Peter Bekes und Wilhelm Große: Zu Franz Mons Gedicht „panoptikum“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Franz Mons Gedicht „panoptikum“ aus dem Band Franz Mon: Lesebuch. –

 

 

 

 

FRANZ MON

panoptikum

treten sie näher
treten sie heran
treten sie nur herein
treten sie ruhig fest auf
treten ist leichter als beten
treten sie getrost mal
treten sie noch mal
dreht sich nicht mehr
dreh da nicht dran
dreh dich nicht um.

 

I
So alt wie die konkrete Poesie in Deutschland ist auch der Vorwurf, der ihr gegenüber immer wieder gemacht worden ist: Sie betreibe, so sagt man, in ihren Spielen mit Buchstaben, Lauten und Worten puren Materialfetischismus und begebe sich damit der Möglichkeit, bestehende Gesellschaftsverhältnisse zu kritisieren. Daß solche Kritik immer wieder an den jeweiligen Produkten der experimentellen Poesie überprüft werden muß, ist selbstverständlich; daß sie unter Umständen zu einseitig und zu pauschal ist, vermag ein Text Franz Mons zu zeigen, der heute zu den wichtigsten Repräsentanten der sog. konkreten Poesie in Deutschland zählt. Der Text wurde 1972 veröffentlicht und erschien erst kürzlich wieder in einer vielbeachteten Lyrikanthologie. Der Text Mons kann deutlich machen, daß die Thematisierung sprachlicher Mittel die konkrete Lyrik nicht unbedingt zur „Fliesenlegerpoesie“ oder zur „lyrischen Strukturtapete“ degenerieren lassen muß.
Der sprachlichen Oberflächenstruktur nach entspricht der Text dem Vorverständnis des Lesers, das er nach der Lektüre der Texte der konkreten Poesie, der „Konstellationen“ eines Gomringer, der „Kombinationen“ und „Topographien“ eines Heißenbüttel oder der „sehgänge“ und „artikulationen“ eines Mon usw. gebildet hat. Das „Gedicht“ gibt sich „unlyrisch“. Es verzichtet auf Metrum, Reim, Rhythmus und Wohlklang, damit auf jene Elemente, die die Konstitutiva jener lyrischen Texte bilden, die gemeinhin als Paradigma der Lyrik gelten. Nur die graphische Realisation weist den Text als Gedicht aus, da Mon sich der Zeile als textkonstituierendem Prinzip bedient.
Der Text umfaßt 10 Verse, wobei jede Zeile mit einer in sich geschlossenen syntaktischen Einheit gefüllt ist. Allerdings verzichtet Mon – mit Ausnahme des Punktes am Ende des Textes – darauf, die jeweiligen syntaktischen Einheiten durch Satzzeichen stärker herauszuheben. Er verwendet demnach konsequent den Zeilenstil, reiht asyndetisch Aussageeinheit an Aussageeinheit. Der Reihung als der den Text primär strukturierenden Verfahrensweise setzt er folgende flankierende Aufbauprinzipien an die Seite: Wiederholung und Variation. Beide sind grundlegende Prozeduren, deren sich Autoren der konkreten Poesie gerne bedienen. Ins Auge springt zunächst der siebenfache anaphorische Gebrauch des Wortes „treten“ (Z. 2–8), der in den letzten drei Zeilen in leicht variierter Form durch die Verwendung eines neuen Wortes („drehen“) abgelöst wird. In den Zeilen 2–8 schließt mit einer Ausnahme (Z. 6) die anaphorische Bildung sogar das zweite Wort mit ein („treten sie“), so daß auf diese Weise eine parallele Konstruktion der syntaktischen Einheiten möglich geworden ist, die jedoch in letzter Konsequenz durch die Hinzufügung der Partikel (z.B. „nur“, „noch mal“ usw.) oder Adverbien nicht stringent durchgeführt wird. Bei den Abänderungen bzw. Erweiterungen achtet Mon darauf, daß die Sätze nicht über eine bestimmte Wortanzahl hinauswachsen. Das Gedicht beginnt mit 3-bzw. 4-Wortsätzen (Z. 2–4); zwei 5-Wortsätze bilden eine fiktive Mittelachse (Z. 5 f.). Im zweiten Teil (Z. 7–11) werden ausschließlich 4-Wortsätze verwandt. Durch die Wahl der Kurzzeile gewinnt die Einzelaussage der Zeile an Überschaubarkeit, Konturschärfe und Eindringlichkeit, was durch rhythmische Wiederholungsfiguren und die konsequente Verwendung von ein- bzw. zweisilbigen Wörtern noch weiter unterstützt wird.
Die kontinuierliche Erweiterung der Wortanzahl bis Zeile 6 und die gleichbleibende Wortanzahl in der letzten Texthälfte verweisen auf einen Schwer- und Drehpunkt des Gedichtes in seiner Mitte, was sich durch eine semantische Analyse gerade dieser Zeilengruppe (Z. 5 und 6) erhärten läßt (s.u.). Die Bedeutung von Zeile 6 wird ebenfalls dadurch unterstrichen, daß hier erstmals die mit Zeile 2 beginnenden, dann in den nächstfolgenden Zeilen (Z. 3–5) sich wiederholenden Appellfiguren durch einen Aussagesatz („treten ist leichter als beten“) abgelöst werden. Diese syntaktische Änderung bzw. Störung der im Gedicht bevorzugten Aufforderungs- bzw. Befehlssätze fällt um so mehr ins Gewicht, als Mon lediglich noch in der drittletzten Zeile einen Feststellungssatz einfügt.
In dem Maße, wie der Wiederholungszwang durch Variation durchbrochen wird, erfahren die Elemente, die sich dem syntaktisch-semantischen Muster nicht mehr fügen, eine semantische Beschwerung. Die Verfahrensweise, besondere Bedeutungsakzente dadurch zu setzen, daß sich Wiederholungs- und Variationsprinzip einander abwechseln, gilt nicht nur für die die Zeile ausfüllenden syntaktischen Einheiten, sondern auch für die Hervorhebung einzelner Wörter. Bei gleichbleibendem syntaktisch-semantischen Umfeld wird der Leser z.B. beim Vergleich der ersten beiden Verse dazu veranlaßt, sein Augenmerk auf die semantische Differenz der sich allein ändernden Wörter „näher“ und „heran“ zu lenken. Daraus resultiert für den Leser die Anweisung, den Text nicht nur horizontal, sondern auch vertikal gegen den Strich der Syntax zu lesen. Damit werden syntaktische Einheiten zugunsten der genaueren Wahrnehmung des Einzelwortes in den Hintergrund gestellt. Die so ermöglichte Sensibilisierung für das Einzelwort entspricht genau dem Anliegen der konkreten Poeten. „Die heutige Poesie“, so hat es Mon selbst lakonisch formuliert, „konzentriert Sprache auf das Wort, auf die buchstäbliche Existenz des Wortes“. Daß solche Konzentration nicht unbedingt die semantische Reduktion des Wortes zur Folge haben muß, vermag Mon mit diesem Text deutlich zu demonstrieren. In welchem Maße minimale buchstäbliche Veränderungen des Wortes und der Zeile selbst deren politische Dimension enthüllen, können die folgenden Erörterungen zeigen.

II
Während die situative Verankerung durch den Bedeutungsverlauf der zehn Verse nicht gelingt – der Leser vermag allenfalls ein unverbindliches Spiel mit Wörtern und Satzmustern zu erkennen –, steckt der sehr konkrete Titel, das einzig spezifizierende Substantiv des Gesamttextes überhaupt („panoptikum“), den Bedeutungs- und Situationsrahmen näher ab. Er bezeichnet jene früher gern besuchte Sammlung von Apparaten, Wachsfiguren oder sonstigen Kuriositäten, die zur Befriedigung der Neugier und Schaulust wie zur Belehrung ausgestellt wurden.
Die die Rezeption lenkende Titelangabe ermöglicht dem Leser, die ansonsten relativ isoliert stehenden Einzelzeilen zu einem Text mit einem ausreichenden Maß an innerer Konsistenz zu verknüpfen; dennoch wird der Text durch sie nicht derart festgelegt, daß alle seine Unbestimmtheitsstellen aufgehoben wären. Der Text präsentiert sich als eine Folge von Sprechakten, die ausschließlich einem Sprecher zuzuordnen sind, der durch die Überschrift als marktschreierischer Conferencier genauer bestimmt werden kann.
Neben der Charakterisierung des Sprechers leisten die angeführten Sprechakte den Situationsaufbau, eine Beschreibung des Situations- und Prozeßablaufs wie eine implizite Setzung und Verhaltenskennzeichnung eines fingierten Zuhörers, woraus ebenfalls eine mittelbare Adressierung des Textes an den Leser resultiert, der somit die ihm vom Sprecher zugeschriebene Rolle zunächst einmal einnehmen, sich aber auch – wie später noch zu beweisen sein wird (s. Kap. III dieses Beitrags) – durch einen kritischen Leseakt von dieser Rolle wieder distanzieren kann.
Der Sprecher lockt das Publikum an (Z. 2–4), führt es durch die Vorstellung (Z. 5–8) und kündigt deren Ende an (Z. 9–11). Die Szene wird durch drei an den fiktiven Zuhörer gerichtete Appelle, die als Einladungsgesten zu verstehen sind, eröffnet. Sie sollen die Aufmerksamkeit des fiktiven Zuhörers binden und ihn in den Bannkreis des Panoptikums ziehen. Sie sind in ihrer Abfolge so angeordnet, daß sich Schritt für Schritt („näher“, „heran“, „herein“) die räumliche Distanz zwischen Sprecher und Publikum – wobei aufgrund der von Mon konsequent eingehaltenen Kleinschreibung nicht auszumachen ist, ob es sich nicht lediglich um eine Einzelperson handelt – verringert. Die Verkürzung der räumlichen Distanz wird für den Leser allerdings nur dann plausibel, wenn er die Unbestimmtheitsstellen zwischen den einzelnen Sprechakten semantisch auffüllt, denn diese fordern den Leser dazu auf, die im Text verschwiegenen, vom Sprecher bei seinen Appellen aber vorausgesetzten Reaktionen der Angesprochenen zu interpolieren. Wendet der erste Sprechakt sich ganz allgemein an ein Publikum, so setzt der zweite – bei verkürzter räumlicher Distanz – schon dessen erreichte Aufmerksamkeit voraus. Der dritte Sprechakt kann nicht nur auf ein gesteigertes Interesse des Publikums schließen lassen, sondern er thematisiert gleichzeitig den inzwischen erreichten Standort des Zuschauers kurz vor dem Eintritt in das Panoptikum. Der Entschluß, die Veranstaltung zu besuchen, wird dem Zuhörer durch die untertreibende, letzte Vorbehalte wegwischende, die Konsequenzlosigkeit der Handlung suggerierende Formulierung „treten sie nur herein“ leicht gemacht bzw. abgenommen. Trotz der Aufhebung der zu Beginn bestehenden räumlichen Distanz verbleibt dennoch der Sprecher in einer den Zuschauer als Person achtenden Distanz, was sich in der von ihm anfangs gewählten und bis zu diesem Zeitpunkt durch gehaltenen, gehobenen Sprachebene manifestiert. Sein Sprachton ist verbindlich und höflich.
Während in Zeile 2–4 Sprecher und Hörer vor dem Panoptikum zu lokalisieren sind, verlagert sich mit Zeile 5 die Szene in das Innere des Panoptikums. Parallel zum Szenenwechsel ergibt sich eine Bedeutungsverschiebung des Wortes „treten“. Dieses meinte in Zeile 2–4 einen in die Horizontale gerichteten Bewegungsvorgang; durch das Präfix „auf“ ändert sich nun die Bewegungsrichtung in die Vertikale. Um den Zuhörer mit der neuen Situation vertraut zu machen, gebraucht der Sprecher auch hier wiederum eine Beschwichtigungsformel („ruhig“). Er wiegt den Zuhörer in dem für ihn unerprobten, neuen Terrain in Sicherheit und ermutigt ihn, den neuen Bewegungsvorgang mit Entschlossenheit („fest“) auszuführen. Somit suggeriert er ihm eine neue Grundlage.
Die ideologische Rechtfertigung für die vorausgegangene Handlungsaufforderung liefert der Sprecher in Form einer Maxime („treten ist leichter als beten“) nach. In dieser Zeile wird zum ersten Male die durch die voraufgegangenen Sätze induzierte Appellstruktur durch die Wahl eines Aussagesatzes durchbrochen. Die Formulierung der Maxime wirkt vertraut, was ihre Eingängigkeit unterstützen soll, und fremd zugleich. Sie bindet an bekannte Muster wie „Geben ist seliger denn nehmen“ usw. an, verfremdet sie aber auf zweierlei Weise. Sie stellt zum einen keine moralische Hierarchie auf, sondern bietet eine pragmatische Anweisung; zum andern verknüpft sie zwei Begriffe, die unvereinbare Verhaltensweisen („treten“ / „beten“) bezeichnen, deren Widersprüchlichkeit allerdings durch die Binnenreimung verschleiert wird.
Eine weitere leichte Bedeutungsverschiebung des Wortes „treten“ bringt, vorbereitet durch den vorangehenden Vers, Zeile 7. Es scheint so, als sei die Kette der Appelle nur deshalb durch den Feststellungssatz vom Autor durchbrochen, um eine letzte Bedeutungsnuancierung dieses Verbums zu gewinnen. Durch das Fortfallen der jeweils den Ort anzeigenden Präfixe „näher“, „heran“, „herein“ und „auf“ und durch die Aussparung eines bestimmten Objekts verliert hier „treten“ jegliche Zielgerichtetheit. Es geht hier weder um eine Veränderung des Standortes; es geht auch nicht mehr um ein „Auf-der-Stelle-Treten“, um eine feste Grundlage zu gewinnen, es geht hier vielmehr um „Treten“ als Äußerungsform von Gewalt, wobei aufgrund des fehlenden, bestimmten grammatischen Objekts für den Leser völlig unklar bleibt, wer oder was getreten werden soll. Was Mon hier mit der spielerischen Variation des Wortes „treten“ gelingt, nämlich die kontinuierliche Erweiterung von dessen Bedeutungsspektrum, entschärft zumindest in diesem Zusammenhang den von Kritikern der experimentellen Poesie oft erhobenen Vorwurf, sie arbeite nur noch mit semantisch reduzierten Wortstummeln. Der jeweilige Verwendungsaspekt differenziert hier eine Fülle von Bedeutungsnuancen: „Die ,kleine Form‘ eines Wortes, einer Verbindung“, so hat es Mon einmal programmatisch in seinem Beitrag „Die zwei Ebenen des Gedichts“ formuliert, „fängt die Aufmerksamkeit ein – nicht weil sie ästhetisch reizt, sondern sie fasziniert, weil sich darin plötzlich mehr vorfindet, als im Kranz meines Bewußtseins vorhanden sein kann. Nichts scheint selbstverständlicher als meine Rede und doch stürze ich in die dunkle Grube eines Wortes, das ich schon immer zu kennen glaubte.“
Unverkennbar ist die mit Zeile 7 einsetzende Veränderung der vom Sprecher verwendeten Sprachebene. Der Ton wird salopper, schnoddriger, schließlich aufdringlich kumpelhaft. Belege dafür sind das nochmals auftauchende umgangssprachliche „mal“, die elliptische Formulierung der Zeile 9 und die durch das Füllsel „da“ in sprachliche Laxheit abgleitende Äußerung in Zeile 10. Während in Zeile 7 der Sprecher den Hörer ein letztes Mal in beschwichtigender Weise („getrost“) dazu animiert, die zuvor angebotene Maxime auszuprobieren, bestärkt er den Angesprochenen in der darauffolgenden Zeile, die einmal vollzogene Handlung zu wiederholen („noch mal“).
Zwischen Zeile 8 und 9 liegt die stärkste Zäsur innerhalb des Textes. Die markanten Unterschiede sind leicht zu erkennen: Das bisher als Basiswort geltende „treten“ wird von Mon zugunsten des ähnlich klingenden „drehen“ aufgegeben; ein zweiter Feststellungssatz („dreht sich nicht mehr“) läßt die Kette der Aufforderungssätze endgültig abreißen, um sie in den letzten beiden Zeilen in Imperative zu überführen, die im Kontrast zu den vorher gemachten Lizenzen rigorose und drastische Verbote formulieren (s. das dreimalige „nicht“). Zwar wählt Mon mit dem Verb „drehen“ erneut ein einen Bewegungsvorgang bezeichnendes Wort; aber im Gegensatz zu dem auf ein Ziel hin ausgerichteten „treten“ bezeichnet „drehen“ eine zirkuläre Bewegung. Mit Zeile 9 konstatiert der Sprecher das Ende des Bewegungsvorgangs, wobei jedoch offen bleibt, ob damit das Ende der Vorstellung gemeint ist oder ob das Aussetzen der Drehbewegung auf das gewaltsame Einwirken von außen („treten“) zurückzuführen ist. Offensichtlich ist dem Sprecher, wie der kategorische Imperativ von Zeile 10 deutlich macht, an einer Wiederaufnahme der Bewegung nicht gelegen. Eine Eigeninitiative des Zuhörers ist unerwünscht und wird vom Sprecher barsch zurückgewiesen. Der Tatbestand der stillstehenden Bewegung ist für ihn endgültig. Hatte er vorher die Zuhörer geradezu dazu ermuntert, Aktivitäten zu zeigen, so beschneidet er nun deren Spielraum. Der Zuschauer darf anscheinend nur tätig sein, wo es vom Sprecher unmittelbar veranlaßt wird bzw. in seinem Interesse steht. Die Verbindlichkeit und Höflichkeit der ersten Sprechakte, die im mittleren Teil durch Kumpelhaftigkeit ersetzt wurde, schlägt nun unverhohlen in Respektlosigkeit, Unfreundlichkeit und pure Gängelung um. Der Sprecher gibt die distanzierende Sie-Anrede auf und duzt den Zuhörer, nicht etwa, um sich mit ihm auf eine Stufe zu stellen, sondern um ihm das Abhängigkeitsverhältnis, dem er nunmehr unterliegt, fühlbar zu machen. Die fünffache Alliteration auf „d“, die vom Sprecher ausschließlich verwendeten einsilbigen Wörter, die schon die drittletzte Zeile charakterisieren, verleihen seinen Äußerungen eine Akzentuiertheit, Schärfe, fast mechanische Rhythmik, die deren apodiktischen Charakter hervorkehren. In der letzten Zeile wird das Diktat, die Drehbewegung einzustellen – mit leichter Bedeutungsveränderung – auf den Zuhörer als Subjekt angewandt. Ihm wird endgültig die Bewegungsrichtung vorgeschrieben. Für ihn gibt es kein Zurück mehr. Dies ist das Ergebnis eines fortschreitenden Entmündigungsprozesses, der zunächst kaschiert, sich zum Ende des Textes hin jedoch unverhohlen in seiner ganzen Drastik offenbart.

III
Was dem ersten Anschein nach sich als sprachliches Experiment darbot, enthüllt seine politische Dimension: Es zeigt die Doppelbödigkeit von Sprache und damit die Möglichkeit sprachlicher Manipulation auf. Zugleich appelliert es an die kritische Kompetenz des Lesers, solche Sprachversuchungen zu erkennen, sie auf latente Interessenzusammenhänge hin zu durchschauen und die ihr zugrunde liegenden ideologischen Denkmuster zu entlarven. Dabei vermag der kritische Leser zu erkennen, daß der Zuhörer in der ersten Textsequenz (Z. 2–4) noch keiner Indoktrination seitens des Sprechers ausgesetzt ist. Erst im nachhinein präsentiert sich ihm dieser Textkomplex als geschicktes Werbungsmanöver, das den Zuhörer Schritt für Schritt in den Bannkreis des Sprechers ziehen soll. Er sieht sich in der Lage, die mit Zeile 5 einsetzende kontinuierliche Bedeutungsverschiebung von „treten“ als geschickte Sprachmanipulation und die Kumulation von Beschwichtigungsformeln („nur“, „ruhig“, „leichter“, „getrost“) als taktisch kluge psychologische Verhaltenssteuerung zu durchschauen. Zeile 6 präsentiert sich ihm aus der kritischen Distanz heraus als von langer Hand wohl kalkulierter, ideologischer Infiltrationsversuch, der das Prinzip der Gewaltausübung als Verhaltensweise nahezulegen versucht. Gewalt bietet – so suggeriert sie – eine erfolgreichere und bequemere Rezeptur, Widerstände aus dem Wege zu räumen, als das passive, sich einer metaphysischen Instanz anheimstellende Verhalten des Betenden. (Dabei fragt sich, ob nicht schon die Aufstellung der Alternative „treten“ – „beten“ ein ungerechtfertigte Verkürzung der Handlungsmöglichkeiten, Widerstände zu überwinden, darstellt, da sie sozialere Formen der Problemlösung von vornherein ausblendet.) Dem anempfohlenen Denkmuster folgt in einem weiteren Schritt dessen erste Erprobung und schrittweise Einübung. Erst jetzt, nachdem der Zuschauer gefügig gemacht wurde, kann der Sprecher seine Maske fallen lassen und gebieterisch gegenüber seinem gehorsamen Adressaten auftreten. Er beschneidet endgültig dessen Freiheitsraum, indem er ihm jegliche Veränderung apodiktisch untersagt (Z. 10). Die Schlußzeile des Textes stellt sich als Endpunkt eines Prozesses dar, der zunächst durch die Weckung diffuser Neugier den Zuschauer in ein Feingesponnenes Netz treten ließ, um es dann Zug um Zug so eng um ihn zu schließen, daß ihm keine Ausweichmöglichkeiten mehr offen bleiben. Um die errungene Herrschaft gegen jedweden Befreiungsversuch abzudichten, beraubt der Sprecher den Hörer selbst noch der Chance, daß dieser durch die Rückwendung auf die „Geschichte“ seiner eigenen Versklavung („dreh dich nicht um“) deren Mechanismen erkennt und aus dieser Erkenntnishaltung heraus Impulse gewinnt, das aus Betrug und Gewalt geknüpfte Netz zu durchreißen. Das Panoptikum, in dessen illusionistischen Bannkreis der naive, neugierige, sensationslüsterne Zuschauer geschlagen wird, bietet sich dem kritischen Betrachter als Schmierentheater dar, in dem er dem schäbigen Dressurakt des Menschen über den Menschen beiwohnen kann.

Aus Peter Bekes, Wilhelm Große, Georg Guntermann, Hans-Otto Hügel und Hajo Kurzenberger (Hrsg.): Deutsche Gegenwartslyrik, Wilhelm Fink Verlag, 1982

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