Peter Maiwald: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Wahnsinn“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Wahnsinn“ aus Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Der Wahnsinn

Sie muß immer sinnen: Ich bin… ich bin…
Wer bist du denn, Marie?
aaaEine Königin, eine Königin!
aaaIn die Kniee vor mir, in die Knie!

Sie muß immer weinen: Ich war… ich war…
Wer warst du denn, Marie?
aaaEin Niemandskind, ganz arm und bar,
aaaund ich kann dir nicht sagen wie.

Und wurdest aus einem solchen Kind
eine Fürstin, vor der man kniet?
aaaWeil die Dinge alle anders sind,
aaaals man sie beim Betteln sieht.

So haben die Dinge dich groß gemacht,
und kannst du noch sagen wann?
aaaEine Nacht, eine Nacht, über eine Nacht, –
aaaund sie sprachen mich anders an.
aaaIch trat in die Gasse hinaus und sieh:
aaadie ist wie mit Saiten bespannt;
aaada wurde Marie Melodie, Melodie…
aaaund tanzte von Rand zu Rand.
aaaDie Leute schlichen so ängstlich hin,
aaawie hart an die Häuser gepflanzt, –
aaadenn das darf doch nur eine Königin,
aaadaß sie tanzt in den Gassen: tanzt!…

 

Zum Verrücktwerden

Die Poesie zählt zu den Künsten, die ihre Verwandtschaft zu Wahnsinn und Einbildung nicht verleugnen. Shakespeare sah im Sommernachtstraum das Dichterauge „in schönem Wahnsinn rollend“, und auch Herder und Tieck haben vom „schönen Wahnsinn des Dichters“ gesprochen, Wieland fand ihn „hold“, Jean Paul „selig“ und Goethe „gefällig“. Bei soviel Schönseherei der eigenen Manie wundert es nicht, daß die Dichtkunst schon früh auch ein Auge auf fremden Wahnsinn geworfen hat. Kinder- und Narrenmund tun Wahrheit kund, sagt das Sprichwort und enthält gleichzeitig das poetische Interesse und sein Vernarrtsein in alle Erscheinungen der Sinnverrückung. „Der Verrückte“, bemerkte Kant, „ist also ein Träumer im Wachen“ und hat auch umgekehrt viel mit den Wachträumern und Wachträumen der Poesie gemein.
Dichter, welche die Stimme ihrer Poesie anderen leihen, geraten leicht in den Verdacht der Unlauterkeit. Wer borgt, erscheint nicht ganz uneigennützig und kommt ins Zwielicht: Will da einer als Gegenleistung das Elend als Kunstfarbe borgen und zur Schau stellen? Zeigt da jemand mehr seine Fähigkeit zu Mitleid vor als das fremde Leid und macht sich auf Kosten der Mühseligen und Beladenen ein gutes Gewissen? Die Schimpf- und Verrufworte sind danach und reichen von Arme-Leute-Poesie über Gossenromantik bis zum saueren Kitsch.
„Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen“ heißt es in einem anderen Gedicht des Autors, und der Merkvers hat unter Rilke-Verehrern und Rilke-Verächtern die Runde bis zum Schwindel gemacht. Aus dem Zusammenhang der Gedichte gerissen, redet der Vers leicht der Putzigkeit, Verniedlichung und Verherrlichung von Leid das Wort und unterschlägt, daß sein Autor die Armen, „gegeben unter hundert Quäler“, durchaus „entwürdigt“, „gezeichnet“ und „entstellt“ sah. Wer einen Gedichtzyklus „Das Buch von der Armut und vom Tode“ nennt, weiß, indem er demonstrativ zwei Begriffe verbindet, daß Elend und Armut Zeitverkürzung und Zeitverschwendung, „ungelebte Leben“ bedeuten.
Das Gedicht verbindet mit dem Irrsinn seiner Person den Irrsinn einer Welt. Die Wahnsinnige und Kranke verkörpert das Echo des normalen Irrwitzes von oben und unten, von Arm und Reich. Sie ist ein Reflex auf die Idée fixe und den Starrsinn der Gesunden, koste es, was es wolle und ohne Rücksicht auf Verluste, nach Besitz und Geltung zu streben. Dabei macht sich das Gedicht mit seiner Figur keinerlei Illusionen auf eine Veränderung dieses Zustandes. Der Autor hält nüchtern genug fest, daß die Einbildungskraft, mit der sich seine arme lyrische Figur adelt, nur zur einfachen Verkehrung der alten Verhältnisse reicht. „Leute“, die knien und „ängstlich“ am Rande stehen, scheinen da wiederum oder immer noch vonnöten.
Vielleicht ist die Literatur nur deshalb so auffallend mit Irrläufern, Tollen und Narren, Wahnsinnigen und Aberwitzigen, Verrücktgewordenen bevölkert, um an ihrem Beispiel zu erinnern, daß eher die Verhältnisse verrückt werden sollten statt der Menschen. Aber wie gesagt, auch im Falle der Literatur haben wir es mit einem Fall von „schönem Wahn“ und Einbildungskraft zu tun.

Peter Maiwaldaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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