950 habe ich wiederholt in meinen Vorlesungen interpretiert als ein ergreifendes Dokument der existentiellen Situation des modernen religiösen Menschen und als einen Markstein der dichterischen Entwicklung der bei Kriegsende Vierundvierzigjährigen. Diese einzigartige Entwicklung, die sich im Einklang mit der Produktion der jüngeren Zeitgenossen vollzog, auf dem ganz persönlichen und dennoch zeittypischen Weg der Dichterin zu einer knapperen, strengeren Schreibweise, dieses Weiterschreiten zu Gedichten der „härteren, inneren Wahrheit“ (wie sie selbst sagte); ist ein wunderbares Zeugnis geistiger Lebendigkeit, ein Zeugnis von dem tiefen mitmenschlichen Gefühl der Dichterin und dem verantwortungsvollen Bewußtsein ihrer Zeitgenossenschaft über die Kluft der Generationen hinweg. „Ich war an meine Zeit gebunden und hatte die Botschaft weiterzugeben, die ich von meiner Zeit empfing.“ Ihr außergewöhnlicher, persönlicher ,poet’s progress‘ bezeugt zugleich die prägende Kraft des Epochenstils, für dessen Herausbildung ihr Œuvre paradigmatisch ist. Ich werte es als Auszeichnung, mit meinem Vortrag über Nachkriegslyrik dem Rahmen einer Tagung eingefügt zu sein, die im Zeichen von zwei hervorragenden Repräsentanten dieser Epoche steht: die anhub im Gedenken an Marie Luise Kaschnitz und die unter ihren Auspizien kulminieren wird mit der Ehrung von Ilse Aichinger.
Ich soll über ein komplexes, ein bewegendes Thema in den Grenzen einer Vortragsstunde sprechen. Ich muß stark komprimieren, vor assoziativen Ab- und Ausschweifungen auf der Hut sein. Aber nicht minder vor zuviel Abstraktheit, dem Übermaß schematisierender Verknappung und begrifflicher Destillate, so daß die lebendige Vielfalt der konkreten Wirklichkeit nicht aus dem Blick gerät.
Das Thema: Die Situation der Lyrik nach 1945 – der Titel des Vortrags ist nicht unmißverständlich formuliert. Sowohl ein Punkt, wie auch eine Linie könnte gemeint sein: einerseits die unmittelbare Nachkriegssituation, andererseits die Epoche, die damals anhob und bis in unsere Tage reicht und auf die so ungewisse Zukunft hin sich öffnet. Möge ihr, die man ja auch als ,Nachkriegslyrik‘ euphemistisch etikettiert, nicht der Beginn eines neuen Krieges in Deutschland das Ende setzen! Wir bedenken (wie Sie wohl erwartet haben) diese von Katastrophen umwitterte Epoche der Lyrik: in der Spannung ihrer kontrastierenden Intentionen, antagonistisch und zur Synthese fähig, mit ihrer Vielfalt der literarischen Phänomene, mit ihrer schnellen Folge von Neuansätzen, Antithesen und Tendenzwenden. Wir suchen nach dem inneren Zusammenhang der Epoche und erkennen das Verbindende der existentiellen Situation mit ihren Konsequenzen für die Poesie, das Gemeinsame formaler Tendenzen, die Kontinuität im Wandel.
Wir profilieren, was nach literarischen Kriterien, im weltliterarischen Maßstab, Geltung beansprucht – und damit zugleich das im Zeitbezug Signifikante, eingedenk der Möglichkeiten und Grenzen von Lyrik. Wir stellen demnach die deutsche Lyrik unserer Epoche in einen doppelten Kontext: erstens den des europäischen Traditions- und Entwicklungszusammenhangs der modernen Lyrik; zweitens den der Realgeschichte, der politischen und geschichtlichen Situation, die sie bedingt, auf die sie auf ihre Art reagiert.
Wenn auch die ganze Epoche im Blick bleiben soll, so gilt doch ihren Anfängen unsere besondere Aufmerksamkeit. Das Datum, von dem sie sich herzählt, ihr Terminus a quo, ist ja zugleich ihr Movens: der Ansatz, der Antrieb einer neuen Lyrik. Der Wille zu radikalem Umdenken und entschlossenem Neubeginn, der jene Generation beseelte, ist zur Legende geworden. Doch ihre moralische Sensibilisierung, ihre kritische Wachheit haben Maßstäbe gesetzt, an denen wir uns zu messen haben. Was damals gewollt und gedacht wurde, ist nicht abgetan, wirkt noch als Impuls weiter, nötigt uns zu erneuter Rückbesinnung. Sie fordert uns zum Vergleich heraus, zur Auseinandersetzung, zur Besinnung auf den Weg, der vor uns liegt. Wir ermessen den Abstand zwischen heute und einst – unseren ,Fortschritt‘ in seiner ganzen Ambivalenz. „Nie hätte ich mir nach Kriegsende gedacht“, sagte unlängst Walter Jens, daß vierzig Jahre später ein Protest für die Bewahrung des Friedens als ,verwerfliche Tat‘ gebrandmarkt würde.“
Wer sich die Hoffnungen jener Jahre zurückruft, setzt sich unweigerlich auch verstörenden und beklemmenden Gedanken aus. Offiziell verordnete Retrospektiven, welche anläßlich der vierzigsten Wiederkehr des Jahrestages der deutschen Kapitulation geboten erschienen, wie sie bald bundesweit auf der Tagesordnung sein werden, haben bereits im Vorfeld der Planung Unbehagen und Verlegenheit ausgelöst. Man weiß nicht recht, wie man es mit dem 8. Mai halten soll. Er ist kein bequemes Datum. Er weckt notwendigerweise ambivalente Gefühle. Die Freude über die Befreiung vom Nazi-Terror ist unlösbar verquickt mit dem Memento des deutschen Zusammenbruchs mit seinen schmerzlichen Folgen. Die Sieger ihrerseits sind großzügig bereit, ,deutsche Empfindlichkeiten‘ (wie man das nennt) zu schonen. Ungetrübte Feierstimmung wird auch bei ihnen kaum aufkommen, wenn man die Weltlage bedenkt – vierzig Jahre nachher.
Der Rückblick auf jene Zeit muß unbehaglich und verlegen machen, wenn er zum Anlaß von Selbstdarstellungen genommen wird, statt ein Weg der Selbstfindung zu werden; wenn man ungenehme Erinnerungsspuren verdeckt, das Beunruhigende verdrängt, aus Angst vor Betroffenheit. Wir aber wollen und können uns nicht entziehen, die wir hier zusammengekommen sind nicht als Publikum einer offiziellen Gedenkfeier, sondern um der Erinnerung willen, wie sie Gedichte lebendig aufbewahren. Es sind atmende Worte (in der Substanz geschieden von den Fabrikaten der Festredner) – abseitige, unbequeme, wahre Worte, die uns betroffen machen. („Ein bequemer Dichter“ – Günter Eichs unverzichtbare These – „hat nichts zu sagen. Dichter, die niemanden erschrecken, sind zu nichts anderem zu brauchen, als daß man sich über sie unterhält.“) Das Authentische des dichterischen Wortes – gegenüber dem Surrogathaften des allgemeinen Sprachkonsums; die Intention des Kompensatorischen, Subversiven, der Wille ,Gegenwort‘ zu sein, als Legitimation von Lyrik; die gesteigerte Bedeutung der Sprachreflexion als Motivation und Motiv des Gedichts: damit habe ich den Faden gefunden, der mich durch das Labyrinth des zu durchmessenden Stoffes führt. Ein geschärftes Sprachbewußtsein im Bund mit einem geschärften Wirklichkeitssinn erscheint als das Signifikante der Epoche. Im Blick darauf präzisiere ich mein Thema. Die Sorge um die wahre Sprache, die der Text unseres Programmheftes artikuliert, wird auch der Tenor meiner Ausführungen sein. Das Motto von Ilse Aichingers Mahnwort: „Prüfe, ob sie nicht lügen“, worunter diese ganze Tagung gestellt ist, nehme ich dankbar als mein Stichwort auf.
Zunächst noch einige grundsätzliche Bemerkungen zur Position der Nachkriegslyrik im Kontext der Moderne, deren Tradition ja mehr als ein Jahrhundert zurückreicht. Die soziale und geistesgeschichtliche Situation der modernen Lyriker (und ein solcher ist bereits Baudelaire gewesen), die Situation der gesellschaftlichen Entfremdung also, die Erfahrung einer ungemäßen, übermächtigen Realität, einer fragwürdig gewordenen Wirklichkeit, ist fundamental die gleiche geblieben. Die Radikalität dieser Situation hat sich noch gesteigert. Sie ist darum in vieler Hinsicht einmalig. Darum gestattet sie nicht den Rückgriff auf geschichtliche Analogien. Sie ist geprägt durch Kernspaltung und Weltraumfahrt, durch ungekannte Machtkonzentration und das Potential globaler Zerstörung, durch die politische Emanzipation Asiens und Afrikas, durch die Bevölkerungsexplosion und das Hungern der unterdrückten Völker, durch die Erschöpfung der Rohstoffreserven der Erde und durch die Vergiftung von Wasser und Luft und das Hinsiechen der Wälder. Es ist eine ganz neue Situation, mit der wir konfrontiert werden, eine Situation, die ungeheure Möglichkeiten ahnen und unerhörte Gefahren fürchten läßt. Eine unerhörte Herausforderung der Realität an den Menschen. Was soll da Lyrik? Was soll da Bekundung der persönlichen Existenz, die Lyrik einer großen Tradition zufolge war, wenn das Leben immer unpersönlicher wird, die Domäne des Ich immer mehr an Geltung verliert gegenüber der Dominanz des ,Man‘?
Was soll überhaupt Literatur? Was soll der Bereich des Fiktiven, wo die Fakten wuchern und alle Ausgeburten der Phantasie hinter sich lassen? Ist Zeit für Poesie, wenn die Prosa der Tagesbewältigung unsere volle Aufmerksamkeit fordert? Was kann Literatur noch leisten?
Solche Fragen bedrängen notwendigerweise jeden, dessen Metier Literatur ist, Literatur im eigentlichen und anspruchsvollen Sinn. Der zeitgenössische Schriftsteller ist sich der Problematik seiner Lage und seines Tuns bewußt. Er sieht, welche Grenzen ihm gesteckt sind und welche Möglichkeiten ihm offenstehen. Er darf die Wirklichkeit, in der er sich befindet, nicht verleugnen. Er kann die Reflexe der Zeit, die aus den Fugen ist, nicht aus seinem Werk wischen. Er kann nicht die Wirklichkeit, wie man das einmal nannte, ,verklären‘. Über seine Chancen, sie zu verändern, kann er sich keinen Illusionen hingeben. Aber er kann und muß noch immer, unter geänderten Vorzeichen, unter erschwerten Umständen, durch seine Fiktion die Wahrheit des Wirklichen aufscheinen lassen, der ganzen Wirklichkeit, die den Menschen miteinbegreift, den Menschen mit seinen Träumen, Ängsten und Hoffnungen. In der Literatur spricht ein einzelner zu einzelnen, auch wenn eine Gruppe gemeint ist, eine Generation, eine Klasse, eine Nation oder die Welt. So widersteht Literatur der Reduktion des Menschen auf wissenschaftliche Allgemeinbegriffe, auf den Durchschnittswert der Statistik und das Objekt kommerzieller und politischer Manipulationen. In diesem Sinn hat sie heute in enormem Maß kompensatorische Bedeutung. Die humanen Fähigkeiten, die in Gefahr sind zu verkümmern, werden durch sie wiederbelebt, sie weckt die Imagination, erweitert das Bewußtsein, sensitiviert die Psyche. Im Widerstand gegen Klischee und Phrase entfaltet sich die Sprache in präziser Differenzierung und lebendiger Sinnlichkeit.
Wenn es zum Wesen der Literatur schlechthin gehört, daß in ihr der Sprache zentrale Bedeutung zukommt, so gilt dies für die Lyrik in besonderem Maße. Ja, dieses Höchstmaß sprachlicher Entfaltung bedeutet einen Unterschied in der Qualität der Sageweise. Erfahren wird hier die Sprache in ihrem Eigensein und Eigenwert, in der Aktivierung dessen, was in ihrer jeweiligen Mitteilungsfunktion nicht aufgeht. Sprache ist nicht wie ein Fensterglas, durch das man hindurchblickt, ein Gegenüber wahrnimmt, sondern wie ein Prisma, dessen Farbenspiel unsere Aufmerksamkeit fesselt. Seit je hat die Lyrik, im Zusammenspiel von Rhythmus und Klang und Bild, den Leib der Sprache zum Tönen gebracht und eine innere Bindung von Zeichen und Bedeutung vorgezaubert. In der symbolistischen Erneuerung der Lyrik erhielt das Moment der Aktivierung der Sprache ein neues Gewicht und wurde eine neue Poetik begründet. Der Akzent des Interesses verschob sich von der Aussage des Ich, als welche die Lyrik vorwiegend traditionell begriffen wurde, auf die Freisetzung und Formung sprachlicher Potenzen. Die neue Akzentuierung, die neue Mischung der Elemente schuf einen neuen Stil. Das Ich wurde seiner selbst unsicher, erlebte seine Gespaltenheit und Entfremdung, transzendierte in seine psychischen und kollektiven Gründe und imaginierte Möglichkeiten. Die biographischen Inhalte verloren an Interesse und die Erlebnislyrik traditioneller Observanz ihren Rang. Der Kontrast zwischen Dichterbiographie und Gedicht führte zum Begriff des ,lyrischen Ich‘, gleichzeitig verlor die Natur ihren traditionellen poetischen Nimbus.
Je weniger die Welt als poetische erfahren werden konnte, desto größer wurde der Anspruch an die Verwandlungskraft der Phantasie. Baudelaire hatte erstmals aus widrigem Stoff, aus ,Schmutz‘, ,Gold gemacht‘, das Gold seiner Dichtung, wie es in einem Vers von ihm heißt. Mit „Une Charogne“ beginnt Rilke zufolge die moderne Lyrik. Die Größe der dichterischen Potenz erwies sich am Widerstand, den sie zu bewältigen hatte. Den Zwängen der progressiven Versachlichung begegnete der Freiraum der ,diktatorischen Phantasie‘, wie Hugo Friedrich das nannte. Druck erzeugt Gegendruck: je unpoetischer die Welt wurde, desto poetischer wurde die Poesie. Die ,poésie pure‘, die absolute Poesie, suchte das quintessentiell Dichterische, indem sie es von allen heteronomen Zielsetzungen löste, das Überreden, Belehren, Erzählen und Unterhalten anderen Sageweisen überließ. Sie will nur tun, was sie allein zu tun imstande ist, die Worte in ihrem vollen Potential entfalten, ihre Vielschichtigkeit über die jeweilige Satzfunktion hinaus zur Geltung bringen. Neue Spannungsgefüge der Wörter entstehen, radikal verschieden von der Syntax der diskursiven Rede. Mallarmé sagt:

Der Dichter überläßt die Initiative den Wörtern, der Interferenz ihrer aktivierten Unterschiede, die Wörter fangen Feuer durch ihre gegenseitige Spiegelung wie ein Feuerschweif über Juwelen.

Der Unterschied zur Prosa ist radikal. Die Wörter sind in einen anderen Aggregatzustand versetzt. In einem Brief Rilkes heißt es:

Kein Wort im Gedicht (ich meine hier jedes „und“ oder „der“, „die“, „das“) ist identisch mit dem gleichlautenden Gebrauchs- und Konversations-Worte: die reinere Gesetzmäßigkeit, das große Verhältnis, die Konstellation, die es im Vers oder in künstlerischer Prosa einnimmt, verändert es bis in den Kern seiner Natur […].

Die symbolistische Poetik setzt mit solchem gesteigerten Anspruch an die verwandelnde Kraft der dichterischen Form einen neuen Standard und einen neuen Beginn. Die Reflexion auf das Wesentliche der Lyrik führte zu einem rigorosen Reduktionsprozeß, auf der anderen Seite zu einem Gewinn an Intensität. Nach dem Erlahmen der Lyrik in den Händen der Epigonen waren ihr neue Kräfte zugeströmt. Entscheidend war der neue Rang, den die Sprache bekam, die gesteigerte Aktivierung ihrer klanglichen und rhythmischen Potenzen, das ins Bewußtsein gehobene Einzelwort in seiner Leiblichkeit, aber mehr noch in der entfesselten Musik seiner Konnotationen und Assoziationen. Zwei Tendenzen vereinigten sich in diesem ,Dichten von der Sprache her‘ ein neues Spracherlebnis und eine neue Sprachreflexion. Sie eröffneten jene Dimension der Sprache, die ihre kommunikative Funktion transzendiert. Der Dichter soll die Initiative den Wörtern überlassen, er will die Freisetzung sprachlicher Energien als seelische Ausdruckswerte. Zugleich aber gebietet sein Wille zum Ideal der Form die unnachgiebige, unablässige Arbeit am Material. Die symbolistische Dichtung ist in ihrer Größe und Einseitigkeit, in ihrer Übersteigerung zeitloser Komponenten der Lyrik sowohl Reaktion auf die Zeit wie ihr Symptom. Ihre dichterische Hermetik ist ein Sich-zur-Wehr-Setzen gegen die fortschreitende Entwertung der Sprache in der Massengesellschaft.
Der hohe professionelle Anspruch jedoch, den das artistische Gedicht erfordert und der die Lyrik jedem Dilettanten entzieht und die ,Gunst der Musen‘ allein nicht zuläßt, ist im Einklang mit der Entwicklung des Spezialistentums, das das Gesetz der Arbeitsteilung fordert, auf dem unsere Gesellschaft beruht. Die Grundzüge dieser Situation dauern fort. Die Entfremdung und Versachlichung des Menschen in der modernen Industriegesellschaft hat sich radikalisiert. Die moderne Lyrik wehrt sich dagegen und ist dadurch gezeichnet. Ihre Freiheit ist die einer gesellschaftlichen Randerscheinung. Ihre authentische Sprache ist erkauft mit Dunkelheit und geringer Breite der Rezeption. Seit dem Symbolismus steht die Lyrik durch ihre Seins- und Sageweise quer zur Zeit. In den Grundtendenzen ihrer Entwicklung bleibt sie bestimmt durch ihre Entfernung von der gewöhnlichen Sprache, der ,lingua communis‘, auch wenn sie Elemente der Umgangssprache in sich aufnimmt. Ihre humane und soziale Funktion erscheint als kompensatorisch: Was im Reden ringsum unterdrückt und verschüttet wird, soll hier zu Wort kommen. „Let poetry do what poetry alone can do“, sagte T.S. Eliot, alles andere sollen andere Sageweisen übernehmen. Das ist ein Fundamentalsatz aller modernen Lyrik. Die Besinnung der Lyrik auf die nur ihr eigenen Möglichkeiten, die Konzentration auf das Spezifikum ihrer Sageweise, gibt der Lyrik seit dem Symbolismus ihr Gepräge, in scharfer Profilierung gegenüber den anderen literarischen Gattungen und den Funktionen der Literatur, die in ihnen aufgehoben sind. Jean Paul Sartres bekannte einschlägige Argumentation läßt sich in nuce etwa so formulieren: „Die Prosa bedient sich der Wörter, die Poesie dient ihnen.“
Freilich gibt es Öffnungen nach beiden Seiten, Ausweitungen und Amalgame. Die Auswirkungen der symbolistischen Lyrik auf die erzählende Prosa und das Drama sind ein wesentliches Charakteristikum ihrer Entwicklung. Und die Lyrik selbst verändert sich, indem sie den ,Elfenbeinturm‘ verläßt und sich der empirischen Wirklichkeit stellt. Das politische Gedicht, das sich neu Geltung verschafft, will durchaus durch die Sprache einer Sache dienen. Dennoch ist auch die politische Lyrik in ihren gültigen Leistungen von dem für die moderne Lyrik charakteristischen Verhältnis zur Sprache konstituiert. Sie ist von einem kritischen Sprachbewußtsein getragen und opponiert gegen die Sprache, wie sie täglich mißbraucht und leergeredet wird. Die Opposition der Form verbindet die ,poésie engagée‘ der ,poésie pure‘, so daß sie durchaus nicht nur als Antithesen zu verstehen sind. So wirkt in verändertem dichterischem Ethos, in einem veränderten Stil eine Grundhaltung des Symbolismus weiter. Aber auch die symbolistische Technik wirkt weiter: die Technik des Andeutens und indirekten Sprechens, die Profilierung des einzelnen Wortes, die Ausbildung von Struktur und Textur kontrapunktisch zur syntagmatischen Bindung der Wörter, das Insistieren auf der Kürze.
Die Konzentration der modernen Lyrik auf die Sprache hat viele Facetten und trägt ambivalente Züge. Sprachgläubigkeit schlägt um in Sprachskepsis. Hochgefühl der Magie in Verzweiflung. Das Schicksal Chandos-Hofmannsthals, dem die Worte „im Munde zerfallen wie modrige Pilze“, steht als monumentales Paradigma am Beginn dieser Entwicklung. Faszination weicht der Panik und dem Ekel. Die größten Dichter der Moderne haben ihre Sprachkrise durchgemacht, und ihr weiterer Weg blieb gezeichnet durch den Widerstreit von Hingabe und Enttäuschung.
Das Unbehagen der Dichter an der Sprache ist alt und weist neue Züge auf. Es ist zum Teil in der Sache selbst begründet, im Wesen der Sprache und im Anspruch des Dichters an sie, aber vor allem in den Umständen der Zeit und ihrer besonderen Sprachsituation. Seit je haben die Dichter das Ungenügen ihres Mediums empfunden, das sie nicht nur trägt, sondern auch immer wieder hemmt. Im Unterschied zu jedem anderen künstlerischen Medium ist die Sprache schon vorgeformt. Der Dichter ist genötigt, seinen eigenen Ausdruckswillen mit den den Worten anhaftenden Bedeutungen und Assoziationen zu realisieren. Freilich liegt in dieser Nötigung gerade das Wesen dichterischer Kreativität, auch ihr Vorrang und Vorsprung. Der Dichter macht die Sprache neu, er gießt das Geprägte um und verleiht dem Abgegriffenen den Glanz der Einmaligkeit. Das ist der traditionelle Auftrag des Dichters. Doch die Übermacht des Erbes lastet schwer auf ihm. Er sieht die Möglichkeit des authentischen Ausdrucks drastisch eingeengt. Das Bewußtsein all des schon Gesagten lähmt seine Sprache. „Wenn ich den Mund aufmache, sprechen tausend Tote aus mir“, formulierte Hofmannsthal. Die hohe Erwartung, die der Dichter in die Sprache setzt, schlägt notwendig um in Enttäuschung. Die Aufgabe, die sich der moderne Lyriker stellt, das bislang noch Unartikulierte ins Wort zu bringen, dem Unbewußten ein Begreifbares abzugewinnen, wird immer schwieriger. Eliot spricht vom ,raid on the unconscious‘, dem Beutezug aufs Unbewußte. Dieser Wille, das Unartikulierte ins Wort zu bringen, impliziert die Erfahrung der Grenze, wo sich die Sprache versagt. Das ist „der Gipfel reiner Verweigerung“ über der „letzten Ortschaft der Worte“, über dem „letzten Gehöft von Gefühl“ in Rilkes Gedicht „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“.
Alle lebendige Sprache steigt aus dem Schweigen empor und mündet in Schweigen ein. Seit jeher sind die Pausen zwischen den Worten ein integraler Bestandteil der lyrischen Ausdrucksweise. In der modernen Lyrik breitet sich der Raum des Schweigens aus. Die Gedichte sind gekennzeichnet durch das wachsende Schweigen. Das moderne Gedicht „zeigt […] eine starke Neigung zum Verstummen“, sagt Celan. Seine eigene dichterische Entwicklung illustriert dies am eindrucksvollsten, aber auch die von Günter Eich, Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz, Nelly Sachs und Ilse Aichinger. Die Worte werden weniger, die Pausen nehmen zu. Das Schweigen der Dichter kann viele Gründe haben. Die Symbolisten wählten die Technik des Aussparens und Andeutens statt des expliziten Nennens, um die evokative Kraft der Worte freizusetzen und die Mittätigkeit der Phantasie des Lesers zu provozieren. Das sind Gründe der poetischen Effizienz, wie sie in einer bestimmten Entwicklungsphase der Dichtung geboten schien. Zugleich aber verschwieg sich das Ich in dieser Lyrik, und diese Aussparung des privaten Ich hat psychologische und soziologische Gründe. Repräsentativ ist das Ich, das seiner selbst unsicher geworden ist, einsam in den großen Städten, aber auch bewußt seiner Vielschichtigkeit. Im Gedicht projiziert es seine Möglichkeiten, sich in Masken zu zeigen, und integriert die disparaten Tendenzen in sich und um sich. Das Schweigen aber, das hier gemeint ist, hat seinen Grund vor allem in einem Mißtrauen gegen die Sprache. Daß sich das, was der Mensch als sein Eigenstes und Tiefstes empfindet, dem Zugriff der Sprache entzieht, ist eine allgemeine Erfahrung. „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr“, lautet ein vielzitierter Vers Friedrich Schillers. Die Sprachskepsis jedoch, die wir in der modernen Lyrik diagnostizieren, steht in einem besonderen zeitgenössischen Kontext. Da ist einmal vielerorts eine Reduktion des Bereichs der Sprache festzustellen. George Steiner hat vom ,Rückzug aus dem Wort‘ gesprochen. Symptome sind der schwindende Sinn für die Kunst der Rhetorik und die gepflegte Konversation, die schwindende Freude an der sprachlichen Form überhaupt. Verdrängt wird das Wort durch die Konkurrenz anderer Medien. Das Bild gewinnt neue Bedeutung und erlangt durch das Fernsehen unerhörte Wirkung. Marshall Mc Luhan hat vor 25 Jahren in seinerzeit aufsehenerregenden Ausführungen das Ende der Hegemonie der Gutenbergschen Erfindung und das Heraufkommen einer neuen Ära visueller Kommunikation verkündet. Auf der anderen Seite hat in den Wissenschaften ein zunehmender Prozeß der Abstraktion der Wortsprache den einst unbestrittenen Rang abgelaufen. Im Streben nach Exaktheit haben die Formeln der Mathematik, die Zahlen und Diagramme der Statistik über die Wörter gesiegt, sogar auf dem Gebiet der sogenannten ,Geisteswissenschaften‘. So erscheint auch unter diesem Aspekt die lyrische Dichtung als Reservat und Refugium des Wortes. Wieder zeigt sich die kompensatorische Tendenz, von der wir sprachen. Dem Rückzug des Wortes antwortet ein Rückzug aufs Wort.
Wieder gilt nicht nur das Verhältnis von Antithesen. Vielmehr scheint es auch hier so zu sein, daß, was wir in bezug auf Spezialisierung und Technik behaupteten, die moderne Lyrik insgeheim teilhat an der Zeittendenz. Ihr Zug zur Abstraktion, zu Lakonismus und Nüchternheit zeugt davon. Ebenso ihre Tendenz zu skeptischer Reflexion, von der schon die Rede war. Wo es sich aber um echte Dichtung handelt, merken wir, wie das Abstrakte des Begriffs sich dem Konkreten neu verbindet und zur sinnenhaften Erfahrung wird, das Lakonische einen Freiraum der Phantasie eröffnet, und aus dem ,Antilyrischen‘ – eine Prägung Adornos – ,der lyrische Funke geschlagen wird‘. Was für den Dichter schwerer noch wiegt als die theoretischen Erwägungen über Sprachskepsis usw., ist seine Konfrontation mit weiten Strecken der öffentlichen Sprachpraxis. Denn es ist ja durchaus nicht so, daß auf allen Sektoren die Tendenz zur Wortkargheit vorherrscht. Es wird vielerorts viel geredet, zerredet; auch hier könnte man von einem Rückzug aus dem Wort sprechen, nämlich seiner Ersetzung durch die Phrase.
„Every thing is spoilt by use“, dichtete der englische Romantiker John Keats, so auch jedes Wort. Aber heute hat die Inflation der Sprache dank der Massenmedien ein früher unvorstellbares Maß erreicht. Die Währung der Worte hat keine Deckung mehr. Die großen Worte, von denen T.S. Eliot sagt, daß sie nicht mehr ,für uns sind‘, sie sind zur Spielmünze der Festtagsredner geworden, sie sind ihrer Substanz entkleidet, Hüllen ohne Gehalt, die keinen ernsthaften Anspruch befriedigen, in die wir kein Vertrauen setzen können. Mit der Inflation verquickt ist die Manipulation der Sprache durch alle Ingenieure der öffentlichen Meinung und Lieferanten von Klischees. Als Material manipulierter Massenkommunikation sind die Worte dem Prozeß der Korruption preisgegeben, sie sind aus ihrer Verwurzelung in der Spannung des Dialogs von Mensch zu Mensch gerissen, der Spannung von Frage und Antwort, Geben und Nehmen, Herausforderung und kritischer Reaktion und zu einem leblosen Zwischendasein verurteilt. Losgelöst von dem Leben des Geistes, von keiner inneren Erfahrung getragen, von keine, Vernunft überprüft, welken die Worte dahin und werden gespenstisch. Indem ihre Vitalität und Präzision verkümmert, werden sie gehört, ohne daß man wirklich an sie glaubt, und bleiben dennoch einem reduzierten Bewußtsein als Stimulanten unentbehrlich, bis schließlich unser zentrales Organ zur Erkenntnis der Wirklichkeit zu einem Schirm von Lauten pervertiert ist, um uns damit die Wirklichkeit vom Leibe zu halten und uns vor unerträglichem Schweigen zu schützen. George Steiner hat vor mehr als zwei Jahrzehnten die folgenden, immer noch relevanten Sätze dazu geschrieben:

Was für halbe Wahrheiten, grobe Vereinfachungen oder nichtssagende Belanglosigkeiten lassen sich nun tatsächlich auf das Halb-Analphabetentum eines Massenpublikums übertragen, das die populäre Demokratie auf den Markt der Werte und Scheinwerte geholt hat. Hochwirksam werden kann eine solche Kommunikation nur durch eine verdünnte und verfälschte Sprache. Man vergleiche einmal die Vitalität der Sprache, die bei Shakespeare, im ,Book of common prayer‘ oder im Stil eines Landedelmanns wie Cavendish eine Selbstverständlichkeit ist, mit unserer gegenwärtigen Gemeinsprache […] Die Sprache von Massenmedien und Werbungen in England und den Vereinigten Staaten, oder das, was in einer durchschnittlichen amerikanischen Oberschule für Bildung gehalten wird, oder die Ausdrucksweise in der gegenwärtigen politischen Debatte, sind offen zu Tage liegende Beweise für ein Nachlassen an Vitalität und Genauigkeit. Das Englisch, das von Mr. Eisenhower auf seinen Pressekonferenzen gesprochen wurde, war, ähnlich dem zum Verkauf eines neuen Reinigungsmittels, weder dazu angetan, die kritischen Wahrheiten des nationalen Lebens zu übermitteln, noch sollte es die Gedanken des Zuhörers anregen. Es war bestimmt, den Bedeutungsansprüchen aus dem Wege zu gehen, oder sie falsch auszulegen. Die Sprache eines Staatswesens hat ein gefährliches Stadium erreicht, wenn eine amtliche Untersuchung über radioaktive Niederschläge offiziell ,Verfahren Sonnenschein‘ genannt werden kann.

Personen, Situationen sind austauschbar. Die Beispiele drängen sich auf.
In den zwölf Jahren der Naziherrschaft ist dieser Verfallsprozeß der Sprache in sein virulentestes Stadium getreten. So freventlich war die deutsche Sprache verdreht worden: um sie vor der Realitat abzuschirmen, waren die Worte pervertiert worden, um unsagbare Bestialität zu verbergen, war so viel Falschheit in sie gepumpt worden, durch die Manipulation der Macht und das Gift irrationalen Hasses, daß sie bis ins Mark erkrankt schien. Die deutschen Schriftsteller, die nach der Katastrophe sich ihrer Sprache wieder bedienen wollten und mußten, gingen mit dem größten Mißtrauen ans Werk. Wie schon erwähnt, sprach Rilke einst davon, daß die Poesie jedes Wort der Umgangssprache, jedes ,und‘ oder ,der‘, ,die‘, ,das‘ bis in den Kern hinein verwandle. Ein Autor der neuen Generation, Wolfdietrich Schnurre, schreibt in seinem Rückblick auf das ,Jahr Null‘ und auf den ,Kahlschlag‘:

Keinem ,und‘ und keinem Adjektiv konnte man vertrauen.

Es wurde behauptet, daß das Jahr 1945 keinen dichtungsgeschichtlichen Einschnitt markiere. Wenn es auch richtig ist, daß in diesen Jahren nichts den symbolistischen, expressionistischen und surrealistischen Manifesten Vergleichbares erschien, also kein innovatorisches Konzept eine dichtungsgeschichtliche Zäsur setzte, so ist der realgeschichtliche Markstein doch von hoher literarischer Relevanz. Das kollektive Erlebnis der physischen und seelischen Konsequenzen des verlorenen Kriegs und des Zusammenbruchs der Hitlermacht beherrschte das Bewußtsein der Autoren und bestimmte entscheidend ihre Produktion. Die Unzahl sinnlos geopferter Menschen, die zerstörten Städte, das Elend der Vertriebenen, die alltägliche Realität fundamentalen Mangels und elementarer Not, das Ende der Illusionen, das lastende Gefühl nationaler Schande und Schuld – all diese Auswirkungen der Katastrophe drängten sich als Themen und Motive auf. Das Bewußtsein einer extremen Situation des totalen, Zu-Ende-Seins und die Forderung eines radikalen Neubeginns, schmerzvoll und illusionslos, war das Signum der Literatur dieser ersten Nachkriegsjahre, die man als ,Trümmerliteratur‘ etikettierte und die ihre Stunde als die ,Stunde Null‘ empfand.
Trotzdem kann nicht die Rede davon sein, daß diese frühen literarischen Manifestationen völlig voraussetzungslos waren. Die Zäsur von 1945 bedeutete das Ende der Isolierung: Man suchte und fand Anschluß an die moderne Weltliteratur, von der man sich abgekapselt hatte, und an die eigene Tradition der Moderne. Diese war während der zwölfjährigen Ägide der Reichskulturkammer nicht kurzweg abgebrochen. Manches Eigenwillige wurde geduldet, weil es ungefährlich schien, kulturelle Alibifunktion besaß. Manches wurde übersehen. Einzelne bedeutende Dichter schrieben Gedichte (Loerke, Lehmann, Huchel), veröffentlichten auch, ohne merkbare Wirkung.
Die radikale Änderung der politischen Situation hatte die Voraussetzung für eine neue Lyrik geschaffen, brachte sie aber nicht schlagartig hervor. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch traten die Gedichte der ,Inneren Emigration‘ ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Was während des Terrors im Typoskript kursierte (Bergengruens Dies Irae, Haushofers Moabiter Sonette) stieß begreiflicherweise auf große Rezeptionsbereitschaft. Diese Autoren besaßen moralische Autorität und boten Zuspruch in der allgemeinen Desorientiertheit. Es ist „kein Urteil über ihre menschliche Integrität und Tapferkeit“, resümiert Otto Knörrich, „wenn festzustellen ist, daß ein Widerspruch klafft zwischen thematischem Anspruch und der Verwirklichung“. Unmittelbar nach der Katastrophe gab es noch keine andere Möglichkeit. Den Lesern wurde die Diskrepanz nicht bewußt. Uns aber ist sie sehr deutlich. Wenn Adorno statuiert, daß „nach Auschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden können“, so müssen wir aus unserer Kenntnis der folgenden Entwicklung der Lyrik modifizieren: Man kann auf herkömmliche Art nicht Gedichte schreiben.
Daneben erschienen Gedichte von sprachlicher Virtuosität, die durch ihre Unangemessenheit gegenüber der thematisierten Aktualität versagen. Es besteht ein krasser Gegensatz zwischen dem Eigengewicht der zeitgenössischen Realität, um die es geht, und der Attitüde des Poeten, der das Niederdrückende und Erschreckende der allgemeinen Situation ausklammern möchte als Störfaktor seines persönlichen Glücksverlangens (Holthusens Heimkehr oder dem eine konkrete, extreme menschliche Situation sich zur Parabel verflüchtigt, Anlaß wird für allgemeine Betrachtungen und ,schöne Verse‘ (Hagelstanges Ballade vom verschütteten Leben).
Der Wille zu radikalem Umdenken und Neubeginn ist niemals so stark gewesen wie in jenen ersten Jahren nach dem verlorenen Krieg. Kein vages Wunschdenken, wie das des Expressionismus: Die Autoren der ersten Stunde besaßen ein klares politisches Konzept, das eines demokratischen Sozialismus, dessen Verwirklichung in Deutschland seine geschichtliche Chance hatte (damals, wie Walter Jens in Hinblick auf das ,Aalener Programm‘ der Christdemokraten vom Februar 1947 erinnert, als „auch bürgerliche Kreise diesem Gedanken aufgeschlossen waren“). Das literarische Medium dieser Neuorientierung war begreiflicherweise weniger die Lyrik, oder überhaupt die fiktionale Literatur, als die das Tagesgeschehen kommentierende Publizistik. Unter der Zensur der Besatzungsmächte entstand eine Vielfalt meist kurzlebiger Zeitschriften. Besonderes Gewicht hatte Der Ruf, herausgegeben von Hans Werner Richter und Alfred Andersch (ab August 1946–1948).
Ein literaturgeschichtlich relevantes Datum setzte die Gründung der Gruppe 47, eine in den folgenden Jahren für die bundesrepublikanische Literatur bedeutsame Einrichtung. Hier lasen Autoren aus ihren Manuskripten im Kreis von Kollegen und Kennern und stellten sich ihrer Kritik. Ihr Urteil prägte den literarischen Kanon der Epoche. Zu den Preisträgern der frühen Jahre gehörten Günter Eich, Paul Celan und Ingeborg Bachmann (als sie vorlas, noch ganz unbekannt). Auf diese Stimmen horchte man mit gesteigerter Aufmerksamkeit. Der Lyrik wurde ein besonderer Rang zuerkannt, das heißt, an sie wurde ein besonderer Anspruch gestellt. Das hohe Formniveau, das die symbolistische Poetik gefördert hatte – mit sechs vollkommenen Gedichten als Lebensertrag eines Dichters rechnete Gottfried Benn – bestimmte unseren Begriff von Lyrik. Dementsprechend war auch für Gunter Groll, den Herausgeber einer Anthologie De profundis, der Maßstab der Auswahl nicht die dokumentierte Gesinnung. Groll war nicht bereit, „Schwächen in der Gestaltung“ um der Gesinnung willen zu tolerieren. Im Gegensatz hierzu resümiert Günther Birkenfels im Geleitwort seiner Sammlung Deutsche Lyrik der Gegenwart:

Wir begnügen uns, mit hergebrachten Formen, wenn die sittliche Kraft des Inhalts nur außergewöhnlich ist.

Doch die Trennung von ,Inhalt‘ und ,Form‘ verkennt das Wesen von Dichtung. Hantiert wird hier mit einem ganz äußerlichen, unzulässigen Formbegriff. Als handle es sich um einen Hohlraum, in den man einen Inhalt gießt (dessen man also bereits habhaft wäre). Form und Gehalt des Gedichts aber wachsen aneinander, stehen in einem inneren Bezug und werden untrennbar eins. Lyrische Form ist die Erscheinungsweise eines seelischen Gehalts; eine einmalige, unverwechselbare Sprachphysiognomie. Das Gedicht ist kraft der Form, in der sich der Gehalt niederschlägt. Gesinnung allein macht noch kein Gedicht. „Die sittliche Kraft des Inhalts“, der große moralische Gedanke fruchtet hier nichts, wenn er nicht als seelische Erfahrung die ihr gemäße Sprache findet, im Überschuß über die bloße Kommunikationsfunktion. Erfahrungen einer neuen Zeit lassen sich nicht objektivieren in der Sprache von gestern.
Die Frage nach dem, was der Lyrik gemäß ist, nach dem, was sie fordert, ihr Schranken setzt und sie rechtfertigt in der gewandelten Zeit, hat sich nicht gleich gestellt. Erst allmählich setzte die poetologische Reflexion ein.
Neben einer Lyrik des direkten Zeitbezugs gab es natürlich den Rückzug in die Idylle. Titel von Gedichtbänden der ersten Nachkriegsjahre sind hierfür symptomatisch. Sie heißen Das Weinberghaus und Die Silberdistelklause (Friedrich Georg Jünger), Iris im Wind, Alten Mannes Sommer, Die kühlen Bauernstuben (Waldinger), Abgelegene Gehöfte. Doch die Titel können irreführen, wovor Otto Knörrich uns zu Recht warnt. In dem letztgenannten Band von Günther Eich steht sein berühmtes Gedicht „Inventur“:

INVENTUR

Dies ist meine Mütze
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.

Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.

Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.

Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,

so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.

Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.

Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.

Dieses Gedicht aus Eichs erstem, nach dem Krieg veröffentlichten Gedichtband von 1948 schlägt einen ganz neuen Ton an, protoypisch für die ,Kahlschlagliteratur‘. Es gibt kein exemplarischeres Gedicht für sie als dieses: Wir sind ja inzwischen an asketische Kargheit in der Lyrik gewöhnt. Damals wird dieses Gedicht manche Lyrikfreunde schockiert haben. Nichts, was einem vertrauten Lyrikverständnis entgegenkäme, keine Melodik, kein Zauber der Stimmung, keine überhöhte Sprache, ganz schmucklos, kahl, nur schlichte Sachbezeichnungen in simplen, knappen Parataxen. Nomina ohne differenzierendes Beiwort und ein monotoner Rhythmus in kurzen vierzeiligen Strophen. Freilich, wenn wir uns auf diese Monotonie einhören, nehmen wir Variationen wahr; eine Verschiebung der Akzente, der Satzstruktur, ein Wechsel des Tempos: Auftakt in den Schlußversen von Strophe 1, 2, 5 und 6 („im Beutel aus Leinen“, „den Namen geritzt“, „zwischen mir und der Erde“, „die nachts ich erdacht“); „Konservenbüchse“ und „Bleistiftmine“, je einen Vers füllend, erhalten besonderen Nachdruck. Wir beobachten weiterhin ein Accelerando von Strophe 2 zu Strophe 3 durch die Wiederholung von „geritzt“. Auffallend ist die Enjambementstellung des einzigen eine menschliche Eigenschaft bezeichnenden Adjektivs „begehrlich“, die dieses nachdrücklich hervorhebt (zusätzlich noch ,begehrlich‘ und ,berge‘ in Alliteration). Weiter: eine Intensivierung durch die syntaktische Verklammerung von Strophe 4 und 5 und der Kontrast, der entsteht durch die gespanntere Syntax. Analog in Strophe 6 als Klimax des Berichts:

Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.

Die letzte Zeile ist durch Assonanzen besonders hervorgehoben. Das Objekt wird unter der Hand zum Subjekt. Dann in der Schlußstrophe, das Ganze abrundend, die Wiederaufnahme der Struktur der ersten Strophe, die Inventur fortsetzend, das viermalige anaphorische „dies“, jetzt als intensivierend empfunden. Keine Gefühlsaussprache, keine kommentierende Reflexion, nichts, das über den schlichten situativen Bericht hinausginge. Eine Bestandsaufnahme der Utensilien, die der Kriegsgefangene noch sein eigen nennt: Inventur. Der Reduktion auf den Besitzstand des Notwendigsten entspricht die Reduktion der Sprache. Die Nomina herrschen bei weitem vor, die gewöhnlichsten Gegenstände erhalten unerhörtes Gewicht: der ,Nagel‘ ist ,kostbar‘ geworden. In einfachsten Aussagesätzen statuiert das Ich seinen Besitz; die Kopula – „dies ist mein“ – genügt zur Satzbildung. Nur darauf kommt es an: daß die Dinge da sind und daß sie einem gehören, keine ,Ideen‘ und keine Werte, keine Moral und keine Metaphysik. Es gibt nur diese eingeengte Wirklichkeit des Lagers, in der dem Sprecher eine Handvoll von Dingen gehört. Er nennt sie einzeln beim Namen und eignet sie sich dadurch an, so wie Adam oder wie ein Kind in einer kindlichen Sprache. Es ist, als lernte er in diesem elementaren Dingbezug erst wieder sprechen. Es ist eine auf das Elementare reduzierte conditian humaine: nur ein Ich und die ihm zugehörigen schlichten Dinge des täglichen Gebrauchs, Mütze, Mantel, Rasierzeug; die Konservenbüchse muß als Teller und Becher herhalten, ein Nagel dient einem dazu, den Namen einzuritzen und so das Eigentum zu sichern.
Zwischenmenschliche Beziehungen werden nur einmal angedeutet, negativ in Strophe 3: der Nachbar als potentielle Gefahr. Mit der Moral steht’s schlecht, wenn die Dinge knapp werden. Das Ich zieht sich zurück auf ein paar unspezifizierte Heimlichkeiten, die der Brotbeutel birgt. Am liebsten aber ist ihm die Bleistiftmine: Sie ermöglicht die Niederschrift des Gedichts und erhält erst in dieser elementar reduzierten Situation ihr volles Gewicht. Das Ding wird zum Subjekt. Es ist der Bleistift, der die Gedichte schreibt. In der Schlußinventur deshalb das Notizbuch und der wichtige Zwirn, um das Alte und Zerrissene zu flicken, um das Alte zu erhalten. Kein Wort der Deutung, aber ein wirkliches Gedicht besagt immer mehr als es ausspricht. Die nackte Bestandsaufnahme des primitiven Inventars, rhythmisch phrasiert und strukturiert, redet eine höchsteindringliche Sprache. Indem das Ich seine Dinge beim Namen nennt, vergewissert es sich seiner existenziellen Wirklichkeit. Das aber impliziert die Entscheidung, weiter Gedichte zu schreiben. Der Horizont eines sinnvollen Lebens öffnet sich in den Worten des Gedichts trotz der deprimierenden Pervertierung der menschlichen Situation. Dafür findet es eine adäquate Sprache.
Eichs „Inventur“ war von großer Wirkung auf die neue Lyrikergeneration. Das Gedicht war von Bedeutung für die Konstituierung der Gruppe 47. Noch 1962, als ein Almanach der Gruppe 47 zu ihrem 15jährigen Bestehen ediert wurde, schrieb Hans Werner Richter:

Aus dieser Absicht wandten sie sich gegen die ,Kalligraphen‘, wie sie die Schönschreiber der Vergangenheit nannten, begannen die Sklavensprache zu reden, sie vom Gestrüpp der Propagandasprache zu reinigen […] die Kahlschläger fangen in Sprache, Substanz und Konzeption von vorn an. Es sei erlaubt, das, was ich meine, durch ein Gedicht zu exemplifizieren, durch die außerordentlichen Verse Günter Eichs, die er „Inventur“ überschrieben hat […].

Zugleich mit Eichs erstem Gedichtband erschienen 1948 die ersten Nachkriegsveröffentlichungen von Benn, Huchel und Krolow, auch das erste Buch (freilich bald aus dem Verkehr gezogen und ohne Wirkung) von Paul Celan. Erst 1952 erschien (nach einer Lesung in der Gruppe 47) der Gedichtband Mohn und Gedächtnis, an den sich Celans Ruhm knüpft. 1953 folgte Ingeborg Bachmanns Debüt mit Die gestundete Zeit. 1951 hatte Gottfried Benn seinen Marburger Vortrag „Probleme der Lyrik“ gehalten, der Grundzüge einer Poetik für junge Dichter formulierte und der in der deutschen literarischen Öffentlichkeit den Begriff des modernen Gedichts geprägt hat. Man hat mit gutem Recht das auf 1948 folgende Jahrzehnt als die ,Ära Benn‘ etikettiert. Benn war in vieler Hinsicht die zentrale Dichterpersönlichkeit jenes Dezenniums. Sein Tod 1956 (auch das Todesjahr Brechts, der jedoch als Lyriker in der Bundesrepublik erst posthum voll und intensiv rezipiert wurde) fällt mit der Artikulation einer neuen Dichtergeneration zusammen. 1957 erschien Enzensbergers Gedichtband verteidigung der wölfe. 1948 war auch das Jahr der Währungsreform, was auch „auf dem Gebiet der Lyrik“, wie Krolow sagt, „andere Verhältnisse schuf“. Die Überwindung der materiellen Not und die Konsolidierung der politischen Situation führte zu einer Schwächung des sozialen Engagements und zum Erlahmen des politischen Erneuerungswillens. Kein Zweifel, dieses geistige Klima begünstigte die Rezeption von Benns Lyrik mit ihrem resignativen Tenor und antihistorischen Affekt. Das Erlebnis der Form öffnet den Zugang zur Dimension des Seins, der einzige, der in der allgemeinen Sinnleere noch verbleibt. Kunst ist die nun noch mögliche Metaphysik, jenseits unserer geschichtlichen Bedingtheit, unserer schicksalhaften Zeitverfallenheit. Die Ära Benns war auch die des philosophischen Existenzialismus.
Sein Marburger Vortrag war eine Rekapitulation symbolistischer Poetik, wodurch aber Vergessenes wieder ins allgemeine Bewußtsein gehoben wurde. In scharfer Pointierung werden die Grundthesen herausgestellt: die Distanz zum empirischen Autor-Ich; der hohe Anspruch der Form; die qualitative Differenz des lyrischen Sprachbewußtseins; die geschärfte Reflexion über das Spezifische der Gattung. Begriffe wie ,absolutes Gedicht‘, ,poésie pure‘, ,hermetische Lyrik‘ beherrschten von da an die ,Lyrik-Diskussion‘. Der Begriff der ,Artistik‘ wurde im Sinne Nietzsches zu einem Gütezeichen. Der Terminus ,lyrisches Ich‘ ist in den Germanistikseminaren unentbehrlich geworden.
Bedenkt man Benns Wirkung, ist zu unterscheiden zwischen der Wirkung seiner Poetik und der seiner Dichtung. Theorie und Praxis sind bei ihm durchaus nicht kongruent. Bei allen kritischen Vorbehalten gegenüber Benns Theoremen: Das von ihm geforderte formale Niveau blieb maßgebend für Dichter, die gegen ,Artistenmetaphysik‘ und ,monologische Lyrik‘ opponierten. Von den beiden Grundtypen seiner Lyrik: den Kondensaten der Reimstrophen in hoher Stillage und dem gelockerten Duktus der freirhythmischen Parlando-Gedichte mit ihren idiomatischen Wendungen und montierten Zitaten, waren es letztere, von denen ein bedeutender Einfluß ausging, über die Ära Benns hinaus. Enzensberger hat von ihnen gelernt.
Ich will versuchen, den chronologischen Überblick in wenigen Sätzen zu einem gewissen Abschluß zu bringen, damit noch Raum bleibt für den Nahblick auf ein repräsentatives Gedicht, womit dieser Vortrag enden soll.
Neben der symbolistischen Dichtung, wie sie Benn wirkungsvoll vertrat, war die andere für jene Phase der Nachkriegslyrik charakteristische Richtung die der Naturlyrik. Auch ihr bereitete das Abflauen des reformerischen Elans der ersten Nachkriegsjahre das günstige Rezeptionsklima. Im Gegensatz zu Benns primär von sprachlichen Impulsen bewegtem Dichten, geht die Naturlyrik von den ,Dingen‘ aus, den heil gebliebenen, für unverwüstlich gehaltenen Dingen der Natur. Die Vorbilder waren Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann (der ja noch mit zu den Autoren der Epoche gehört). In Abhebung von romantischer Stimmungslyrik soll die Natur, als ein dem Menschen Fremdes, in ihrem eigenen Sein begriffen werden. Der Dichter sucht mit geschärften Sinnen die konkreten Phänomene zu erfassen und durch ihre sinnliche Erfahrung hindurch zu ihren inneren Dimensionen durchzudringen. ,Seinsdichtung‘ hier und dort. Auch hier entfernt sich eine jüngere Generation von diesem Anspruch.
Die Antithetik eines ,Dichtens von der Sprache her‘ und eines ,Dichtens von den Dingen her‘ hat nur relative Gültigkeit. Auch die Naturlyrik ist Dichtung allein durch die besondere Qualität ihrer Sprache. Nur kraft der Sprache kann sie die Dinge ,zum Sprechen bringen‘, ,beschworen‘ im Sinne des ,magischen Realismus‘ ihres Programms. Wir halten fest: Auch das moderne Naturgedicht von Rang ist gekennzeichnet durch das neue Formniveau, das neue Sprachbewußtsein.
Die Naturlyrik der Epoche läßt sich nicht auf einen Nenner bringen; auch nicht auf den soziologischen der Flucht aus der politischen Realität. Abgesehen von den beträchtlichen Qualitätsunterschieden gibt es sehr disparate Manifestationen. Es gibt formalistische und verspielte Gedichte (Dietrich Schäfer hat Züge einer neuen Anakreontik entdeckt). Es gibt Elisabeth Langgässers dynamische Evokationen vegetativen Lebens in der Perspektive christlicher Transzendenz. Peter Huchel enthüllt in der sichtbaren Natur urtümlich Mythisches. Und zugleich enthält seine Naturlyrik einen klaren zeitgeschichtlichen Bezug. Das ewige Sein der Natur zeigt die Spuren zerstörerischen Zeitgeschehens. Die Problematisierung des Naturbezugs bestimmt entscheidend die dichterische Produktion Günter Eichs. Das Naturgedicht wird zum politischen Gedicht.
Ich kann leider nicht mehr – selbst in dieser großen Verkürzung – auf die neuen Tendenzen eingehen, die seit den ausgehenden fünfziger Jahren die deutsche Lyrik-Szene geprägt haben: Konzept und Praxis eines neuen politischen Gedichts, inauguriert durch H.M. Enzensberger (Jahrgang 1929) – und die andere gegenläufige Richtung des sprachlichen Experiments und der Konkreten Poesie, für die von Helmut Heißenbüttels Reflexionen und Produktionen die wichtigsten Impulse ausgingen.
Die Bewegung ist international. Das deutschsprachige Spektrum ist überaus mannigfaltig: denkt man nur an die profiliertesten Vertreter – Helmut Heißenbüttel, Eugen Gomringer; Franz Mon, dann die Wiener Gruppe: Gerhard Rühm, Hans Carl Artmann, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Der Versuch einer Charakteristik und Wertung in wenigen Minuten wäre sinnlos. In meinem Kontext soll nur daran erinnert werden, daß auch die neue Konzentration auf die Immanenz der Sprache – nicht anders als die artistische Technik Enzensbergers – ihre Wurzeln im Symbolismus hat. Harald Weinrich schrieb in bezug auf Mallarmé „Man kann nicht genug unterstreichen, daß die Lyrik seit Mallarmé begonnen hat, eine neue Dimension zu entdecken. Es geht nicht mehr […] darum, die Welt in intuitiver Mimesis oder in streng realistischem Protokoll abzubilden. Es geht um die Sprache, vielleicht nur um die Sprache. ,Vielleicht nur um die Sprache‘, ein kryptisches Wort, das verschiedener Auslegungen fähig ist. Eugen Gomringer hat den späten Mallarmé als seinen Ahnherrn genannt. Es geht auch jetzt wieder ,nur um die Sprache‘, freilich auf eine neue, in der Perspektive von Mallarmés Spracherfahrung und -gestaltung, reduzierte Weise. Wobei die Grade der sprachlichen Reduktion und ,Verdinglichung‘ sehr verschieden sind. Auch die Repräsentanten der ,Konkreten Poesie‘ haben gegenüber ihren Kritikern auf der gesellschaftlichen Relevanz ihres Schreibens insistiert: seine spezifische Funktion sei eine kritische Selbstbegegnung der Sprache, eine kritische Selbstüberprüfung, von der man sich eine regenerative Wirkung erhoffe.
Auch die dichterische Leistung des jungen Enzensberger kann ich hier nicht würdigen, seine intendierte Synthese von Artistik und Engagement. Nur einige Worte über die Problematik moderner politischer Lyrik: die Spannung zwischen ihrem ,Gebrauchswert‘ und ihrer ästhetischen Seinsweise. Enzensberger war sich dieser Problematik sehr bewußt. Als Theoretiker betonte er, in Übereinstimmung mit Adorno (Lyrik und Gesellschaft), daß Lyrik qua Lyrik ein Politicum darstelle. Moderne Lyrik sei allein durch ihre Existenz in Opposition zu einem dem Menschen feindlichen Weltzustand. Die politische Relevanz wäre demnach schon durch ihre besondere Sageweise bestimmt. Gleich Adorno argumentiert Enzensberger, daß das Gedicht seinem politischen Anspruch am gerechtesten wird, wo es sein Wesen am reinsten erfüllt. Wenn es seinen sprachlichen Oppositionscharakter verliert, ist es um seine Chance gebracht. Die erforderliche Indirektheit der Darstellung, der hermetische Charakter des Gedichts hat jedoch zur Folge, daß seine intendierte Wirkung empfindlich eingeschränkt bleibt. Enzensberger spricht von einer ,Zwickmühle‘, die erst „gesprengt wäre von einem Dichter, der weder die Dichtung um ihrer Zuhörer, noch die Zuhörer um der Dichtung willen verrät.“ Und er schließt resignierend: „auf diesen Dichter werden wir noch lange, vielleicht vergeblich warten müssen.“
In seiner poetischen Praxis hat Enzensberger resolut aktuelle Themen aufgegriffen. Als er die erhoffte gesellschaftsverändernde Wirkung nicht erkennen konnte, hörte er auf, Gedichte zu schreiben, und vertauschte (für mehrere Jahre wenigstens) die Lyrik mit der Publizistik.
Artistik und Engagement, Artistik und existenzielle Aussage verbindet die Lyrik Paul Celans auf einzigartige Weise. Daß ,Lyrik nach Auschwitz‘ dennoch möglich wurde, verdanken wir in hohem Maße diesem deutsch-jüdischen Dichter, der, in seiner „eigensten Sache“ sprechend, die niederdrückende allgemeine Sache ins Wort brachte, der dennoch Lyrik schrieb und – dennoch deutsch. Das verwandelte Gesicht, das die genuine deutsche Lyrik seiner Generation zeigte, hat Celan, die Voraussetzungen und Tendenzen einer neuen Poesie zusammenfassend, folgendermaßen charakterisiert:

Die deutsche Lyrik […], Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdiges um sich her, kann, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint.

Die Sprache, die sie spricht, ist notgedrungen eine ,grauere Sprache‘.
Celans Hermetik verbirgt und enthüllt den Zeit- und Lebensbezug, sie schützt und bewahrt die Substanz. Darin ist sie, in Intention und Struktur, Günter Eich und Ingeborg Bachmann verwandt. Celans Dichtung verschmilzt die sprachliche Kühnheit des Surrealismus mit der formalen Disziplin des Symbolismus, assoziative Freiheit mit der Strenge kompositorischer Integration. Auf diese Synthese war seine Dichtung von ihren Anfängen an angelegt, seit Celan von den Bukarester Surrealisten konstitutive Impulse erhielt. Er bekannte sich zeitlebens zum Anarchischen und Absurden. In seiner Büchnerpreisrede deutet er den Ausruf Luciles in Büchners Danton-Drama, den Ausruf: „Es lebe der König“, dieses absurde Wort, das die wohlgesetzte und hohle Rhetorik der Umstehenden durchbricht, als Gleichnis des dichterischen Wortes, das unter dem Druck und den Zwängen der Zeit zu ihrem „Gegenwort“ wurde und zu einem „Akt der Freiheit“.
Darum bedarf der Dichter des wachsten Bewußtseins seiner Zeitgenossenschaft. Gegenüber den möglichen Akzentuierungen des ,Historischen‘ und des ,Ewigen‘ setzt Celan den „Akut des Heutigen“.
Celan reißt in seiner Büchner-Preisrede die Antithese von ,Kunst‘ und ,Dichtung‘ auf, um dann für die Vereinigung der beiden antagonistisch gesehenen Prinzipien einzustehen. Die ,Kunst‘ ist fragwürdig geworden. Von ihr darf nicht mehr als von einem „unbedingt Vorauszusetzenden“ ausgegangen werden. Celan deckt die Perversionen des künstlerischen Triebs auf, eine leblose Künstlichkeit: das Inhumane eines manischen Formwillens, der das Leben erstarren läßt – ,Automaten‘ und ,Medusenhaupt‘. Die Kunst erscheint als ein „Hinaustreten aus dem Menschlichen […] in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich“. Ausgehend von dieser Diagnose statuiert Celan die Antithese von Kunst und Dichtung. In Opposition zu Künstelei und Phrasen, deren Firnis von Anempfundenem und Angelerntem, Täuschung und Selbsttäuschung, wahrt Dichtung den elementaren Lebensbezug, dem sie entspringt und authentischen Ausdruck verleiht. In der Dichtung spricht, diesseits des begrifflichen Inhalts, das Elementische der Sprache unmittelbar in ihrer rhythmisch beseelten Körperlichkeit: und hat das Signum der ,Echtheit‘, wie ein ,Händedruck oder Blick‘ (Max Kommerell). Wer das Organ dafür besitzt, wird angesprochen, auch wenn er nicht, oder gerade weil er nicht ,gebildet‘ ist, „jemand der hört und lauscht und schaut… und dann nicht weiß, wovon die Rede war“, wie Lucile, „die Kunstblinde, […] für die Sprache etwas Personhaftes und Wahrnehmbares hat“, die Sprache erfährt „als Gestalt“ und „Atem“.
Der originäre lyrische Impuls verbindet die rhythmische Sprachgestaltung mit der Aussage des Ich (ein bloßes ,Hantieren‘ mit dem ,sogenannten Sprachmaterial‘ in der Weise der Konkreten Poesie – so formulierte es Celan – lehnte er heftig ab). Das Gedicht bleibt ihm – und ,deutlicher noch als bisher‘ – „gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen“, „der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel […] seiner Kreatürlichkeit spricht“. „Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben“, es „bleibt seiner Daten eingedenk“. Die der Lyrik wesensgemäße Selbstaussage drängt aber – ihrem Impuls nach nicht minder wesensgemäß – über die Grenze des Individuellen hinaus:

Das Gedicht spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache.

Aber es gehört ja „von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts […] gerade auf diese Weise auch […] in eines anderen Sache zu sprechen.“ „Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.“ Das Gedicht sucht die Begegnung. Es steht im „Geheimnis der Begegnung“. „Es wird Gespräch, oft ein verzweifeltes Gespräch.“
Dieser von der Dichtung intendierte Dialog, aus ihrem Geist der Kreaturverbundenheit und Mitmenschlichkeit, bedarf aber zu seiner Verwirklichung der Kunst. Um das nur ihm Sagbare zu sagen, muß das Gedicht „die Wege der Kunst gehen“. Die aufgerissene Antithese von Kunst und Dichtung fordert die Synthese. „Sollen wir Mallarmé konsequent zu Ende denken?“, fragt Celan in seiner Rede. „Das absolute Gedicht“, wehrt er ab, „nein, das gibt es gewiß nicht; das kann es nicht geben.“ Doch er fügt hinzu: „Aber es gibt wohl mit jedem wirklichen Gedicht […] diesen unerhörten Anspruch.“ Dieser Anspruch ist durch die Entwicklung der Lyrik, durch das erreichte künstlerische Niveau gesetzt. Die von Celan erstrebte Dichtung hat dem Anspruch zu genügen, den die große Tradition der modernen Lyrik unabweisbar erhebt. Celan ist der Erbe der poetischen Errungenschaften des Symbolismus, so wie er den Impulsen und Techniken des Surrealismus verpflichtet ist. Durch die ihr dort erschlossenen Möglichkeiten bleibt die folgende Lyrik bestimmt. Celan spricht von dem schärferen Sinn für das Detail, für Umriß, für Struktur, für Farbe, für die „Andeutungen“, desgleichen von dem „rapideren Gefälle der Syntax“, dem „wacheren Sinn für die Ellipse“. Es bleibt das Streben nach Präzision „bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks“. Es bleibt aber auch die Erfahrung der ihr gesteckten Grenzen, es bleibt und verschärft sich die der modernen Lyrik inhärente Problematik.
Hierzu nun der angekündigte Nahblick auf ein Celan-Gedicht in seiner Interpretation:

SCHIBBOLETH

Mitsamt meinen Steinen,
den groß geweinten
hinter den Gittern,

schleiften sie mich
in die Mitte des Marktes,
dorthin,
wo die Fahne sich aufrollt, der ich
keinerlei Eid schwor.

Flöte,
Doppelflöte der Nacht:
denke der dunklen
Zwillingsröte
in Wien und Madrid.

Setz deine Fahne auf Halbmast,
Erinnrung.
Auf Halbmast
für heute und immer.

Herz:
gib dich auch hier zu erkennen,
hier, in der Mitte des Marktes.
Rufs, das Schibboleth, hinaus
in die Fremde der Heimat:
Februar. No pasaran.

Einhorn:
du weißt um die Steine,
du weißt um die Wasser,
komm,
ich führ dich hinweg
zu den Stimmen
von Estremadura.

Im Vergleich mit früheren Gedichten Celans hören wir hier einen ganz neuen Ton: Statt der früheren breit dahinströmenden, daktylisch schwingenden Rhythmik der Langzeile der pausenreiche, langsame Fluß der Kurzverse in gedämpftem Melos; jedes Wort ist mit Nachdruck zu sprechen.
Die ehemals üppige surrealistische Metaphorik, die traumhaft gleitende Bilderfolge in buntem Wechsel, weicht einer kargeren, konzentrierteren Bildgebung. Nur einige Dinge werden aufgerufen („Steine“, „Gitter“, „Fahne“, „Flöte“), für sich allein stehend, in zwischen ,eigentlich‘ und ,uneigentlich‘, konkret und abstrakt changierender Bedeutung (Hans Dieter Schäfer spricht vom „Verhauchen des Materiellen“). Wenn früher ein ganzer Satz die lange Zeile füllte, so ist er jetzt über eine ganze Reihe von Kurzversen verteilt, auf diese Weise rhythmisch gegliedert und gedehnt, die einzelnen Glieder profiliert. Das einzelne Wort wird isoliert und erhält so volles Gewicht. Unabhängig von seiner Funktion im Satz entfaltet es seine ganze semantische Evokation: Steine, Flöte, Herz, Einhorn, jedes der vier Wörter leitet eine der vier Strophen ein, die letzteren drei bilden jeweils allein den Eingangsvers einer Strophe, der die syntaktische und rhythmische Bewegung über die folgenden Verse hin auslöst.
Das Gedicht dokumentiert Celans Stilwandel, gekennzeichnet durch Reduktion des Sprachmaterials, Dämpfung der Musikalität, Stauung des Rhythmus, Profilierung des einzelnen Wortes, Konzentration im Duktus der Strophe, die sich oft aus der präludierenden Evokation eines einzigen Wortes entfaltet.
,Schibboleth‘ ist hebräisch das ,Erkennungszeichen‘, ,Losungswort‘. Das Wort als Losungswort von Verbündeten. Ein anderes ist das „No pasaran“ am Ende der vorletzten Strophe („sie werden nicht durchkommen“), Kampfruf der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg. Am 28. März 1939 eroberten die Faschisten Madrid: Noch im Februar war der Ruf Ausdruck verzweifelter Hoffnung: „Februar. No pasaran.“ Er wird im Gedicht selbst als „Schibboleth“ bezeichnet. „Das Gedicht ist seiner Daten eingedenk.“ Ein Datum der Geschichte, aus dem Spanischen Bürgerkrieg, dessen wechselvoller und tragischer Verlauf von uns Zeit- und Gesinnungsgenossen mit Celan unter größter Aufmerksamkeit und mit tiefer Anteilnahme verfolgt wurde, in seiner repräsentativen Bedeutung und dem ihm zukommenden Gewicht in der weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Faschismus.
An ein anderes, simultanes historisches Datum, das gleicherweise dem Beginn des Zweiten Weltkriegs vorangeht und ihn vorbereitet, erinnert der Hinweis auf Österreich in enger Verbindung mit Spanien in dem Bild der „dunklen / Zwillingsröte / in Wien und Madrid“ der vorangehenden zweiten Strophe: Die Ineinssetzung weckt die Assoziation an die einstmalige habsburgische Weltmacht mit den Brennpunkten Wien und Madrid. Jetzt aber ist das Verbindende die gemeinsame Rolle eines Wegbereiters für die grausige Hegemonie Hitler-Deutschlands in Europa und den Sturz in die Katastrophe. Am 28. März eroberten die Franco-Faschisten Madrid; ihr Sieg war eine wichtige Rückenstärkung für Hitler. Am 13. März waren Hitlers Truppen in Wien einmarschiert: die erste Etappe seiner Annexionen, die Weichenstellung für seine Gewaltpolitik über Deutschland hinaus. Die „dunkle Zwillingsröte von Wien und Madrid“ ging der Nacht des nationalsozialistischen Terrors über Europa voraus; der Verdunkelung elementarer Menschlichkeit, in der die Juden Europas der totalen Vernichtung preisgegeben wurden. Celan setzt das zeitgeschichtliche Geschehen mit dem der Bibel ,in-eins‘ (In eins ist ein motivverwandtes Gedicht aus dem Band Die Niemandsrose, in dem es gleichfalls um die Erinnerungssynthese disparater Daten unter dem einheitlichen Aspekt des Kampfes für humane Freiheit geht), da hier und dort das Überleben der Juden auf dem Spiel stand. Das Gedicht löst das „No pasaran“ wie das „Schibboleth“ aus ihrer geschichtlichen Einmaligkeit und verwandelt die real gesprochenen Worte zu Chiffren des von ihm gestifteten Sinnzusammenhangs, der das zeitlich Getrennte unter einer umfassenden Perspektive zur inneren Einheit verbindet.
Der hier „ich“ sagt, erlebt sich selbst in der Erinnerung als Objekt brutaler Gewalt. Er wurde in „die Mitte des Marktes“ „geschleift“; er hat sich geweigert, vor der ,aufgerollten Fahne‘ seiner Feinde irgendeinen „Eid“ zu ,schwören‘. Die beiden ersten Strophen sind strukturiert in der Opposition von Enge und Weite (,Welt hinter Gittern‘ – ,Weite des Marktes‘), von Intimem und Öffentlichem (,großgeweint‘ – ,aufgerollte Fahne‘).
„Mitsamt meinen Steinen“ in Vers 1 wirkt zunächst für sich allein, evoziert die Schwere der dem Ich aufgebürdeten, es niederdrückenden Last. In Vers 2 folgt das attributive Partizip „großgeweinten“. Die geräumige, evokative Wortschöpfung, für sich stehend den ganzen Vers füllend, determiniert das Beziehungswort als Metapher: die „Steine“ sind verhärtete Tränen, Niederschlag übergroßen Schmerzes, Rückstand hilflosen Weinens als seelische Erstarrung. ,Stein‘ ist in Celans Gesamtwerk eine der meistverwendeten Chiffren, die u.a. auf erstarrtes Leben hindeutet. In einem anderen Gedicht wird in der Perspektive der Utopie der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß „der Stein sich zu blühen bequemt“.
Eine andere häufige Chiffre ist „Gitter“, zentral in dem nächsten Gedichtband Sprachgitter. (Von einem „Gitter-Ich“ spricht Gottfried Benn.) „Hinter den Gittern“ in Vers 3 steht zunächst für die Isolierung, die Ausgesperrtheit des Ich. Es deutet zugleich – auf die reale Situation des Gefangenen, der aus seiner Zelle „in die Mitte des Marktes geschleift“ wird. Die Bedeutungsebene der realen vorgestellten Szene erweitert sich in ihrer inneren Dimension zu der seelischen Wirklichkeit des dem öffentlichen Terror preisgegebenen, einsam leidenden Ich im allgemeinen. Die Situation des versteinernden Schmerzes und des eingegitterten Ich erscheint statuarisch herausgehoben in den ersten drei Versen, die als bloßes Satzfragment eine eigene Strophe bilden. Erst nach der durch den typographischen Zwischenraum markierten Pause kommt abrupt Bewegung in die Starre, ein Satz formt sich im 1. Vers der zweiten Strophe, das Prädikatsverb ist durch seine Stellung im Verseingang dynamisiert, in seinem Schatten die beiden Personalpronomina: das „sie“ als anonymes Subjekt, im „mich“ das Ich als Objekt: „schleiften sie mich“. Die Bedeutung roher Gewalttat, die dem Verb eignet, erhält durch den Rhythmus allen Nachdruck. Dazu kommt, daß vorerst das noch nicht weiter determinierte ,schleifen‘ für sich wirkt in seiner vollen semantischen Evokation.
Im zweiten Vers wird dann die Aussage ergänzt, erhält das Verbum seine leitende Richtung: „in die Mitte des Marktes“. Der Vers ist länger, rhythmisch bewegter durch den Schwung der alliterativen Bindung mit dem Ausklingen in einer ersten Klimax, in der die bisher gebrochene Aussage zu einem vorläufigen Abschluß kommt. Im folgenden, auf zwei Silben verkürzten Vers sammelt sich alle Intensität in einem einzigen Wort, dem deiktischen „dorthin“, aufschnellend wie ein ausgestreckter Arm, die elementare Geste des Zeigens in die Sprache mischend: Direkte sinnenhafte Gegenwart durchbricht den präteritalen Bericht. Auf diese rhythmische Kontraktion folgt die ausladende Bewegung des vorletzten, überlangen Verses, in dem, zusammen mit dem letzten, die Aussage gipfelt. Im Kontrast zu der hinausgezögerten, langsamen Formierung eines einfachen Aussagesatzes über fünf Verse hin, spannt sich nach dem Drehpunkt des „dorthin“ der Bogen der Syntax und strafft sich der Rhythmus in dem abschließenden hypotaktischen Gefüge zweier Nebensätze:

wo die Fahne sich aufrollt, der ich
keinerlei Eid schwor.

Der erste berichtet über das Geschehen auf der Stelle, auf die das erregte „dorthin“ den Blick lenken wollte, der zweite, dem ersten untergeordnet, verkündet die Reaktion des Ich auf dieses Geschehen. Das abrupte Enjambement zerreißt den Relativsatz in scharfem Schnitt nach den ersten zwei Wörtern, Subjekt und Prädikat eigenwillig trennend. Der metrischen Norm gemäß würde der Relativsatz zur Gänze den letzten Vers füllen. So erhält das „ich“ in seiner vorgeschobenen Stellung am Ende des vorangehenden Verses und seiner Isolierung aus seinem Satzzusammenhang stärkstes Gewicht. Das Wort fällt zum erstenmal. Aus „mich“ ist „ich“ geworden, aus dem hilflosen Objekt der Gewalt ein Subjekt, das sich ihr in freier Willensentscheidung widersetzt. Über die syntaktische Aussage hinaus profiliert die Struktur des Verses die Opposition von „Fahne“ und „ich“. Die Fahne, Emblem der feindlichen Macht, beherrscht die Szene auf dem Marktplatz, scheint selbständig zu agieren: „wo die Fahne sich aufrollt“, Repräsentant einer kollektiven unpersönlichen Dynamik – diejenigen, die sie de facto ,aufrollen‘, sind bloße Instrumente der Macht –, darum wird die Fahne zum Subjekt des einen Satzes. Das des anderen ist das personale, zu sich selbst erwachte Ich, das ihrem Zwang Widerstand zu leisten vermag. Sein Erwachen aus der Erstarrung findet seinen Ausdruck in der wachsenden Energie der Satz- und Versbewegung. Aus der dem Ich in der Erinnerung zugewachsenen seelischen Kraft ist es entschlossen, sich selbst treu zu bleiben, mit den Imperativen des nie zu verdrängenden Gedankens des grauenvollen Geschehens und des immer neu zu bewährenden Mutes im Bekenntnis zu den gefährdeten Werten humaner Existenz. Aus dem Aussagesatz der ersten beiden Strophen, der an den nationalsozialistischen Terror erinnert, resultieren Appelle, Appelle des sich erinnernden Ich an sich selbst: an sein Dichten, Denken und Tun.
Eine Steigerung dreifachen Anrufs strukturiert den weiteren Verlauf des Gedichts: „Flöte“, „Herz“, „Einhorn“. Ein Schlüsselwort präludiert, wie so oft bei Celan, einer Strophe und entfaltet sich in ihr. „Flöte“ schwillt an zu „Doppelflöte der Nacht“. Man mag zunächst die Nacht als Stimmungsraumassoziieren, deren Schweigen das süße Tönen eines einsamen Flötenspiels durchbricht (Hofmannsthal: Gianino „Da schwebte durch die Nacht ein süßes Tönen, / Als hörte man die Flöte leise stöhnen“). Doch die hier gemeinte Nacht ist wesentlich die des Vergessens, aus deren Schoß Erinnerung aufsteigt. Und es ist die Nacht des Schreckens, den das Gedicht innerlich bewältigen soll. „Flöte“ ist Chiffre für die ihr abgerungene Lyrik, eine Lyrik, die ihrer Daten eingedenk bleiben soll:

Flöte, […] denke der dunklen
Zwillingsröte

Der „Zwillingsröte“ ist die „Doppelflöte“ zugeordnet. Der volle Akkord der beiden Instrumente entspringt der Erinnerung an die beiden historischen Daten, zwei Etappen auf dem Weg in die Katastrophe, die in eins gesehen werden. Die besonderen Daten der Erinnerung motivieren die allgemeine Aufforderung an sie:

Setz deine Fahne auf Halbmast,
Erinnrung.
Auf Halbmast
für heute und immer.

Diese Konsequenz aus dem ,Denken‘ der „Flöte“ wird in einer eigenen Strophe gezogen. Ein logischer Zusammenhang, wenn auch nicht der eines einzigen Satzes, ist auf zwei Strophen verteilt. Die Pause zwischen den beiden Strophen gibt dem Schweigen Raum, in dem die Worte der Appelle sich sammeln, der ihnen Nachdruck verleiht. Die Fahne des Ich kontrastiert mit der Fahne des Marktes. Es ist die Fahne der Trauer. Das Ich ist zur Trauerarbeit entschlossen, „heute und immer“.
Der Aufforderung zum Eingedenksein folgt die Aufforderung zu mutigem Bekennertum, dem Blick in die Vergangenheit die Bewältigung der Gegenwart (Celan will in seiner Dichtung „Akut des Heutigen“ setzen). Der Appell richtet sich an das „Herz“ als der integrierenden, bewegenden Mitte des Ich. Das Bild der „Mitte des Marktes“ wird wiederholt. Der Markt der Macht ist immer Gegenwart, das gestische „Hier“ verweist emphatisch darauf. Er fordert zum Bekenntnis heraus. Sich nicht vor der Fahne ducken, die dort prunkend „sich aufrollt“. Der Eid, den das Ich schwört, gilt seiner Fahne, die „auf Halbmast“ gesetzt ist. Es ist nicht allein, es weiß von den ihm im Geiste Verbündeten. Es kennt das Losungswort; das „Schibbolet“ des Titels steht erstmals im Text, aufgeladen mit dem im Gedicht entfalteten seelischen Gehalt. Das Herz soll es hinausrufen in die deutsche Heimat, die dem Geächteten zur Fremde geworden ist, das trotzige spanische „Schibboleth“ „No pasaran“. Die Feinde der Utopie des Menschen, seiner Vermenschlichung, werden nicht obsiegen. Der Appell an das Herz entfaltet sich im leidenschaftlichen Atem des ungebrochenen Duktus der einen Strophe.
Auch der folgende, abschließende Anruf ist in eine Strophe gefaßt. Sein Adressat ist das „Einhorn“; überraschend nach den geschichtlichen Bezügen die Nennung eines Geschöpfes der Imagination aus Mythos und Legende. Nach der starken Bewegtheit der vorausgehenden Strophe ein leiser Ton. Kein Imperativ, sondern die zweimalige vertrauliche Anrede „du weißt“, sanft beschwörend, zwei schlichte, parallel gebaute Sätze einleitend. Was hier gesprochen wird, bleibt dunkel. Das Wort „Steine“ der Anfangszeile fällt wieder. Es evoziert wohl den gleichen Bedeutungszusammenhang, aber auch Grabsteine. Wasser meint Tränen. Das Einhorn weiß um den Schmerz, die Trauer, die Tränen, die Toten. Nach dem Drehpunkt des leise flehenden „komm“ (als einzigen Worts des Verses) wechselt die Perspektive vom „du“ zum „ich“. Das ,Ich‘ führt das Einhorn fort – und jetzt wird wieder der Bezug zur Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs geknüpft: Die Provinz „Estremadura“ war Schauplatz erbitterter Kämpfe. Der Satz gleitet langsam über drei Verse dem Ende zu, in der Kadenz des melodischen spanischen Namens verklingend. Die Stimmen, die dort zu hören sind, sind die Stimmen der Toten. Ist das geheimnisvolle Einhorn das Symbol des Gedichts, das um all das Schmerzvolle der Erinnerung weiß und es in sich birgt, verwandelt hat in Schönheit? Spiegeln die widersprüchlichen Eigenschaften des mythischen Tiers – Reinheit und erotischer Zauber die antithetische Struktur des Gedichts, das es wagt, Extreme, Politik und Poesie, in eins zu setzen? (Vielleicht meint auch die „Döppelflöte der Nacht“ diesen Gegensatz und die Prägung des Gedichts durch ihn.)
Aber es bietet sich auch eine andere Deutung an. Seit Szondis Interpretation des Gedichts „Eden“ aus Schneepart (1971) wissen wir, daß Celan nur für ihn selbst oder für einen einzigen Adressaten erkennbare autobiographische Erfahrungen in seine Gedichte eingebracht hat. Chalfens Celan-Biographie berichtet von Celans Jugendfreund Erich Einhorn (1920–1974), mit dem ihn eine innige Beziehung verband. 1936 verbrachten die Freunde gemeinsam ihre Sommerferien. Weihnachten 1938 besuchte Erich Einhorn Celan in Paris, beide Begegnungen standen unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs, der am 18.7.1936 ausbrach. Während seines Studienaufenthalts in Tours 1938 erfuhr Celan von spanischen Emigranten Einzelheiten über die Gewalttaten der Faschisten. Es liegt nahe, daß er Erich Einhorn in Paris davon berichtete. Einhorn wußte auch, daß sich Celan in der „Mitte des Marktes“ zu erkennen gab. Er begeisterte sich nicht nur für die anarchistischen Schriften Kropotkins und Landauers, sondern sammelte auch im Sommer 1936 für die Rote Hilfe, für die republikanischen Kämpfer in Spanien. Einhorn hatte 1941 Czernowitz verlassen und sich den russischen Truppen angeschlossen; erst 1962 gelang es Celan, die Adresse des Freundes in Moskau ausfindig zu machen und die Beziehung zu erneuern. Das Gedicht enthüllt sich von diesen Daten her als ein ,Schibboleth‘ in ,allereigenster Sache‘, das über die von den geschichtlichen Ereignissen aufgebrochenen Abgründe hinweg ins Dunkle hineinredet. Celan hat in seiner Büchnerpreis-Rede eindrucksvoll auf die verzweifelte Gesprächssituation seiner Arbeiten hingewiesen: Das Gedicht „bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht.“ Obgleich für den Leser der Lebenszusammenhang vieler Gedichte verschlossen bleibt, arbeitet das Erfahrene seelisch an der poetischen Substanz mit. Celan stellte sich in seinen Gedichten rücksichtslos der Geschichte und seiner Kreatürlichkeit, um in der „allereigensten Enge“ durch den Prozeß des Eingedenkseins seine Identität und die des Lesers freizusetzen.
Auch Günter Eich wollte Gedichte schreiben, „in denen man sich zugleich ausdrückt und verbirgt“. Ähnlich wie Celan verdunkelte er seine Biographie und verbarg sich in der immateriellen Welt seiner Gedichte.
,Verhauchung des Materiellen‘, gleichzeitig bemüht um Einbeziehung autobiographischer und zeitgeschichtlicher Erfahrungen. Diese radikale, auf das Subjekt konzentrierte Lyrik fragmentierte persönliche Grunderlebnisse und schuf so Leerstellen, mit denen sich der Leser aktiv auseinandersetzen kann.
Für Celans Verbindung von hohem formalem Anspruch und mitmenschlichem Impuls hat Marlies Janz die Formel ,Artistik und Engagement‘ geprägt. Seine Lyrik bleibt durch das von Mallarmé gesetzte künstlerische Niveau und seine poetischen Errungenschaften bestimmt. Celans Lyrik bewahrt das Formideal des durchkonstruierten Gedichts. Sie verbindet surrealistische sprachliche Kühnheit mit der formalen Disziplin des Symbolismus, assoziative Freiheit mit der Strenge kompositorischer Integration auf allen Sprachebenen.

Vortrag, gehalten vor der Evangelischen Akademie Tutzing am 12. April 1985 anläßlich ihrer Tagung Prüfe, ob sie nicht lügen.

 

 

 

Eine genaue Liebe

– Paul Hoffmanns wissenschaftliche Arbeit. –

Die vorliegende kleine Sammlung von Aufsätzen des Literaturwissenschaftlers Paul Hoffmann (1917–1999) bedarf keiner Erläuterung. Ein autobiographischer Text ist den Arbeiten beigesellt. Wir erhalten Einblick in das Spektrum eines viel bewanderten, viel gesuchten Wissenschaftlers und eines viel geliebten Hochschullehrers.
Die Sterne oder Unsterne von Paul Hoffmanns Leben bestimmten nachhaltig seinen geistigen Weg. Katholisch erzogener Sohn eines jüdischen Vaters, Österreicher, vor Promotionsabschluß ins Exil auf der anderen Seite der Erde (Neuseeland) verschlagen, der M. A.-Grad abgetrotzt der kräftezehrenden Arbeit als Milchfarmer, die Begegnung mit dem deutschen, jüdischen Dichter Karl Wolfskehl in dessen Exil am gleichen fernen Ort, Rückkehr nach Österreich, Promotion in Wien, dann der Aufbau der germanistischen Abteilung an der Universität von Wellington, seit 1964 als Ordinarius, 1969 die Berufung als Professor für Neuere Deutsche Literatur nach Tübingen, wo die Arbeit bis zum Lebensende, weit über die Emeritierung hinaus, nie abriß.
Paul Hoffmann bezeichnete sich selbst ironisch als einen „Lehrer ohne Werk“. Die Publikation der Vorlesungen, Vorträge, der Gesamtheit der Einführungen zu Lesungen im Hölderlinturm usf. würde das Gegenteil erweisen. Übrigens auch die legendär ausführlichen Gutachten zu Promotionsschriften jüngerer Wissenschaftler. Vor uns liegt wie gesagt eine kleine Auswahl aus dem Spektrum dessen, was dieser Mann geleistet hat.
Ich kann hier nur meine persönliche Erfahrung mit seinen Texten wiedergeben. Literaturwissenschaft ist nicht immer aufbauende Lektüre. Diese ja. Das Vorliegende bietet dem Leser, der Leserin beides: Vergnügen und Gewinn. Dabei ist sein Anspruch nicht Popularität, sein Instrumentarium vielfältig, sind Verweis und Beleg Schußfäden über die Horizonte. Was aber fesselt mich, den Nichtwissenschaftler, daran?
Die zuweilen kollegiale Ansprache ist es weniger. Paul Hoffmann war u.a. mit einer Reihe von Schriftstellern und Schriftstellerinnen über den deutschen Sprachraum hinaus befreundet. Es war nicht gut möglich, sich seiner gewinnenden, genau fragenden und das informierte Interesse nicht verhehlenden Art zu entziehen. Die Wertschätzung der zunächst einmal so anderen Arbeit des Gegenübers bildete in ihrer stets begründeten Form die Basis der Freundschaft. Doch erklärt dieser Aspekt nicht die besondere Wirkung der Lektüre.
Das wiederholte Insistieren, „Poesie“ sei „eine anthropologische Konstante, ein wesentliches Humanum“, führt näher an den Grund heran. Paul Hoffmann geht in den vorliegenden Arbeiten mit dem Wesen der Poesie um. Mehr noch: Er definiert ein um das andere Mal dieses Wesen. Er stellt sich der überaus komplizierten Materie, obwohl hier sprachwissenschaftliche Theorie, philosophisches Denken und eine Schar anderer Disziplinen eine gemeinsame, verschlungene Grenze bilden und zugleich an ihre eigenen stoßen. Vorsicht ist geboten in solcher Tiefe des Grundsätzlichen. Doch wo immer der Weg her führt, von der „Lyrik nach 1945“, von der überzeugend nachgewiesenen Verbindung der Dichtung Paul Celans mit jener Erich Frieds in der „prinzipiellen Intention der Wörtlichkeit…“ oder von „Hölderlins Weltrezeption“ – die Argumentation nimmt mich mit.
Den letzteren Aufsatz eröffnet das Geständnis von Skrupeln angesichts der weiten Materie. Nur „eigene Leseerfahrung“ könne korrekt belegen, was es mit dem Weg von Hölderlins Dichtung in der Welt anderer Sprachen und Literaturen auf sich habe. Darum beschränke er, Paul Hoffmann, sich auf die von ihm überschauten Bereiche, vor allem im englischsprachigen Raum. Wir treffen derart begründete und gründende Skepsis öfter im Buch. Sie ist eine geradezu methodische Besonderheit des Autors. Sein Bekennen der eigenen Grenzen setzt sich deutlich ab von eher verbreiteten Formen wissenschaftlicher Hybris. Teil des methodischen Ansatzes sind sie durch ihre zentrierende Funktion. Der Zugangsort der Analyse wird bestimmt und fixiert. Mißverständnisse werden ausgeschlossen.
Überraschend in ihrer Deutlichkeit ist die Unterscheidung zwischen der deutschen und der ausländischen Rezeption Hölderlins. Da erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Wiederentdeckung überhaupt begann (nach Paul Hoffmann vor allem ermöglicht durch die Vorarbeit des Symbolismus von Mallarmé bis George), hatte die selektive Aneignungsmaschinerie des Nationalsozialismus vergleichsweise leichtes Spiel. Daß die Gründung der Deutschen Hölderlingesellschaft 1943 unter dieser Ägide stand, thematisiert Hoffmann nur kurz. Die Gesellschaft selbst hat sich ausführlich mit diesem Teil ihrer Geschichte auseinandergesetzt. Hölderlins Vaterländisches war dem Völkischen angegliedert worden. Daraus resultierte nach 1945 in der deutschen Rezeption ein vollkommen anderer Ton als in dem lt. Hoffmann „unbefangenen Zugang“ im Ausland, daher rührten Trauer und Vorsicht, das Aufnehmen leiserer Töne. Und daher rührte später auch die Begeisterung in der deutschen Literatur- und Theaterlandschaft, als in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Untersuchungen zu Hölderlins geistiger und biographischer Nähe zur Großen Französischen Revolution aus Frankreich herüber kamen. Eine regelrechte Befreiung der Deutung, eine Welle der literarischen Aneignung schenkte uns besonders Pierre Bertaux. „Indem er Hölderlins ,Jakobinertum‘ auf die Situation und Problematik der Studentenrevolte bezog, wurde Hölderlin zu einer aktuellen Bezugsperson, vielfach gespiegelt in der zeitgenössischen Lyrik. Wie sehr ist jene Aktualität wieder Geschichte!“ Ein für den implizit politischen Denker Paul Hoffmann bezeichnender Stoßseufzer! Er hielt diesen Vortrag 1994, die Ausbrüche rechtsradikaler Gewalt nach der deutschen Vereinigung waren noch im öffentlichen Bewußtsein, die absolute Herrschaft der Marktwirtschaft hatte begonnen. Der Ausruf gewährt einen kurzen Durchblick auf die gesellschaftlichen Sympathien des Autors. Die Umstände jener „Aktualitat“ hatten ihn seinerzeit schließlich in den deutschsprachigen Raum zurückkehren lassen, auf der Suche nach geistiger Heimat und Wirkungsmöglichkeit nicht zufällig nach Tübingen.
Das Bild Hölderlins als Aufrührer, als „Insurgent“ an der Seite demokratischer Freunde – man verfolge es übrigens auch durch die DDR-Literatur und Kunst von den sechziger Jahren an, auch jenes als zum Schweigen Gebrachter und bewußt Schweigender!
Dem „absoluten Dichter“ als Identifikationsschicksal begegnete man offenbar eher jenseits deutscher Grenzen. Paul Hoffmann würdigt die Arbeit seiner Übersetzer, die die Voraussetzung dieser Wirkung schufen, insbesondere die Michael Hamburgers für den englischen Sprachraum nach dem 2. Weltkrieg. Dabei fällt ein zur Klärung unserer Frage nach dem besonderen Charakter dieser Texte aufschlußreicher Satz, Kommentar zu einem zitierten Kollegen. Es geht wie gesagt um die Übersetzung Hölderlinscher Gedichte in fremde Sprachen:

Für die Unzulänglichkeiten und Aporien des übersetzerischen Bemühens entschädigt die Glückserfahrung, welche sich den sich öffnenden Möglichkeiten der Zielsprache verdankt.

Wer spricht? Bei dem zitierten Kollegen ist die Rede von einer „Gegenrechnung, die für so viele Verluste unerwartete Gewinne verbucht“. Daraus wird bei Hoffmann „die Glückserfahrung“ des Übersetzers. Über den belegten Sachverhalt hinaus spricht hier offenbar die eigene Erfahrung. Über die Korrektur der „gewohnten negativen Bilanz“ beim literarischen Übersetzen hinaus erleben wir den emphatischen Nachvollzug einer Erfahrung, die wissenschaftlich produktiv wird. Paul Hoffmanns Einsichten lag u.a. die eigene Nachdichtung Shakespearescher Sonette zu Grunde. Bekanntlich nicht eben schlichte Materie und deshalb vielfach angenommene Herausforderung.
Seine Bemühung um das Dichterische, um den Kern der poetischen Arbeit am Wort zeitigt erstaunliche Einsichten in das Handwerkliche einerseits, aber immer wieder auch in das Grundsätzliche dieser Welt-als-Wort-Aneignung. Andernorts zitiert er einmal Sartre: „Die Prosa bedient sich der Sprache, die Lyrik dient ihr.“ Seine eigene – beschreibende, definitorische und erklärende – Bemühung läuft parallel, wenn nicht auf dasselbe Ziel zu wie die belletristisch Arbeitender. Die analytische Moderation ist dabei sein Vorteil. Er fragt nach, wo sich auch poetologisch argumentierende „Primärtext“-Autoren zurückziehen müssen. Er ist der ideale Leser, der mehrfach die Perspektive wechselt. So sieht er mehr als wir und sagt es uns genau. Weshalb Cees Nooteboom in einem Widmungsgedicht für ihn schreiben konnte:

… dieser Nächste
hörte mein Wort,
als ich es nicht hörte…

Und nebenbei verzichtet er selbst als Autor auf Eskapaden wissenschaftlicher Selbstreferenzialität.
Als begeisterter Zeuge des zeitgenössischen literarischen Prozesses wußte Paul Hoffmann – man gestatte die sozusagen innerbetriebliche Formulierung –: worauf es ankommt. Nur so ist die Anekdote zu verstehen, die seinen Aufsatz über „Hölderlins Weltrezeption“ abschließt. Der chinesische Dichter Zhang Zao liest ihm Texte eines durch Suizid jung gestorbenen Landsmannes vor und ruft bei der Übersetzung „wie elektrisiert“ aus: „Das ist doch wie Hölderlin!“ Da weiß Paul Hoffmann, daß Zhang Zao „auf Gold gestoßen [war], auf den Goldklang des ,Dichterischen‘ mit seiner Leuchtkraft, seinem Spannungs- und Härtegrad – einem Aggregatzustand der Sprache sui generis“. Woher er das wußte? Weil „die erregte und beglückte Gestik“ es ihm anzeigte, gewiß. Aber er hätte es nicht so wiedergeben können, wenn er selbst nicht gewußt hätte, was das ist. Wenn seine Erfahrung mit Gedichten ihm selbst diese Momente vorenthalten hätte. Sie hat es nicht. Und daß es so war, manifestiert sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit. Das kritisch genaue und das begeisterte Anteilnehmen zeichnen Paul Hoffmanns Arbeiten aus. So war er, noch einmal mit Cees Nootebooms Worten, „der Dichter des Lesens.“

Uwe Kolbe, Vorwort

 

Für Paul Hoffmann

war Lyrik vor allem das gesprochene Wort. Und so hat es seinen guten Sinn, daß das Medium seines Wirkens in erster Linie der Vortrag war, die Vorlesung, das Seminar. Die Beiträge von Das erneute Gedicht entstammen größtenteils dieser mündlichen Sphäre und atmen die Lebendigkeit, die ihren Gegenständen angemessen ist. Themen sind Karl Wolfskehl, Nelly Sachs, Paul Celan, Erich Fried, Friederike Mayröcker und Durs Grünbein sowie „Hölderlins Weltrezeption“, die „Situation der Lyrik nach 1945“ und „Poesie und Engagement“. Und wenn Paul Hoffmann sagt: „Ich muß von meinem Leben sprechen, wenn ich von dem Gegenstand meiner Wissenschaft spreche“, so gilt auch der Umkehrsatz, daß er von seinem Leben spricht, wenn er über Literatur redet: Der autobiographische Essay „Der verfremdende Blick“ ist das bewegende Dokument des Exils, der Rückkehr in den deutschsprachigen Raum und einer gerade durch die Unaufgeregtheit ihrer Darstellung imposanten Lebensleistung. Paul Hoffmann, geboren 1917, lehrte deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Er starb 1999.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2001

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00