GRAMSCI’S ASCHE
I
Nicht nach Mai riecht diese unreine Luft,
die den dunklen Garten der Fremden
noch dunkler macht oder ihn grell durchzuckt
mit blinden Aufheiterungen… Spuckfadenhimmel
über den gelben Terrassenwohnungen,
die in gewaltigem Halbkreis die Kurven
des Tibers verschleiern, die türkisgrünen
Berge Latiums… Einen tödlichen Frieden,
gleichgültig wie unser Schicksal,
verbreitet der herbstliche Mai zwischen
dem alten Gemäuer. In ihm ist die Eintönigkeit der Welt,
zu Ende geht das Jahrzehnt und mit ihm bricht in Trümmer
unsere echte und arglose Mühe
das Leben neu zu gestalten;
das Schweigen, unfruchtbar, vermodert…
Du Knabe hast in jenem Mai, da Irren
noch Leben hieß, in jenem italienischen Mai,
da zum Leben noch Leidenschaft trat,
viel weniger leichtsinnig und von falscher Gesundheit
als unsere Väter – nicht Vater, sondern demütiger
Bruder – du hast mit deiner dünnen Hand
(nicht für uns: du Toter für uns,
die wir auch tot sind, mit dir, in diesem
feuchten Garten) das Ideal gezeichnet,
das dieses Schweigen erhellt. Du kannst,
begreifst du es?, nur in diesem Ort der fremden
ruhen, noch immer verbannt. Vornehme
Langeweile um dich herum. Verblaßt nur
klingt manchmal ein Hammerschlag zu dir herüber
aus den Werkstätten des Testaccio, verschluckt
vom Abend: zwischen armseligen Schuppen,
nackte Blechberge, Schrotthügel, wo ein lümmelnder Lehrbursch
sein Tagwerk zu Ende singt,
während der Regen aufhört.
(…)
Nach einem Vorabdruck in der von Alberto Moravia herausgegebenen Zeitschrift Nuovi Argomenti erscheint im Juli 1957 die Erstausgabe von Le ceneri di Gramsci bei Garzanti. 1949 war Pier Paolo Pasolini aus dem heimatlichen Friaul in die italienische Hauptstadt gezogen und erlebte hier – nach den Worten seines Biographen Enzo Siciliano – „la scoperta di Roma“, er entdeckte Rom und damit seine eigene, Leben und Werk bestimmende Welt. Die fünfziger Jahre, in bitterer Armut begonnen, bringen die ersten Erfolge, die Romane Ragazzi di vita und Una vita violenta entstehen, Freundschaften wie jene mit Ungaretti und Bassani, Moravia, Elsa Morante, Toti Scialcia und vielen andern Schriftsteller- und Malerkollegen werden geschlossen, der Band Gramsci’s Asche erhält den Premio Viareggio. Pasolini findet sich aufgenommen in den vom gemeinsamen Antifaschismus zusammengeführten Kreisen. Mit seinen Freunden arbeitet er an verschiedenen Zeitschriften, wie der Officina, den Nuovi Argomenti, den Botteghe Oscure. Die Erhaltung der vom Faschismus verdrängten oder absorbierten eigenständigen regionalen Kultur liegt ihm besonders am Herzen. Es wird gleichfalls Pasolini sein, der viel später vor der „acculturaziorie“, d.h. dem Kulturverlust durch einen neuen Totalitarismus, dem der Medien und der Konsumsprache, warnt. Der Hinweis auf Daten und Lebensumstände erscheint notwendig, denn Pasolinis Gedanken- und Arbeitswelt bleibt sehr wesentlich von diesen Jahren geprägt, die ja vor der zunehmenden Industrialisierung Italiens, vor dem Wirtschaftswunder, vor der Süd-Nord-Wanderung von Hunderttausenden von Arbeitern nach Deutschland und in die Schweiz liegen, vor jenen Ereignissen also, die, nach des Autors Worten, die Lebensqualität der Bauern und Arbeiter verändert, ihre Kultur zerstört haben. „Ihre Natur, ihr Wesen, ist von den Warenproduzenten zerstört worden.“ (Vgl. P.P. Pasolini, „Genariello“, in Freibeuter Nr. 4, S. 139ff). Seine Gedichte aber leben von der physischen Realität der bäuerlichen Welt die Pasolini im Friaul kennenlernte und im Gedicht „Das Land der Arbeit“ lebendig werden läßt, und von jener der Borgate Romane der Elendsviertel am Rand der Stadt Rom, die heute weitgehend durch gewaltige Wohnblöcke ersetzt sind. Pasolinis „ragazzi di vita“ gibt es noch immer, und sie sprechen auch noch den römischen Dialekt, aber wie Pasolini 1975 im zitierten „Genariello“ sagt:
Hier weht der Geist des Volkes nicht mehr.
Der Autor hatte sich schon früh mit Fragen der italienischen Mundartdichtung beschäftigt und zwei umfangreiche Schriften zu diesem Thema vorgelegt: 1952 die Poesia dialettale del Novecento (Mundartdichtung im 20. Jh.) und den Canzoniere Italiano (1955 ), eine Sammlung von Volksliedern und Versen aus den Regionen des Landes.
Die Kultur der Bauern und Arbeiter in ihrer Eigenständigkeit fasziniert Pasolini, er sucht und findet in ihr das stolze Bewußtsein echter Überlieferung. Auch und vielleicht gerade in der Armut, auch in der Überwindung der Armut durch den kleinen Betrug.
Im ersten Gedicht des vorliegenden Bandes, „Der Apennin“, betrachtet Pasolini wie mit einer Filmkamera sein in Stein gemeißeltes Vaterland. Der gebildete Dichter schaut in die Geschichte zurück: die schlafende Ilaria des Jacopo della Quercia wird zum Symbol für ein Land, das noch die Kraft seiner Jugend hat, aber in der Hoffnungslosigkeit seiner Armut dahindämmert. Der Weg des Betrachters führt von Norden nach Süden, von Lucca und Pisa über Rom nach Neapel. Alles erscheint ihm verzaubert unter den geschlossenen Lidern der Ilaria: die Etrusker, die armen Bauern die Knaben aus der Vorstadt. Er ist berührt von der eigenartigen Mischung aus Christentum und Heidentum und dem immer stärkeren Auseinanderklaffen dieser beiden Komponenten im Süden. Schon hier wie dann später noch stärker im Titelgedicht des Bandes spürt man den Grundkonflikt zwischen dem politischen Gewissen und einer Lebensfreude, die ein wahres Mit-Leid nicht aufkommen läßt.
Die Verse von „Le ceneri de Gramsci“ muten in ihrer Form und in ihren kunsthistorischen Betrachtungen oft wie ein Kunstprodukt an die Arbeit eher eines Denkers denn eines Dichters, und beinhalten doch gleichzeitig das absolute Ja zur Leidenschaft, zur Lust, zum Leben. Es formt sich das Bild eines Mannes, der immer ein anderer, ein von allen Gruppen und Gruppierungen nur Tolerierter ist. Passione e Ideologia – „Leidenschaft und Ideologie“ heißt darum auch Pasolinis zum Verständnis seines Werkes wichtiger Essay-Band (Garzanti, 1960), der seine Schriften über Dialekt- und Volksdichtung sowie eine Reihe von Aufsätzen über Pascoli, Carducci und zeitgenössische Schriftsteller enthält. Den Titel dieses Essay-Bandes interpretiert Pasolini selbst: Leidenschaft und Ideologie sind nicht als zusammengehörig, sondern in einem Stufenverhältnis zu lesen, zu verstehen. Erst Leidenschaft, dann Ideologie, oder besser noch: erst Leidenschaft, aber dann Ideologie. Persönlicher leidenschaftlicher Einsatz zeichnet den Christen Pasolini, der das Evangelium nach Matthäus verfilmt und in einem Epigramm auf den Tod Pius XII. dem Papst vorhält:
Du wußtest, sündigen heißt nicht: das Böse tun, sündigen heißt: nicht das Gute tun.
Sozialismus ist eine „natürliche Sache“ für Pasolini, wie für jeden, der helfen will, aber er ist nicht bereit, der absoluten Forderung nach sozialer Gerechtigkeit seine individuelle Freiheit zu opfern. Der als progressiv Angesehene erklärt sich gegen die Abtreibung. Wieviel Leidenschaft, wieviel Ideologie?
Die Verse unseres Bandes sind ohne Zweifel als Ausdruck einer neuen moralischen Instanz zu lesen, und Pasolini ist hier wohl eher in seiner christlichen als in seiner marxistischen Haltung zu finden, indes die Verbindung zu sozialer Gerechtigkeit und Lebensfreude will ihm nicht gelingen. Auf dem Camposanto Accattolico, dem protestantischen Friedhof „fuori le mura“, d.h. außerhalb der Mauern Roms, ist die Asche Antonio Gramscis bestattet. Im Titelgedicht des Bandes führt Pasolini eine Art Gespräch mit seinem ideologischen Meister. Eine Apologie seinem Über-Ich, seinem Helden gegenüber. Der Dichter schildert Gräber und Pflanzen, und dann heißt es:
… Zwischen Hoffnung
und altem Zweifel tret ich zu dir…
und weiter
Hier stehe ich selber, arm,
im billigen Anzug, wie ihn die Armen
im schäbigen Glanz der Schaufenster
bewundern, gesäubert vom Schmutz
der Gassen, der Straßenbahnbänke,
der meine Tage verstört: und immer karger,
im Kampfe ums Brot, ist bemessen die Freiheit.
Und wenn mir die Liebe zur Welt
wird beschieden, ist es nur
durch heftige und naive sinnliche Liebe
…………
doch deine Strenge fehlt mir noch immer…
Pasolini entschuldigt, ja bemitleidet sich. Er leidet an seinem Bewußtsein, an der Schmach des Widerspruchs:
… des Für-
und Wider-dich-Seins zugleich; für dich
im hellen Herzen, im dunklen Gedärm wider dich.
Und Pasolini erklärt seine Einstellung:
Von dem proletarischen Leben, das älter
als du, fasziniert, ist seine Fröhlichkeit
mir Religion, und nicht sein tausend-
jähriger Kampf: seine Natur und nicht
sein Bewußtsein…
Und der Dichter wendet sich Shelley zu, der auf demselben Friedhof bestattet ist. In solcher Hinwendung schildert er die italienischen Küsten, ihr Licht, ihre Meere und ihre Menschen. Menschen, die, arm und elend, Arbeiter am Testaccio, Huren, Soldaten, doch ihren Abend genießen. Gramsci, der um seiner Ideale willen zu Tode Gequälte, darf nicht verlangen,
daß ich lasse von dieser Passion,
dem verzweifelten Sein in der Welt.
Pasolini verläßt den Friedhof im Widerspruch zu seinem Meister, im Widerspruch aber auch, kultur- und geschichtsgewohnt, wie er ist, zu den Menschen, mit denen er lebt und die er liebt: den Jünglingen der Slums, den zynischen, die in ihrem Dialekt lachen, die stehlen und trinken, den „ragazzi di vita“ seines Romans. Die Welt seines Lebens und die Welt seines Todes. Man wird sich erinnern, daß die Reihung unanständiger Worte, die in den Tempeln der Kultur noch nicht vorgekommen waren, zu einer Klage von höchster Stelle gegen Autor und Verleger geführt haben. Im Gedicht „Recit“ unseres vorliegenden Bandes ist davon, wenn auch in verschleierter Form, die Rede.
Mythos des Anders-Seins.
Um das Leben in den Borgate darzustellen, verwendet Pasolini die Terzine und den Endecasillabo, die strengen Maße Dantes. Das Bedürfnis nach einer Kultur, die Halt gibt, wahrscheinlich auch der Wunsch, sich von der experimentellen Lyrik seiner Zeit abzusetzen, sie verlangen Vollendung der Form. Doch läßt sich leicht auch vermuten, daß der Gebildete sich von seinen ungebildeten Gestalten wenigstens im Gedicht trennen wollte. Und doch wieder ein Widerspruch, ein Anders-Sein: das Kulturbewußtsein, der Anspruch auf Klarheit der Form, sie hindern ihn nicht, sein Picasso-Gedicht mit dem Vers enden zu lassen:
… daß närrisch
man sein muß, wenn klar man sein will.
Aber freilich, Picasso lebt fern vom Volk.
Das letzte Gedicht des Bandes, „Das Land der Arbeit“, schildert eine Landschaft zwischen Rom und Neapel, die Arbeitsbedingungen der Menschen, vor allem aber ihr Verhalten, ihre Haltung. Unbeweglichkeit und Angst beherrschen die Reisenden, die mit dem Dichter im Zug fahren, ohne ihn wahrzunehmen. Die Armut ihrer Herkunft ist ihr einziger Reisebegleiter, sie verzehren ihr Brot „wie Hunde gestohlene Bissen“, die Frau, die ihr Kind wiegt, „hält still wie ein Tier, das sich totstellt“. Der Dichter nennt sie „anime“-
… Seelen,
mit denen die Welt sich füllt wie mit treuen
Bildern, die unverhüllt die Geschichte begleiten.
Sie ertrinken aber in einer Geschichte,
die nicht mehr die unsrige ist.
Sie leben in unserer Zeit ein Leben, das anderen
Zeiten gehört…
Und wieder finden wir Pasolini im alten Konflikt. Diesen Menschen wird alles zum Feind: der Gutsherr und der Genosse, der sie bedroht und der sie beschützt, der sie ausnützt und der sie befreien will, wer und was immer auch dieses Leben verändern will. Auch die Betrachtung und das Mitleid des Dichters ist diesen Armen feindlich, leben sie doch ihre eigene Geschichte:
Es tun sich zusammen Regen und Sonne
zu einer Freude, die – wie ein Splitter
einer andren, nicht unsrer Geschichte –
vielleicht sich bewahrte im Herzen
der Armen, die hier mit mir reisen:
lebendig allein in der Wärme,
die das Leben größer sein läßt als Geschichte.
Du verlierst dich im innern Paradies,
selbst noch dein Mitleid ist ihnen feindlich.
Pier Paolo Pasolinis Leben und sein Werk in ihm waren und sind für viele wohl die meisten seiner Leser überschattet oder doch sehr einseitig beleuchtet durch Skandale, die sein Leben ständig begleiteten. Prozesse, Publikations- und Vorführungsverbote machten es schwer, wenn nicht unmöglich, zu verstehen, daß Sexualität für Pasolini einen oder den Verbindungsweg zu Außenseitern darstellte, zu denen es keine anderen Kulturbrücken gab. Die beschriebenen Konfliktsituationen lassen begreifen, wie sehr der Autor, in der Erkenntnis eigener Ausweglosigkeit, selbst gelitten haben muß. Andrerseits hat ihm seine isolierte Stellung, der Ausschluß aus der Partei, die Tatsache, daß er von allen offiziellen Stellen bestenfalls toleriert wurde, die Freiheit gegeben, politische, soziale und literarische Probleme seines Landes vorurteilsfrei aufzugreifen. Pasolini hat die oft irrationalen Elemente und Stimmungen seines Volkes gekannt; er versuchte sie zu analysieren. Um Italien in seiner Vielschichtigkeit zu verstehen, mag es heute, mehr denn je, nützlich sein, diese Gedichte aufmerksam zu lesen.
Michael Marschall von Bieberstein, Nachwort
Mit diesem 1980 erstmals erschienenen Gedichtband wurde Pasolini in Deutschland als Lyriker vorgestellt. Die in Italien 1957 veröffentlichten und im selben Jahr mit dem Premio Viareggio ausgezeichneten Verse sind nicht nur die berühmtesten, sie gelten auch als die wichtigsten innerhalb von Pasolinis lyrischem Werk. Mit Gramsci’s Asche etablierte er sich als Lyriker von Rang.
In diesen Gedichten, die zahlreichen Vorbildern – von Ugo Foscolo bis Victor Hugo und Giosuè Carducci – verpflichtet sind, spiegelt sich die Ablehnung der traditionellen Inhalte der Lyrik, während zugleich auf ältere poetische Formen zurückgegriffen wird. Deutlich kommt der zentrale, bewußt erlebte und erlittene Widerspruch zum Ausdruck, der Pasolinis Werk geprägt hat und der mit dem Titel einer seiner Essay-Sammlungen charakterisiert werden könnte: „Leidenschaft und Ideologie“. Der Dichter ist gefangen im Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach einer neuen Realität, die exemplarisch vom Marxismus verkörpert wird, und der verzweifelten Liebe zum „ursprünglichen“ Volk, zum „Italien der Armen“.
In diesen frühen Gedichten ist bereits der ganze spätere Pasolini enthalten. Als sein Vermächtnis können die Worte gelten, mit denen das Gedicht „Picasso“ schließt und die besagen, daß man „närrisch“ sein muß, wenn man „klar“ sein will.
R. Piper Verlag, Klappentext, 1984
Ihr könnt mich wegwerfen wie ein getragenes Kleidungsstück; dieser poetische Körper ist für liebenswerte Bücherwürmer bestimmt.
P.P. Pasolini: „Puer“
Pasolini war und ist der Autor der Unvollkommenheit. Wie oft habe ich mich bei der Redaktion der Texte über seine unfaßbare Oberflächlichkeit geärgert. Ständig zitiert er aus dem Gedächtnis, er zitiert falsch aus Dante und Vergil, obwohl er die Göttliche Komödie und die Georgica drei Meter vom Schreibtisch entfernt stehen hat. Er verwechselt die Cappella Brancacci mit der Cappella degli Scrovegni, Cherubini mit Boccherini, Esau mit Elias, die Mosaiken in San Vitale mit denen im Mausoleum der Galla Placidia. Und das nicht nur in Manuskripten, beim ersten flüchtigen Redigieren, sondern sogar in veröffentlichten Texten, deren Druckfahnen er vermutlich selbst korrigiert hat. Die arme Madame de Sévigné nennt er Madame de Sévigny, der tschechische Autor Mnačko wird bei ihm zu Mnonko, einen Dichter aus Guadeloupe, zu dessen Gedichten er wenige Jahre zuvor selbst ein Vorwort schrieb, bezeichnet er als „afrikanischen Dichter“, und sein ganzes Leben lang glaubte er, daß „allocuzione“ (Ansprache) „locuzione“ (Redewendung) bedeutet. Aus Eile, natürlich, der Eile einer unter dem Vorzeichen des Ich-habe-keine-Zeit aufgebauten Karriere, außerdem aus Verachtung für eine Gelehrsamkeit von Breitärschen, aus Unduldsamkeit und Haß gegenüber der akademischen Bildung (mit entsprechendem unterschwelligem Minderwertigkeitskomplex). Die Geduld des Handwerkers und der Respekt vor dem Leser sind bei Pasolini nie den Weg des Spezialistentums gegangen, im Gegenteil, Spezialistentum und Pedanterie sind ihm immer als Bemäntelung von Resignation und Kapitulation erschienen.
Die Schlamperei, die man ihm gerne vorwerfen würde, ist eher intellektuelle Bulimie: Er zitiert Passagen, die er zwischen Anführungszeichen in einer Zeitschrift findet und tut so, als hätte er das Buch gelesen, aus dem sie stammen. Er spricht über Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft, obwohl er es nur durch ein von Fortini ausgewähltes Kapitel kennt. In seinen Gedichten läßt er einen Satz von Valéry so beiläufig fallen, als wäre er ihm seit langem vertraut, dabei ist ihm der Satz gerade eben bei Jakobson begegnet (obendrein macht er Fehler beim Französischen). Selbstsicher führt er Texte vor, von denen er nur gehört hat, spielt zum Beispiel lässig auf eine kaum bekannte psychedelische Untergrundzeitschrift an, nur weil er auf Reisen einmal zufällig ein Exemplar durchgeblättert hat. Seine Werke spickt er (vor allem in den ersten Jahren) mit preziösen Motti und Sentenzen, Beschwörungen einer Bildung, die ihm fehlt, überall verstreut er Bezüge auf Linguistik, Anthropologie und Soziologie – Zufallsfunde aus Fachbüchern. Nie gibt er seine Quellen an, auch in Fußnoten nicht, häufig überschreitet er die Grenze zum Plagiat: Die einzige Spur einer „Nachahmung“ von Langston Hughes bleibt der Titel Spiritual; von Norman O. Brown, der für Bestia da Stile geplündert wurde (es ist wirklich ein Raubzug, weil das Buch auch aus anderen Zitaten zusammengestellt wurde), bleibt für den Normalleser keine erkennbare Spur. Poundscher Eliotismus, ja gewiß, „diese Bruchstücke stützte ich gegen meine Trümmer“ usw. – doch wohl auch Rollenspiel auf einer inneren Bühne. Der brave Junge von der ersten Bank, der kleine Streber, schämt sich und verkleidet sich als besessener Rebell, als Verfluchter, als kleiner Dieb, doch manchmal meldet er sich wieder unter der Maske, dann zwingt er den Trickster, alles zu lesen, alles zu wissen, niemals zur Ruhe zu kommen.
Nimmt man die wenigen Bücher zur Hand, die von Pasolinis Bibliothek übriggeblieben sind, erstaunt besonders ein Detail, das den Eindruck von Leichtfertigkeit (oder besser Dreistigkeit) im Umgang mit der Kultur bestätigt: Viele Bücher, aus denen er zitiert oder die er häufig benutzt, sind auf den ersten Seiten mit zahllosen Anmerkungen und Unterstreichungen versehen, dann gibt es auf einer Seite ein Eselsohr an der oberen rechten Ecke, und danach sind alle Seiten des Buches unbeschnitten. In Levi-Strauss’ Das wilde Denken, zum Beispiel, enden die Unterstreichungen auf Seite 47, in L’écriture et l’expérience des limites von Sollers auf Seite 18, in Ballys Linguistique générale gibt es nur im Vorwort von Cesare Segre Unterstreichungen, in den Aufsätzen zur Linguistik und Poetik von Jakobson unterstreicht er nur die Einführung von Heilmann und sehr eifrig (wir werden gleich sehen, warum) den letzten Aufsatz mit dem Titel „Linguistik und Poetik“. In einem Catalogo generale del Saggiatore (1958–1965), den eine semi-journalistische Umfrage über Strukturalismus und Kritik einleitet, verunstaltet er einen unschuldigen Passus von Starobinski mit senkrechten Balken, Sternchen und Ausrufezeichen, der damit zum Manifest der neuen Poetik Pasolinis avanciert:
Das Streben nach Totalität wird uns anspornen, die Ergebnisse dieser unterschiedlichen Lektüren zu koordinieren, sie als Elemente einer großen Struktur aufzufassen, und diese wäre dann die gesamte Bedeutung, der umfassende Sinn.
Jeder Autor nimmt sich das, was ihm nützt, wo er es findet, mag man sagen. Doch nicht bei allen gibt es eine derartige Lust an der allesverschlingenden und dem Zufallsprinzip anheimgegebenen Lektüre, ein derart ausgeprägtes Bedürfnis, das Verstandene umgehend und so effizient wie möglich zu verwerten – als fühlte er sich verpflichtet, es mit jeder Neuigkeit aufzunehmen. Er kann sich keine „Studienfreizeit“ leisten, er kann nicht innehalten, um zu verdauen.
Versuchen wir, diesen Beobachtungen mehr Gehalt zu verleihen, indem wir von einem scheinbar sehr weit entfernten Punkt ausgehen: von den Verzeichnissen oder „Entwürfen zu Verzeichnissen“, die so häufig zwischen seinen Papieren zu finden sind. Was daran sofort auffällt, ist Pasolinis Neigung, weitreichend, groß zu denken. Rätselhaft, ja verfrüht, wirkt ein „Werkplan“ in einem Ordner mit der Aufschrift „Alte Hefte und Zeichnungen (1942–1946)“. Hier finden sich nicht weniger als eine „Theogonie“, eine „Kosmogonie“, eine „Paraphrase der Messe“ und ein „Aufsatz über die Idee der Unendlichkeit“ verzeichnet. Diese Neigung nimmt auch in den folgenden Jahren nicht ab, als der vage jugendliche Enthusiasmus konkreteren Überlegungen in Bezug auf die Durchführbarkeit hätte weichen müssen, als es bereits ein Profil als Autor zu verteidigen und Verlagsverträge einzuhalten galt. Im Oktober 1952, in Kürze soll der zusammen mit Mario dell’Arco herausgegebene Band Poesia dialettale del Novecento erscheinen, skizziert Pasolini einen „Arbeitsplan“, wo zwei weitere, gemeinsam zu verantwortende Anthologien auftauchen: „I naturalisti meridionali“ und „I romantici dialettali del Settentrione“. Doch dann listet er, wie unter einem wütenden Drang nach Autonomie, gut acht Bände auf, die er sämtlich alleine besorgen will: 1) „Poemi dialettali barocchi“, 2) „I romantici dialettali“, 3) „I macheronici“, 4) „Pascoli“, 5) „Poesia scatologica“, 6) „Poesia popolare“, 7) „Poesia filosofica“, 8) „Guida poetica dell’Italia“. In dem Arbeitsplan folgen noch elf essayistische Arbeiten, einige haben Ähnlichkeit mit denen, die in Literatur und Leidenschaft erscheinen werden, andere (nie verwirklichte) Projekte haben einen umfassenderen Anspruch, wie die literatursoziologische Studie: „I ,lettori‘ italiani“. Außerdem gibt es Titel wie „I moralisti“, „I provinciali di campagna“ und „Due educazioni sentimentali (Pezzani e Sbarbaro)“, usw.
Am 1. Dezember 1965 entwickelt er auf einem mit „Idee di opere“ überschriebenen Blatt die Idee zu „einem Buch mit Erzählungen, die eine aus der anderen hervorgehen, eine in der anderen enthalten sind, wie dieses russische Spielzeug aus vielen ineinandersteckenden Püppchen (…), so könnte ich Erzählungen in allen Stilen, allen Techniken, auf allen gesellschaftlichen Ebenen, vor unterschiedlichen sprachlichen Hintergründen schreiben“. Einer der erwogenen Titel für das Buch ist: „Io re“ (Ich König). Eine Woche später plant er auf einem anderen Blatt, „bei einem Verlag eine Sammlung zur Linguistik herauszugeben“, und die Sammlung müßte „etwa 150 oder 200 Bände“ umfassen.
Auf Ende 1968 oder Anfang 1969 (eine Zeit, in der Pasolini das Theater schrecklich ernst nimmt, er denkt an ein Zentrum für Theaterforschung unter seiner Leitung) datieren wahrscheinlich die in einem Ordner gesammelten Pläne zu neun Bühnenstücken, außer den bekannten sechs, die er tatsächlich schrieb. Zwei dieser neun Stücke (Storia dell’uomo che voleva comprarsi una schiava und Intellettuali, storia di un’uomo con due figlie dalla opposte vocazioni) werden zu den „Appunti“ für Petrolio. Das dritte, L’abitudine alla gogna, ist um eine „zentrale, unendlich lange Szene aus Dialogen zwischen einem Mann (oder einer Frau) am Pranger und den Leuten“ aufgebaut. Das vierte, Cronaca e tragedia, das, wie er vermerkt, „in der Nacht vom 3. auf den 4. September 1966 geträumt wurde“, ist eine äußerst verwickelte Geschichte um sich kreuzende Inzestbeziehungen. Sie schließt mit der Überlegung, daß „es Geschichten gibt, die man in keiner Weise erklären kann. Und das ist der einzige Grund, warum sie erzählt werden.“ Das fünfte Stück Stasima, in dem es nicht um Inhalte, sondern um die Form geht, ist das Projekt einer „kollektiven Tragödie“. Statt auf die Stasima zu verzichten und die gesprochenen Szenen beizubehalten, werden nur die Stasima bewahrt, während die Dialogszenen wegfallen, auf bloß mimisch dargestellte Handlungen reduziert werden. Das sechste, Colpo di stato, ist das Schema eines politischen Dramas über Tambroni und De Lorenzo, das siebte, Monument, (mit einigen Beziehungen zu Bestia da Stile) ist die Skizze einer Tragödie über Lenin:
Personen:
Lenin 1905, 1917 usw.
Lenin 1968.
Geschichte Lenins „unter den Bäumen“, das heißt, seiner Jugend auf dem Land bis zu den Episoden in der Schweiz (unter den Eichen usw.), in Finnland, und vor allem mit den Bauern in den Jahren 1921–1922. Also Lenins Geschichte konzentriert auf die Bauernfrage. Im Kopf der „revolutionären“ Bauern Verwandlung Lenins in einen Mythos, den antiken Regengott, usw.
Gesprächspartner Lenins soll der Lenin von 1968 sein: das heißt, eine Art prophetischer Vision, die Lenin während der Kampfpausen unter den Bäumen hat (prähistorischer bäuerlicher Mythos, Grundlage des „Personenkults“ usw.)
Das „Monument“ ist das unvollendete Monument, das Lenin hinterließ und Stalin schändete usw. usw.
Vom achten und neunten Stück („Grazia e autorità“, und „Corpo – Il mio conformismo“) gibt es nicht mehr als die auf einen weißen Schutzumschlag geschriebenen Titel.
Letztere Verfahrensweise findet sich recht häufig in Pasolinis Unterlagen: In der „Kladde Herbst-Winter ’49–’50“ gibt es zwei weiße, zusammengefaltete Blätter mit zwei Titeln von „zu schreibenden“ Romanen: „Il palo della morte“, und „Quello sporcaccione di un linguista“. In der Mappe aus braunem Leder steht auf einem weißen, zusammengefalteten Blatt in sauberer Maschinenschrift der Titel „Racconto materno“, mit einem Untertitel, der auf drei untergeordnete Erzählungen oder Kapitel hinweist („Un giorno del ’300 – Marozia – Un papa“). Diese Praxis, sich zu geplanten Werken „zu verpflichten“, indem er einen Schutzumschlag, ein konkretes Zeichen des Projekts für sie vorbereitet, verbindet sich mit einer anderen, häufig anzutreffenden Praxis, nämlich für die bereits geschriebenen Werke etwas wie ein akkurates Layout mit sorgfältig gezeichnetem Buchdeckel einschließlich Verlagssignet einzurichten. Pasolini denkt in Büchern, er sieht ihre dreidimensionale Form und den Raum vor sich, den sie beanspruchen.
Kaum hat er einen thematischen Faden, eine Form entdeckt, will er sofort ein Buch daraus machen. Er schreibt drei Märchen a la Gadda und denkt an ein Märchenbuch, er veröffentlicht einige schöne Tagebuchseiten in Zeitungen, gleich schlägt er Garzanti eine „besondere Form erzählender Literatur“ vor, die sich aus Tagebuchpassagen zusammensetzt. Die Strips für das Storyboard von La Terra vista dalla luna gelingen ihm gut, schon wird Garzanti wieder eingeweiht, er wolle „nach und nach ein dickes Buch mit Comicstrips zusammenstellen“. Als er glaubt, nunmehr genaue Vorstellungen von der Semiotik des Films zu haben, kommt er auf seine Idee von einem „umfangreichen Band“ über die Semiotik der Wirklichkeit zurück, usw.
Verfasser eines Buches zu sein, verleiht Autorität, doch Pasolini lehnt Autorität ab, zumindest behauptet er das. Es ist weniger das Gelingen im eigentlichen Sinne, dem er sich anvertraut, als dem Gewicht oder dem Pensum eines emphatischen Bekräftigens. Es ist offenbar weniger der Wunsch nach Autorität, der ihn antreibt, als ein Pflichtgefühl, das Gott weiß wem gegebene Versprechen, alle Wege zu Ende zu gehen, die eigenen Ressourcen bis zur Neige auszuschöpfen – als gelte es, eine Schuld zu begleichen. (Vielleicht ist es kein Zufall, daß die ersten beiden „ungeschriebenen Romane“, die ich erwähnt habe, in die Zeit unmittelbar nach der Anzeige wegen Verführung Minderjähriger und Erregung öffentlichen Ärgernisses fallen, also in den Moment des tiefsten Risses oder Verlusts eines Selbstbildes. Die mühevoll projektierten Werke sind Steine, die die Risse im Damm abdichten sollen.)
(…)
Reisen bietet eine Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, also Dichtung zu produzieren, doch bietet die Dichtung umgekehrt einen Vorwand für das Reisen. In einem experimentellen Gedicht mit dem Titel „F“ von 1964–1965 schreibt Pasolini:
Nichts ist also poetischer
als das Leben eines Poeten
und der poetischste Gegenstand der Poesie
ist demnach die Poesie selbst.
Vor allem, wenn der Poet völlig auf sie pfeift
und der alte König stattdessen die Besichtigungstouren macht.
Die Dichtung zu besitzen, bedeutet, die Welt wie einen Drehort betrachten zu können und sich so vor der Angst zu schützen, die einen beim Gedanken an die unerschöpfliche Kraft des Wirklichen meist befällt.
Wenn der schöpferische Ausdruck eine Form des Reisens ist, dann sind die unterschiedlichen Ausdrucksweisen nichts anderes als unterschiedliche Transportmittel. Aber keines darf sich als so notwendig erweisen, daß es die anderen ausschließt oder den Autor wirklich an einen Punkt bringt, der keine Rückkehr mehr zuläßt. In der ersten Fassung von Dunckler Enthusiasmo (die letzte Abteilung der Nuova gioventù) sind zwei Texte als Gedichte gemeint, die wir heute als eine Szene aus Bestia da stile und als eine Rezension von Jewtuschenko kennen. Teorema (Film und Roman) war ursprünglich ein Text für das Theater. „Lied“ oder „Cecilia“ war ein Filmexpose, das dann Teil von Der Traum von einer Sache wurde. „Svizzera e Jugoslawia“ ist ein Abschnitt aus Der Traum von einer Sache, der als „Filmstoff’ wiederverwendet wurde. Eine kleine Erzählung von 1950 mit dem Titel „Spiritual“ verwandelt sich in friaulische Gedichte und taucht in Meglio gioventù als Gedicht wieder auf. Ich könnte die Liste noch lange fortsetzen. Keine einzige Form setzt sich mit totalitärem Anspruch durch, wichtig ist nur, den Autor in Bewegung zu zeigen, der das Leben verneint, indem er sich ausdrückt, es jedoch gleichzeitig preist, indem er den Ausdruck verneint und – als vorläufigen – relativiert.
Pasolinis ganzes Werk lastet drückend auf der Autobiographie, doch echte autobiographische Texte tauchen nur sporadisch auf, sind ironisch und nebensächlich. Gerade weil Pasolini jede Minute seines Lebens auspreßt, verwandelt er es in etwas Papiernes, doch nicht endgültig. Der „Figur Pier Paolo“ gelingt es nicht, ein anderer zu sein, sich vom Leben des Signor Pasolini abzutrennen – darum ist sie unzufrieden mit ihrem papiernen Leben und muß fortfahren, es auszupressen. Pasolinis Gier, das Leben zu schreiben (und das Schreiben zu leben) ist in Wirklichkeit eine Flucht vor der Autobiographie und vor den „Zeiten des Begreifens“, die eine Autobiographie verlangt.
Der weitaus größte Teil von Pasolinis Werken ist das Ergebnis eines fast konstant gleichbleibenden Gestaltungsprozesses: der erste Entwurf ist der ambitionierteste und gleichzeitig magmatischste – derjenige, in dem die Neigung, „groß zu denken“ und der weitreichende Lebensbezug sich ungehindert durchsetzen. Hierfür gibt es zahllose Beispiele: Man denke nur an den Traum von einer Sache, an den Interview-Film Comizi d’amore, an die Barbarischen Erinnerungen, sogar an Ragazzi di vita oder (um zu weniger bekannten Texten überzugehen) an das Schicksal des Romanzo del mare und das von L’italiano è ladro. Sogar die Poesie a Casarsa, von der Kritik gewöhnlich als eine intuitive frühe Blüte vorgestellt, sind (wenn man ihren Entstehungsprozeß näher betrachtet) das Ergebnis einer fortschreitenden Reduktion. Denn am Anfang stand das ehrgeizige mehrsprachige Projekt einer lyrischen Idylle oder einer klassisch-modernen Elegie, und das „Friaulisch für Dichtung“ dient in diesem Fall hervorragend als Auswahlprinzip: Dieselben Verse, die auf Italienisch (in Briefen an Freunde) epigonal und gefällig klingen, beginnen, ins Friaulische übersetzt, zu fliegen, sie schaffen einen leeren Raum um sich, erwerben sich Unabhängigkeit und Daseinsrecht.
Die letzten Fassungen der Werke Pasolinis, die für eine Veröffentlichung bestimmt sind oder jedenfalls „ins Reine“ geschrieben wurden, sind meistens das Produkt eines Verwerfens. Interessant ist, daß dies Vorrecht des Schriftstellerhandwerks immer als ein Verzicht erfahren wird und mit großem Bedauern einhergeht. Ein aufschlußreiches Indiz ist schon die Anordnung des Materials in den Ordnern: zuoberst liegt die endgültige Fassung, schlanker und ohne Korrekturen, es folgen sämtliche vorhergehenden Fassungen in absteigender chronologischer Ordnung und zunehmend umfangreich. Als „schwämme“ die endlich erreichte Form auf dem Magma, aus dem sie entstand, ohne jedoch die Nabelschnur vollkommen zu durchtrennen, verdankt sie doch diesem Magma letztendlich ihre Eindringlichkeit.
Im „Tagebuch“ zu L’Italiano è ladro wird das Endprodukt mit Fäkalien verglichen, es ist ein „objektiviertes Exkrement“, der Auswurf dessen, was der Schriftsteller verschlingt. Pasolini spricht über die Kürzungen, die er vornahm, und schließt: „Insgesamt habe ich auf viel Prosaisches verzichtet – sehr schweren Herzens, denn es handelt sich wieder einmal um ein Scheitern zugunsten des Poetischen“. Als er 1975 zu Barbarische Erinnerungen interviewt wird, erklärt er:
Ich wollte etwas Kochendes, Magmatisches machen, herausgekommen ist etwas Poetisches wie Gramsci’s Asche, allerdings in Prosa.
Der Satz ist zweideutig, voll Koketterie, als würde er sagen:
Was auch immer ich schreibe, ich kann mich nicht daran hindern, Dichter zu sein.
Doch klingt aus diesem „etwas Poetisches“ zweifellos auch Enttäuschung. Die Dichtung ersetzt das ursprüngliche Projekt, sich an die Fülle der Wirklichkeit anzuschließen, sie verrät dieses Projekt sogar, weil sie darauf verzichtet, das Leben auszudrücken, etwas Größerem und gleichzeitig Armseligerem zuliebe, nämlich der Schönheit.
Pasolini liegt oft mit der Form und der Schönheit im Streit: Wenn er in Poesia in forma di rosa die akzentuierende Metrik zugunsten der quantitierenden aufgibt, wenn er in Petrolio mit den narrativen Anstandsregeln bricht, wenn er das Licht frontal auf die Filmkamera „feuern“ läßt, oder wenn er bei der Vertonung akzeptiert, daß seine tragischen Helden mit den brüchigen, dialektalen Stimmen des Lumpenproletariats sprechen. Zugegeben, er tut das im Namen einer „anderen Schönheit“, die er sich durchsetzt mit Dissonanzen und Stilmischungen vorstellt. Andererseits ist nicht zu leugnen, daß die Literatur und das Leben Schaden nehmen, wenn sich beide auf derselben logischen Ebene messen müssen, statt auf unterschiedliche Ebenen verteilt zu werden und damit unvergleichbar zu sein. Denn so erscheint die Literatur unvermeidlich als ein Netz, das nicht genügend greift oder mehr draußen läßt als es einfängt – kurz, die Schönheit als solche muß dann wie ein Mangel an Leben erscheinen.
Wenn das „gerettete“ Fragment besonders dürftig ist, wird das Bedauern in den Ordnern mit den Fassungen umso lauter. Einen Grenzfall bildet sicherlich die kleine Gedichtsammlung mit dem Titel L’Atlante (eine Sammlung, die vermutlich auf 1946–1947 zurückgeht und in die Phase der ersten abenteuerhaft-exotistischen Prosa, wie „Il re del Giapponesi“, fällt). Die zwei Zeugnisse, die wir besitzen, präsentieren sich bereits als eine Anthologie, die einzelnen Stücke sind nicht fortlaufend numeriert. Doch schon die Maßlosigkeit der Numerierung in römischen Ziffern (es gibt einen Text CLXXXIX und sogar einen DCCIV) weckt den Verdacht, daß es sich um einen Schwindel handelt, daß die vollständige Serie niemals geschrieben wurde. Der Zweifel wird zur Gewißheit, wenn wir bei den letzten Teilen auf völlig absurde Numerierungen stoßen wie XXILCI, CCVD oder CCILIVCI (was übrigens zeigt, daß Pasolini sich über seine tollkühnen Projekte lustig machen konnte). Von der ganzen Sammlung überlebt schließlich nur ein einziges Stück, das, nicht einmal vollständig, unter dem Titel „Impromptu“ in die Abteilung „Die Klage der Rose“ der Nachtigall aufgenommen wird. Von dem epischen Gedicht „L’italiano è ladro“, das zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Entstehungsprozesses bis zu sechzig Versgruppen oder Episoden zählt, veröffentlicht Pasolini in Nuova Corrente einen Auszug, der nurmehr zehn Episoden umfaßt. Der ambitionierte Text „Bestemmia“, an dem er mindestens fünf Jahre arbeitet und von dem es noch gut achtzig Seiten gibt, wird nur mit einem winzigen Ausschnitt in Cinema e film veröffentlicht, den er mit folgenden Bemerkungen einleitet:
Dies ist ein Fragment aus einem „Poem in Form eines Drehbuchs“ oder eines „Drehbuchs in Form eines Poems“. Man lese es wie einen Exkurs, wie man einen Aufmarsch von Helden oder ein Loblied auf den Herrscher in klassischen Poemen liest.
Er wählt also das aus, was sich unter ein Erkennungszeichen bringen, was sich einer Gattung zuschreiben läßt – ausgerechnet er, der Gattungen immer nur benutzte, um sie zu verletzen. Von den zahlreichen, zwischen Schuldgefühlen, Engagement und purer Glückseligkeit schwankenden Texten, die er nach dem Tod des Bruders schrieb, wählt er jene aus, die zu einer Antologia della Resistenza passen könnten. Aus der Idee zu einem wissenschaftlichen Dokumentarfilm (mit dem verwegenen Titel Natura e contronatura), in dem sämtliche Bedeutungen des Wortes Sex erschöpfend behandelt werden sollen, wird der nach dem Muster des Cinéma vérité tatsächlich gedrehte Interview-Film über die Meinungen der Italiener zur Sexualität.
Da Pasolini oft wie ein Bastler arbeitet, fällt es ihm nicht schwer, zwei anscheinend gegensätzliche Verfahren miteinander zu vereinbaren: einerseits zunehmend komplexere Ordnungen und Inhaltsverzeichnisse zu verwalten (wie auf den vorhergehenden Seiten skizziert) und diesen andererseits recht schlichte Ausschnitte zu entnehmen, deren Einförmigkeit an Manieriertheit grenzt (wie soeben beschrieben). Ein gutes Beispiel ist Die Nachtigall der katholischen Kirche. Zehn Jahre lang, von 1943 bis 1953, wird das Verzeichnis dieser Sammlung fortwährend komplexer, die Sammlung immer umfangreicher: Von der anfänglichen, dekadenten Idee, die traditionelle Naivität der Liturgie in den empfindsamen Tönen des 19. Jahrhunderts zu beschreiben, geht er über zur Idee einer „Biographie der Seele“, unter Einbeziehung immer umfangreicherer tagebuchartiger Passagen, bis es nach dem Skandal von 1949 zum Versuch eines römischen Zusatzes kommt, der über all das hinausgehen soll, indem er den Anschluß an eine heidnische Vitalität beschwört. Doch was überwiegt, als Longanesi den Band 1958 veröffentlicht, ist der Gegensatz zum kurz zuvor erschienenen Gramsci’s Asche. Also werden die magmatischen und „harten“ Tagebuchteile aus der Sammlung getilgt, ebenso der römische Zusatz, und nun liegt der Schwerpunkt auf intimen Texten aus der Jugendzeit, der Schilderung einer privaten Sünde, die dem öffentlichen Engagement entgegengesetzt wird.
So verläuft es oft: Der Verzicht auf das Magma steht unter dem Vorzeichen der Wiedergewinnung einer vermeintlichen jugendlichen Frische. Als Pasolini 1962 endlich das veröffentlicht, was er von dem gewaltigen Romanapparat gerettet hat, der La meglio gioventù hieß (und jetzt den Titel Der Traum von einer Sache tragen wird), erklärt er einem Journalisten, er habe sich einen Spaß daraus gemacht, „mich selbst nachzuahmen, so wie ich damals war.“ Als er 1960 den Bühnentext „Cappellano“ wiederaufnimmt, erwähnt er in einer Notiz die „harte philologische Arbeit“, die es ihn kostete, um zu einer „Nachahmung des Stils von ’46“ zu gelangen. „L’italiano è ladro“, 1955 veröffentlicht, gibt sich als das aggressive und extrovertierte Werk, ganz wilder Tatendurst aus roten Fahnen und machohaftem Ton, das es 1949 ursprünglich war, bevor die Themen der Mutter und des Intellektuellen hinzukamen, um das Bild zu beherrschen. In Wirklichkeit ist das wieder verwertete Fragment aus der Jugendzeit in all diesen Fällen eine geduldige Restaurierung zweiten Grades, eine regelrechte Selbstfälschung des Autors.
Die Einfachheit blickt in die Vergangenheit, weil die Kompliziertheit an der Gegenwart scheitert, und gerade im Versuch, die vielfältigen Komplexitäten des alltäglichen Daseins abzubilden (Präsenz, Geheimnis, Langeweile, Leere, Sex, Macht, Symbol) entpuppt sich das Magma als desperate Annäherung. Die Kluft zwischen Intention und Ergebnis zwingt Pasolini tausendmal dazu, sich zu entlasten, zu rechtfertigen, zu erklären und einzuschränken. Der „Vorwortwahn“ beginnt gewiß nicht erst mit Petrolio (wo er ausdrücklich zugegeben wird), auch nicht 1965 mit Ali mit den blauen Augen, obwohl im Inhaltsverzeichnis die Anhäufung von nicht weniger als sieben Einführungen auffällt, einige in Versen, andere in Prosa. Nein, in den 40er und 50er Jahren gibt es praktisch keine Kladde, mag sie noch so geringfügig und provisorisch sein, die nicht mit einer Anmerkung oder einführenden Bemerkung oder „Tagesnotizen“ Pasolinis versehen wäre.
Sein Nachlaß bestätigt mithin, was schon im veröffentlichten Werk deutlich wurde: Die Texte sind ein zwischen zwei Reihungen aus Gegensätzen gespanntes Gummiband: zwischen Größenwahn und Gnade, zwischen Magma und ästhetischem Gelingen, zwischen Didaktik und freiem Flug, zwischen System und Disziplinlosigkeit. Einerseits gibt es den programmatischen Pasolini, der „der Welt Tiefe geben“ („Dando fondo al mondo“ ist der erste Titel von Italie magique) und in allem Meister sein will. Andererseits gibt es den kapriziösen und leichtsinnigen Pasolini („Leichtsinn“ ist noch die schwächste Bezeichnung für das, was ich auch Schlamperei oder Nachlässigkeit genannt habe), der „schlechthin unbelehrbar“ ist, der sich herumtreibt, wo er will und sich den launenhaften Fingerzeigen des Talents anvertraut. Als provisorischer Kompromiß zwischen diesen beiden unvereinbaren Seiten dient just die Praxis des Unvollendeten. Wieder einmal ist es, als würde die Werkstatt öffentlich gemacht („die Werkstatt / ist daher der poetischste Ort der Welt“ schreibt er in „F.“), als würde man in dem Ordner, der das Material versammelt, von der endgültigen Version zu den vorhergehenden, weniger geschliffenen und reicheren zurückgehen, die sowohl den Wunsch nach Wirklichkeitsbezug als auch den nach Form demonstrieren. Schon Michelangelo wußte es: Wenn das Verfahren im Beseitigen besteht, dann schmälert das Vorführen seiner Wirkungsweise die erweckte Schönheit nicht, im Gegenteil, es steigert sie, weil es eine Ahnung von der Mühe vermittelt, die nötig war, um sie zu erreichen.
Doch auch bevor Pasolini ausdrücklich das Prinzip des Nicht-Vollendeten übernimmt, schon in den frühen 50ger Jahren, zum Beispiel in einem Text wie „I parlanti“, scheint die Entscheidung darüber, was (in einem tendenziell unendlichen Geflecht von Beschreibung und Erklärung) als schön anzusehen ist und was nicht, einer Liebeserklärung überlassen zu werden. Also nicht (nicht nur) einer instinktiven Rhetorik, sondern einer Tat, einer Entscheidung, die wiederum zum Leben gehört. Die Dichtung durchdringt demnach das gesamte Schicksal des Dichters: Eine Berufung zum Dichter ist etwas, für das man bezahlen, mit dem eigenen Leben büßen muß. Schreiben zu können, genügt nicht, man muß ein besonderer Mensch sein.
Unter den Schriftstücken in der Mappe „Material aus Casarsa 3“ gibt es ein Blatt mit dem Datum 8. April 1947, auf dem Pasolini das Verzeichnis seiner Gesammelten Werke anlegt. Es umfaßt sechs Gedichtbände, zwei Romane und vier Dramen. Mit fünfundzwanzig die eigenen gesammelten Werke zu planen, ist wahrhaftig nicht jedermanns Sache. Von Anfang an gibt es bei ihm eine grimmige Entschlossenheit, Autor sein zu wollen, in mehreren Heften (später in mehreren Ordnern) bereitet er Werke unterschiedlichster Art vor, in bester italienischer Tradition des Vielschreibers. Er schneidet alle Nachrichten über Literaturpreise aus Zeitungen aus (und bewahrt sie auf), an vielen Ausschreibungen nimmt er teil, noch in den fünfziger Jahren in Rom, immer mit dem üblichen System, für seinen Wettbewerbsbeitrag bereits geschriebene Werke auszuweiten, so daß komplexere Strukturen und ein Gattungsgemisch entstehen. Er nimmt eine Karriere vorweg, die er noch nicht gemacht hat: Eine der unzähligen kleinen Sammlungen italienischer Gedichte in der Mappe „Material aus Casarsa 1“ endet mit der Notiz vom 28. April 1944:
Ich übergebe diese Gedichte, an denen ich fast zwanzig Jahre gearbeitet habe…
Ein Heft mit dem Datum 27. Oktober 1945 beschriftet er „Poesiis rifiutadis“. Er benimmt sich schon wie ein Profi und hat noch nicht einmal die Universität abgeschlossen. Auf fast jeden Text folgt eine Anmerkung, ein Kommentar („dieses Gedicht habe ich nach der Rückkehr von einem Zeltlager verfaßt“), in Briefen an Freunde erteilt er Lektürehinweise, Anweisungen zum Gebrauch seiner Gedichte („lest sie laut“; „ich weise euch darauf hin, daß das Gedicht auf der Rückseite zuerst analysiert werden und sein Sinn begriffen sein muß, bevor man es wirklich liest“). In den Jahren der Reife wird er oft an sein Dichten als an eine Erfahrung denken, über die ein weiteres Gedicht geschrieben werden könnte (die Liste wäre lang, es mag genügen, an Titel zu erinnern wie: „Beim Schreiben des Canto popolare“, „Beim Wiederlesen der Rezension von Mondo salvato dai ragazzini“, „Bezüglich meiner Vorsätze in Bezug auf Leichtigkeit“, „Zusatz zum Enigma Pius XII.“, „Materialien für die Einführung“ usw.).
Mehr Literatentum geht nicht, dennoch steckt hinter diesem „besessenen Wunsch Autor zu sein“ ein anti-literarisches Motiv, die Idee von der Unzulänglichkeit der Literatur. In einer Notiz mit dem Datum „Ende Februar 1948“ schreibt er:
Plötzliche, schmerzende Eingebung (während ich ein Buch über Proust lese und zwei Jungen Lateinstunden gebe): meine Anlage zur Dichtung, mein dichterisches Glück liegt in den Momenten, in denen ich an die Dichtung als an einen anderen Stoff denke, einen anderen Ort, unendlich viel (…), aber wirklich und konkret, wie dieser Stoff und dieser Ort hier.
Die Dichtung ist keine (mehr oder weniger inspirierte) Technik, sondern eine Heimat – der Dichter, oder vielmehr der DICHTER, ist nicht einfach ein Mensch mit einer besonderen sprachlichen und expressiven Begabung. Er unterscheidet sich anthropologisch von anderen Menschen, er hat besondere Rechte und Pflichten. Er lebt zwar auf dieser Erde, doch er besitzt (wie ihm Rimbaud in Barbarische Erinnerungen erklären wird) eine doppelte Staatsbürgerschaft, und jede seiner Handlungen (nicht nur jeder seiner Texte) muß poetisch sein.
(…)
Da sie auf die Extreme zielt, muß die selbstwidersprüchliche Ganzheit von Pasolinis Leben/Werk fortwährend zwischen Allmacht und Ohnmacht, zwischen Fülle und Leere, zwischen Euphorie und nihilistischer Verzweiflung schwanken. (Genau so wie er sich in den Augen des Lesers/ Richters den entgegengesetzten Gefahren der Über-und Unterschätzung aussetzt).
Im „Haikai dei rimorsi“ schreibt er:
Die Knaben sind grausame Bilder
von Toten; wo ist ihre Unschuld?
Wo sind ihre Verführungen?
Ihre Augen sind voller Asche.
Wir schreiben das Jahr 1949, doch der Ton ähnelt schon der „Abiura dalla Trilogia della vita“, die fünfundzwanzig Jahre später entsteht; und, wohlgemerkt, das war im Juni 1949, also vor, nicht nach der öffentlichen Anklage und dem Pranger – die Erschöpfung und der Überdruß sind allenfalls der Grund für den Skandal, nicht seine Folge. Noch früher, auf 1946–1947 datiert ein Text wie „No, i dis di no“:
Die Kinder hatten nicht gefurzt? Sie sind in den Kleidern und im Gestank ihres Vaters gestorben (…) Bonbons, Heringe, vergilbtes Papier, Kekse, Oliven, Pfefferminzpastillen, Chlorbleiche (…) Geruch nach toten Kindern in ihren Körpern von Männern, Großvätern, Fürzen und Sünden. Komm herab, Engel, töte uns alle.
Oder nehmen wir das zwischen 1960 und 1961 beherrschende Thema der Teilnahmslosigkeit und der Wut: Pasolinis gesamte Karriere wird von zyklothymen Rhythmen geprägt, mal ist es trügerische Übereinstimmung mit der kollektiven Vitalität, mal Verdüsterung und Krise.
Doch es gibt ein Datum, das eine Schwelle darstellt, hinter der es kein Zurück mehr gibt, einen Grat, jenseits dessen nichts mehr so ist wie zuvor – wenn die früheren Konstanten jetzt erneut auftauchen, geschieht das mit einer ungewohnten Beschleunigung und dem kalten Hauch des Irrwegs. Dieses Datum ist das Jahr 1965 oder besser der Zeitraum zwischen 1964 und 1966. Bis zu diesem Augenblick hatte die Beziehung zwischen dem Dichter und der Welt im System Pasolinis (trotz aller Krisen oder vielleicht dank der Krisen) ein gutes Maß elektrischer Spannung bewahrt: Der Dichter drückte die Wirklichkeit aus, die Erniedrigten lebten sie in Reinheit. Es gab eine wechselseitige Entsprechung zwischen Dichter und Erniedrigten, die sich auf die Anerkennung der jeweiligen Identitäten und auf die Identifizierung eines gemeinsamen Feindes stützte. Als Pasolini 1965 Fortinis Sammelband Profezie e realtà del nostro secolo liest, sieht er sich endgültig in einer Reihe von Überzeugungen bestätigt, die ihn schon in den beiden vorangegangenen Jahren beschäftigt hatten: Die alten Formen der Unterdrückung verschwinden, der Neokapitalismus kennt keine nationalen Grenzen mehr, den Padrone als Individuum gibt es nicht mehr (den Eisenhüttenbesitzer des 19. Jahrhunderts). In der Zwischenzeit liest er die Anthropologen (den von C. Leslie herausgegebenen Band Mensch und Mythos in primitiven Gesellschaften). Die gutmütige Persönlichkeit Papst Roncallis hat ihn beeindruckt, in ihm keimt der Gedanke, daß religiöse Innerlichkeit und die Institutionen womöglich doch nicht so gegensätzliche Pole sind, wie er bis jetzt geglaubt hatte, ja, daß der Normalfall (in der banalen Geschichte der Menschen) immer eine Mischung aus Mystizismus und kulturellen Normen, ein Nullsummenspiel, eine Grauzone ist.
1965 ist ein Dante-Jubiläumsjahr, und Dante bedeutet für ihn auch Contini. Aus Dante gewinnt er die Idee, daß es keine große Literatur ohne den manischen Gebrauch der freien indirekten Rede gibt. Gleichzeitig zeigt ihm die Welle der „Arbeiterliteratur“ (1964 durch eine Nummer von Menabò eingeleitet, doch er bezieht sich vor allem auf zwei Freunde, den Volponi der Macchina mondiale und den Roversi der Registrazione degli eventi), daß das, was man in den Köpfen der Erniedrigten findet, wenn man dort eindringt, nichts mit der beruhigenden „Gesundheit“ des kommunistischen Mythos zu tun hat, im Gegenteil, daß sich sogar ein sprachlicher Kurzschluß zwischen der Neurose des Schriftstellers und jener des Arbeiters vorstellen läßt. (Das Gleiche passiert, wenn man in den Kopf eines Bürgers dringt, Antonioni hat es in Die rote Wüste getan). Der jüngste Wunsch der Erniedrigten ist der nach Integration (in Große Vögel, kleine Vögel träumt der Schimpanse aus Ruanda davon, in einer Mine in Lille arbeiten zu gehen, Geld zu verdienen und einen Frisiersalon aufzumachen).
Die italienische Sprache verändert sich, die Dialekte verschwinden und ein technologisch geprägtes Durchschnittsitalienisch entsteht. Die Zukunft stellt sich als ein Ödland dar, erfüllt vom blendenden Licht der Klassenversöhnung. In einer Reflexion zu Goldmanns Soziologie des Romans und dem Begriff der Homologie schreibt Pasolini:
(…) wenn es in den Strukturen des Kinos eine Übereinstimmung mit denen der Gesellschaft gibt, dann gestaltet sich diese Gesellschaft auf amorphe und allgemein gültige Weise, wie die ganze zivilisierte Menschheit – einschließlich der „Entwicklungsländer“.
Wenn die Gesellschaft zu einem „lauwarmen“ Magma ohne Hierarchien wird, dann ist die Filmkamera das beste Medium, um sie darzustellen: Das Kino reproduziert die Wirklichkeit, ohne zu sie interpretieren, es ist die „geschriebene Sprache des Handelns“. Doch das bedeutet umgekehrt, daß die Wirklichkeit eine Sprache ist. 1966 erscheinen Jakobsons Aufsätze zur Linguistik in Italien, und dort entdeckt Pasolini den Begriff der „Pansemiotik“ – die Welt ist Vorstellung. 1965 hat er begeistert den Don Quijote wiedergelesen, ein Buch, das konsequent mit der „doppelten Lesart“ zweier Wirklichkeitsvorstellungen spielt, der des Paranoikers und der des „zukünftigen Kleinbürgers“ Sancho. Der spanische Barock und seine Verdoppelungen der Wirklichkeit werden Pasolini im darauffolgenden Jahr zu Caldérón de la Barca führen (und eine Abbildung der Meninas von Velásquez auf der ersten Seite von Foucaults Die Ordnung der Dinge wird die zweifache Wirklichkeit mit dem Zustand des Künstlers verbinden, der „innerhalb und außerhalb seines Werkes“ steht).
Als Pasolini 1965–1966 das alte Projekt „Bestemmia“ wieder aufgreift, geht es nicht mehr um den Mann, der durch Armut und Sünde zum Heiligen wird, den er anfänglich entworfen hatte, sondern um einen armen Teufel, dem Gott erscheint, um ihm zu sagen, er sei frei, sich nicht zu bekehren. „Bestemmia“ schließt mit folgenden Versen:
Ich bin unsicher. Bevor ich sterbe oder mich sterben lasse,
werde ich vielleicht nicht einmal beten. Ich bin unsicher, unsicher…
Niemand wird je unter unsere Geschichte das Wort Ende schreiben können.
Vor der zweiten Indienreise hört er von Eisa Morante hingerissene Berichte über Simone Weil und die indische Philosophie, er beendet „La terra vista dalla luna“ mit dem indischen Spruch „zu leben oder tot zu sein, ist dasselbe“. In der Zeitschrift Cinema e film erscheint ein Interview mit Barthes, wo von dem „aufgehobenen Kanon“ die Rede ist, den mittlerweile jedes ernsthafte Werk braucht, da die Bedeutung dem (unbegrenzten) Sinn gewichen ist: An die Stelle der Metapher, der bewußt gewählten Figur, ist die Metonymie getreten, die sich durch Ansteckung verbreitet. Eines der Gedichte, die Pasolini in die neue Sammlung Poesie marxiste aufnehmen will, trägt den Titel „Quelle metafore maledette“. Ein anderes der „marxistischen Gedichte“, das Eingangsgedicht, heißt „F.“ und ist der Fica, der Möse, gewidmet. In einer Tour de Force aus reduktionistischen Kurzschlüssen gesteht Pasolini, daß seine Fremdheit gegenüber Frauen ihn für immer von den (männlichen) Arbeitern trennt, und daß sich umgekehrt die Arbeiter gerade im Zeichen der Liebe zur Möse ihren Herren angleichen, bis zum Zusammenbruch aller Ideologien:
In DIR [vereinigen sich] die rote Fahne (Lenins und Stalins),
das Kreuz mit den Haken, der Wimpel, das Sternenbanner
Amerikas – das farblose Banner Trotzkis –
Und die ländlichen Banner der Priester – das KREUZ tout court (…)
1966 ist das Jahr des Theaters, und Pasolinis ganzes Theater beruht auf dem „aufgehobenen Kanon“. Bei Jakobson hat er die phatische Funktion der Sprache entdeckt, dies war der Anstoß, das „phatische Theater“ oder Theater des Geschwätzes zu verdammen. Doch sein Theater des „Wortes“ spielt die Worte gegeneinander aus, bis Bedeutung unentscheidbar wird. In diesen Monaten skizziert er außerdem ein kurzes Filmskript über den heiligen Paulus (doch der Einfluß des Theaters ist deutlich, tatsächlich nennt er es „Tragödie in Episoden“), in dem das Urteil aufgehoben wird: Man erkennt nicht, ob der heilige Paulus ein heimlicher Neurotiker ist, der die Kirche ruiniert hat, oder ein Kirchengründer, der seine Neurose „zum Guten“ gewandt hat.
Kurz, was hat Pasolini in diesen zwei Jahren gesehen, während seine Intelligenz ihre Kapriolen schlug? Er hat gesehen, wie die Realität verschwand, vom Bürgertum verschluckt wurde, und er hat begriffen, daß es in diesem Realitätsschwund („Irrealität“ ist das Wort, das ihm die Freundin Morante leiht) kein sicheres Ufer für den Dichter mehr gibt. Es gibt für ihn keine Berufung mehr (die Wirklichkeit ausdrücken), nur noch den (mit vielen geteilten) Beruf des Kombinierens von Zeichen. Fortan ist die einzig mögliche Dignität, das einzige Mittel, sich zu unterscheiden, persönlich zu büßen und sich die Zeichen auf den eigenen Leib zu brennen. Sich nicht mit Mißbilligung zu begnügen, wie die schönen Seelen, nein, es gilt, die demütigendsten Wahrheiten, die infantilsten Traumata des eigenen Ich zu akzeptieren. Und wieder einmal die Ohnmacht in Allmacht zu verkehren: Wenn man keine Gedichte mehr schreiben kann, muß man mit dem Körper und mit Taten fortfahren, Dichter zu sein. Wohl wissend, daß man damit ein Floß aufs Meer schickt, das dieselbe Beschaffenheit wie das Wasser hat, das es trägt (das Magma, das nicht Beendete…).
Im Pasolini-Archiv in Vieusseux ändern sich von nun an sogar die Behältnisse, in denen die Dokumente aufbewahrt werden. Bis in die frühen 60er Jahre sind die Ordner, die Pasolini für seine Kladden vorbereitet, makellos ordentlich, alle identisch, alle aus festem braunem Karton und mit einem Gummiband verschlossen. Die Varianten sind minuziös verzeichnet und gewissenhaft aufbewahrt. Ab der Mitte der 60er Jahre vermittelt das Material den Eindruck, daß es mit zunehmend geringerer Sorgfalt verwaltet wird: Das Ordnungsprinzip der aufbewahrten Fassungen ist weniger klar, die Varianten weichen meist stark voneinander ab, die Trennung zwischen veröffentlichbarem und nicht veröffentlichbarem Material wird unscharf. Auch die Mappen machen einen eher provisorischen Eindruck, sie sind aus einfachem Karton und alle unterschiedlich, häufig mischen sich Artikel für Zeitungen und andere Auftragsarbeiten unter die Gedichte. Es ist, als wäre die Außenwelt in seine Werkstatt eingebrochen, als hätten die Beziehungen zu den Massenmedien eine glückliche Einheit, ein zufriedenes Selbstbewußtsein als Schöpfer zerstört.
Von diesem Zeitpunkt an setzt er auch sein eigenes Reich, seinen Schreibtisch, aufs Spiel – er ist immer häufiger unterwegs, hat immer weniger Zeit zum Lernen. Unter den Studenten fühlt er sich von 1966 bis 1968 eher wie ein Sohn als wie ein Vater. Die Callas, die sich Ende 1969 in ihn verliebt, weckt in ihm die Idee einer unmöglichen Vaterschaft. Seine psychologischen Kategorien geraten durcheinander, auch die soziologischen: Durch die Callas kommt er mit dem Jetset in Berührung, und der ist etwas völlig anderes als das Kleinbürgertum, das so leicht zu verachten war. Doch in all diesen Jahren stützt ihn eine beneidenswerte Gesundheit, die eng mit der Gewißheit um die Liebe zu Ninetto zusammenhängt. In dem unveröffentlichten, unvollendeten Gedicht „Ninetto contro Sartre“ stellt Pasolini seinen jungen Freund dem französischen Philosophen gegenüber: Ninetto ist das Gegenbeispiel, das genügt, um Sartres Theorie von der „Böswilligkeit“ als universalem menschlichem Faktum zu widerlegen. Solange es Ninetto gibt, hält sich auch das Vertrauen in die Dritte Welt und in die Möglichkeiten einer Rebellion – vielleicht keine marxistische mehr, eher eine radikale oder anarchistische. Der Faschismus überdauert als Mythos dessen, was man bekämpfen muß, wenn man von der „ununterbrochenen Herrschaft des Nazismus als der eigentlichen bürgerlichen Ideologie“ überzeugt ist.
Doch 1972 heiratet Ninetto ein Mädchen aus dem Kleinbürgertum („ein farbloses Mädchen / nennt sich deine Frau, ein schwarzes / Haus im faschistischen Stil ist dein Nest, / ohrenbetäubender Verkehr auf einer armseligen / und hochtrabenden Straße am Stadtrand / ist dein Friede“), es gibt kein Gegenbeispiel mehr, und der Wille, der Integration zu widerstehen, wird schwächer. Schon in einem um 1970 geschriebenen Gedicht mit dem Titel „Introduzione“ hatte Pasolini versucht, sich in jemanden hineinzuversetzen, der keine Werte mehr zu verteidigen hat:
Ah, welch eine Freiheit in einem Mann
der ganz und gar kein „Träger von Werten“ mehr ist,
sondern einzig und allein „Initiator von neuen Werten“!
(für die er natürlich weder Interesse noch Liebe hegt).
(…)
Durch meine Enthumanisierung werde ich frei, kein Rebell sein
und ich werde pfeifen
Zum ersten Vers des Gedichts gibt es eine Fußnote, die anmerkt:
Das Ich, das spricht, ist nicht der Autor.
„Introduzione“ ist vielleicht als gedichtete Einführung in ein nie realisiertes Werk zu verstehen, einen der vielen geplanten und unmöglichen Romane, deren Hauptfigur und sprechendes Ich ein Bürgerlicher sein sollte. Auf jeden Fall gewinnt man den Eindruck, daß Pasolini durch den Zerfall seines Vorstellungssystems ein Ichverlust droht, die Enthumanisierung eben. Angesichts dieser Bedrohung versucht er instinktiv, den tiefsten Kern seines Inneren wiederzugewinnen, als müsse er zurückfinden zu den jugendlichen Ängsten vor Selbstverlust und zu jener Gewißheit, Dichter zu sein, die ihn damals gerettet hatte. Vom Dezember 1972 stammt ein Gedicht mit dem Titel „Euristica“, in dem er erwägt, zu einem hermetisch-surrealistischen Trobar clus zurückzukehren, zu einer Poetik, in der die Worte für ihn entscheiden:
Begründer in der Region der Anfänge,
er ordnet nicht mehr das ursprüngliche Wuchern
der unabsichtlich gewählten Worte;
das Verschwinden der Ordnung stellt
die Vorherrschaft der Literatur wieder her,
der einzige gute Boden für eine Heuristik,
die wirklich wild ist.
In Chia steht der soeben erworbene Turm, wo er davon träumen kann, sich wieder der Metapher und dem Trost des Wortes als Rhabdomantie anzuvertrauen („ich kann nicht anders als hermetisch sein“, schreibt er in Mercato, ebenfalls vom Dezember 1972), oder Musik zu komponieren oder sich auf andere Weise der Tyrannei semantischer Klarheit zu entziehen. Deutlich sichtbar ist in diesen letzten, nein, vorletzten Gedichten Pasolinis die Versuchung, eine karstige (niemals wirklich an die Oberfläche gedrungene) Ader seiner Produktion wiederaufzunehmen, nämlich die surrealistische. In dem wahrscheinlich 1970 entstandenen „Giardino dei pesci“ ist die Rede von Caedmon, einem angelsächsischen Dichter des 7. Jahrhunderts. Beda Venerabilis erzählt, daß Caedmon nicht singen konnte, darum sei er, als ihm bei einem Bankett die Zither gereicht wurde, aufgestanden und habe den Saal verlassen. Eines Nachts erschien ihm jedoch ein Engel des Herrn, der ihm befahl, im Traum zu singen, worauf Caedmon ein wunderschönes Lied sang. Pasolini spricht Caedmon an:
Ach, Caedmon, Caedmon,
was hat die Religion damit zu tun?
Im Hintergrund, vor der blauen Klinge des Himmels,
stand ein Hain kleiner Bäume aus Seehechten,
und darunter, wie kletternde Kürbisgewächse,
die graugrünen Pflanzen der Meerbarben (…)
Ach, Caedmon, Caedmon,
der Gesang explodierte dir in der Brust,
es ist egal, wovon man singt
Singen während man schläft, aus purer unbändiger Lust am Gesang, dank eines besonderen Geschenks der Gnade, die nicht notwendigerweise göttliche Gnade sein muss. „Castalia“ von 1973–1974 ist tatsächlich die Niederschrift eines Traums.
Doch der Turm in Chia kann nicht der turris eburnea der Hermetiker sein (auch nicht der des hermetisierenden Surrealismus), vor allem, weil er keinerlei Verbindungen zu einem Absoluten hat, aber auch, weil er keineswegs auf Undurchdringlichkeit zielt. Im Gegenteil, sein Besitzer sucht verzweifelt nach einem neuen Wissen, das die alten Kategorien abschafft oder umkehrt, und auf dieser Suche ist die Dichtung ein Hindernis:
Über dem Nichts hat sich etwas
Unauslöschliches erzeugt. Die Dichtung
hat seine Schriftzeichen festgehalten.
Vielleicht könnte ich etwas ändern,
zumindest, indem ich es zerstöre:
Aber die Dichtung hindert mich daran.
Verfluchte Dichtung!
Der Turm von Chia ist zweideutig: Blickt man auf die umgebende Landschaft und die Erniedrigten, die sie bewohnen, ist er auch ein Zeugnis dafür, daß der Konsumismus schon bis hierhin gekommen ist. Die Versuchung zum Neo-Hermetismus endet mit der entsetzlichen Palinodie der Nuova gioventù: der alte Trobar clus, enttarnt und verspottet vom Verschwinden jedes „lyrischen Raums“ (wenn er nicht spielerisch und trügerisch ist).
Das Engagement kehrt zurück, die unerhört polemischen Auftritte im Corriere, und die Gedichte, die Prosa ähneln, vermischen sich mit den Aufsätzen. Der alte Faschismus ist überwunden, erscheint nun fast bemitleidenswert – die einst so geliebten Jungen aus dem Volk haben sich als das entpuppt, was sie von Anfang an waren: „Idioten, die gezwungen wurden, anbetungswürdig zu sein, miese Kriminelle, die gezwungen wurden, sympathische Schelme zu sein, feige Nichtsnutze, die gezwungen wurden, heilig unschuldig zu sein“. Die so unnatürlich in die Länge gezogene Jugend weicht schlagartig einer Erkenntnis des Alters. Pasolini erklärt, er sei der alten Spielchen müde, immer häufiger fallen die Worte „Anpassung“ und „Überleben“ („ich manövriere, um mein Leben neu einzurichten“). Der Kampf gegen den Konsumismus könnte die Aufgabe eines ganzen Lebens sein, der Beginn einer Antipädagogik (der Traktat Gennariello war nicht mit den vierzehn Paragraphen vorgesehen, mit denen er in den Lutherbriefen erschienen ist, sondern mit zweiundvierzig). Doch Pasolini wäre nicht Pasolini, wenn er diese Aufgabe nicht als ein Gefängnis empfände, wenn er nicht die Befreiung der Dichtung forderte.
Der Irrtum von 1972 bestand darin, die Dichtung wieder als eine „Gattung“ zu betrachten. Jetzt gibt es die Idee von einer „gattungsübergreifenden Dichtung“ als eines gewaltigen Makrotextes, der Gedichte, Aufsätze, erzählende Literatur und Dramen in sein Formgesetz einschließen kann. Petrolio mit seinen präzisen und widersprüchlichen Zeitangaben, mit seinem irrationalen und aleatorischen Gebrauch narrativer Techniken, darf zu Recht als „Poem in Romanform“ bezeichnet werden. Die Wahrheit der Freibeuterschriften und der Lutherbriefe liegt in einer poetischen „Handlung“, die die einzig mögliche Antwort auf ein intellektuelles Dilemma ist. Ihre wichtigste rhetorische Figur ist darum das Paradox (nicht ohne Grund enden die Lutherbriefe mit drei Pseudosonetten, die auf Paradoxa aufbauen, und aus dem Material geht hervor, daß weitere Einschübe in Gedichtform vorgesehen waren, wie die „Epigrammi privi di ogni buon gusto“).
Wenn alles Dichtung ist, kommt alles in den Genuß der amoralischen Rechte der Dichtung: Nachdem er in den 40er Jahren verschwunden war, kehrt der Teufel 1974 zurück, um Pasolinis Werk heimzusuchen. Die aufschlußreichste Variante in den Bearbeitungen des San Paolo ist die Einführung des Satans, der dem Heiligen hilft, die Kirche zu gründen. Im Drehbuch mit dem Titel „L’histoire du soldat“ entpuppt sich der Fernsehchef (der Ninetto das Lesen beibringt) als der Teufel. Das Bündnis mit den Henkern geht so weit, eine unbewußte Identifizierung mit den vier Repräsentanten der Macht in Salò nahezulegen. Der Teufel gründet die Kirche und beherrscht das Fernsehen – die Institutionen stützen sich auf die Informations- und Unterhaltungsindustrie. Die neue konsumistische Macht gründet ihre Anziehungskraft auf eine unentwirrbare Vermengung von Botschaften, die fiktional und empirisch sind, aus Leben und aus Form bestehen – also funktioniert diese Macht wie der Dichter. Wie der Dichter maßt sie sich das Recht an, die Jugend zu opfern, und ihr Endziel ist, wie das des Dichters, die Leere, die Betäubung. Die vorgestellte Allmacht des Westens ist nichts anderes als der nach außen projizierte und zum Feind gewordene dichterische Allmachtswahn.
Was muß der Dichter also tun, wenn er diese grausige Verwandtschaft bemerkt? Pasolinis letzte Antwort in dieser Richtung findet sich im „Plan zu einer Hymne“, die den Schluß des Anhangs zu Bestia da stile bildet. Die Hauptfigur des Theaterstücks ist ein Dichter, und die Schlußhymne soll das Dilemma zwischen dichterischem Engagement oder Nicht-Engagement lösen. Pasolinis „Plan zu einer Hymne“ orientiert sich an Norman O. Brown und Ezra Pound. Bei Brown ist ihm die janusköpfige Esoterik wichtig, die sowohl als „sublimer Rechtskonservativismus“ als auch im Sinne einer unmöglichen revolutionären Utopie gelesen werden kann. Pound ist präsent als das delirierende Tier im Käfig, als Dichter, der seine Fragmente unendlich weit verstreut hat, als der reaktionäre Verteidiger der bäuerlichen Welt und pathetische Lobredner des Duce. In einer Rezension der Cantos vom Dezember 1973 schrieb Pasolini:
Pound konnte niemals ausdrücklich zum Dekor der Rechten werden: Seine immense Bildung, obgleich ein wenig amerikanisch-elementar (als er in den ersten Jahren des Jahrhunderts in Europa ankam, hielt er sich für einen „Barbaren“) hat ihn vor einer dreisten Instrumentalisierung bewahrt – die häßliche Schlange des Faschismus konnte dieses unberechenbar maßlose Osterlamm nicht verschlingen.
Wo ein lyrischer Raum, wo Unterscheidungskriterien zwischen Literatur und Leben, zwischen Opposition und Macht fehlen, bleibt dem Dichter offenbar nichts anderes übrig, als sich verschlingen zu lassen – um die Gifte auf homöopathischem Wege auszustreuen und alle verbliebene Individuation (und Widerständigkeit) dem Übermaß anzuvertrauen.
Die beiden letzten Abschweifungen (über das, was von 1965–1967 und von 1972–1974 mit Pasolinis Arbeiten geschieht), bestätigen, hoffe ich, eine Feststellung, die ich mehrmals in den Anmerkungen zu den Texten der einzelnen Bände habe machen müssen, nämlich daß die Anordnung von Pasolinis Werken nach Gattungen rein praktischen Erfordernissen der Verkäuflichkeit und Lesbarkeit geschuldet ist, während nur die Querschnitte wirklich zählen, wo die Dichtung sich in den Aufsätzen und Dramentexten spiegelt, die Erzählprosa im Kino, das Kino in der Dichtung, usw.
Doch die zehn Bände lassen die Wahrheit dieses Werks auch in einem subtileren und eigentümlicheren Sinn erstarren: Vor seinem Tod 1975 war Pasolini damit beschäftigt, seine Vergangenheit als Autor neu zu ordnen, gerade in einer Zeit, als er immer weiter von ihr weggeschleudert wurde. Er beugte sich noch einmal über die alten Texte, veränderte ihren Sinn: So machte er es in der Nuova gioventù mit den alten friaulischen Gedichten, so in Petrolio (und unausgesprochen in Salo) mit den römischen Romanen und dem Mythos der „Ragazzi di vita“. In diesem Sinne korrigierte er den San Paolo und präsentierte dem Publikum die Fragmente der Barbarischen Erinnerungen, so wäre es bei „Bestemmia“ gewesen (wenn er einem Verleger die Sammlung aller Gedichte übergeben hätte). Mehr noch: Man hat den Eindruck, daß der späte, „transtextuelle“ Pasolini wieder an den jugendlichen Größenwahn anschließt und just den Zeitraum seines Schaffens, etwa von Gramsci’s Asche bis zum 1. Evangelium – Matthäus, in dem seine Texte nach traditionellem Verständnis autonom und formal gelungen waren, für einen wesentlichen Irrtum (oder einen Verrat an sich selbst) hält.
Es gibt einen Gegensatz zwischen Talent und Ausdrucksbedürfnis, der bei ihm sehr viel stärker ausgebildet war als im Durchschnitt bei Schriftstellern. Das Talent drängte ihn in Richtung Manier und Falsett, doch gerade dann, wenn dieses Talent sich auf die bestmögliche Weise in erkennbaren, denkwürdigen Werken niederschlug, trieb ihn das Ausdrucksbedürfnis dazu, den Erfolg und die Manier zu leugnen, um zu seinem (natürlich unrealisierbaren) Ehrgeiz zurückzukehren, so unermeßlich und unbegreiflich zu schreiben wie das Leben. Die gelungenen Werke waren für ihn kein kostbarer Bestand, auf den sich ein weises, vernünftig verwaltetes Alter gründen läßt, sondern nur ein Vorwurf: sie waren versteinertes, verfehltes Leben. Anders vermag ich den „Dichter der Asche“ oder die Iconografia ingiallita, mit der die Ausgabe der Barbarischen Erinnerungen von 1975 schließt, nicht zu lesen, auch nicht die Photos (die er von Pedriali machen ließ), wo er, nackt am Boden kauernd, mechanisch das Profil von Roberto Longhi zeichnet.
In diesem Text habe ich ganz bewußt aus vielen Kladden oder Skizzen zitiert, die nicht in unserer zehnbändigen Ausgabe erscheinen. Ich wollte sowohl eine Vorstellung von der Vielzahl jugendlicher ungestalteter Entwürfe vermitteln, die wir ausgeschlossen haben, als auch von einem eher privaten Gefühl Rechenschaft ablegen, das ich „Vieusseux-Effekt“ nennen möchte (der Name ist eine reine Antonomasie, um den abstrakten, vielfachen Ort zu bezeichnen, an dem Pasolinis Nachlaß aufbewahrt wird). Es ist das Gefühl, von einem enttäuschten, an Angst und Unzufriedenheit krankenden Werk umgeben zu sein. Alle Schriften bleiben als Waisen zurück, wenn ihr Autor stirbt, doch in den Pasolini-Archiven spürt man noch etwas anderes: Man spürt, daß dieses Werk aufgrund seiner Eigenart immer gezwungen wurde, sich als ruhelos, als unangemessen zu empfinden. Ein Werk, das die Verbindung mit seinem Autor niemals lockern konnte, sich niemals unabhängig von ihm oder gegen ihn ausdrücken konnte. Ein verstörtes Werk, weil es allein zurückblieb, als es noch nicht genau wußte, was es sein sollte. Das unbezweifelbare Talent verwandelt sich in einen belastenden Umstand, schwerer als die Freude am Flug wiegt der Ingrimm der Ablehnung.
Durch seine Weigerung, sich auf irgendetwas zu spezialisieren, und sein Unvermögen, sich von der Welt zu lösen, ist Pasolini gezwungen, der sich wandelnden Welt hinterherzulaufen – wenige seiner Texte haben den Vergleich mit der Geschichte überstanden, wenige halten sich, wenn wir einen Großteil des Kontextes wegnehmen, wie man es doch bei Klassikern tun muß. Seine Symbiose von Schreiben und Leben hat etwa zwanzig Jahre lang den Glauben an seine Rolle als „Prophet“ nähren können. Wenn er über das Leben (die Geschichte) sprach, hatten seine Worte die Absolutheit und das Gewicht der Dichtung. Die Geschichte hat ein neues Kapitel aufgeschlagen, Pasolinis Prophezeiungen rücken ferner. Der Konsumismus, den er für unbesiegbar hielt, erweist sich heute als nicht so robust wie vorhergesehen, die Gleichmacherei vollzieht sich in interessanteren und weniger „poetischen“ Mischformen. Pasolini hat etwas gesehen und es zugleich entstellt, wie so häufig bei Visionen aus weiter Ferne.
Sind diese zehn Bände also nur das Überbleibsel einer Enttäuschung oder einer gescheiterten Ambition? Was hier auf dem Spiel steht, ist die Idee der Literatur selbst, heute. Wenn es zutrifft, daß der privilegierte Zustand, in dem wir leben, die ästhetischen Formen unerträglich gemacht hat, wenn zutrifft, daß alles selbstzufriedene Schreiben dazu dient, den Lärm zu rechtfertigen, indem es ihn mit einer „Illusion von Qualität“ ausstattet, wenn zutrifft, daß die Literatur inzwischen nicht mehr ist als eine Gattung unter anderen innerhalb eines Systems komplizierterer Ausdruckswege – wenn all das zutrifft, dann bergen diese zehn Bände die Stimme des Autors, der in Italien als erster den Wandel erkannte und, statt ihn passiv zu erdulden, auf sich zu nehmen versuchte, bis zur Selbstzerstörung.
Walter Siti, 2003, aus Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser. Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod wird nun seine Privatbibliothek erforscht. Thomas Migge bespricht La Biblioteca di Pier Paolo Pasolini.
Hans Ulrich Reck: Mythische Verweigerung und totale Person. Zu Werk, Leben und Rezeption Pier Paolo Pasolinis, Merkur, Heft 424, Februar 1984
AN PASOLINI (ALS ANTWORT)
Überleben unsere Erde? Doch es dauern lange
Diese Dämmerungen wie im Sommer dann wenn nie nie
Kommt die Zeit der angeknipsten Lampe jener
Unvernünftigen Falter die dagegen fliegen
Angelockt und abgestossen von dem Schein der Leben ist
(und doch war Leben auch der Tag der stirbt)
Sei es uns gegeben nur in diesen ungewissen Zeiten
Des Übergangs uns zu erinnern uns zu erinnern für uns
Und für alle an der Jahre Langmut
Der der Liebe Blitze Wunden schlugen – Blitze die verloschen
Attilio Bertolucci
Übersetzung Hans Raimund
ELEGIE FÜR PASOLINI
I
Auch wenn sie dich jetzt auf ihre Fahnen malen
und mit diesem heiligen Eifer und Zorn
die Mörder jagen –
was nützt das deinem eingeschlagenen Schädel,
Paolo Pasolini?
Du warst für sie immer eine schwule Sau,
dekadent und pervers,
ein Träumer,
den Rechten zuviel Kommunist
und deiner Partei zuviel Mensch.
Du hast Genossen gesucht,
und sie haben dir dafür,
dein Parteibuch zurückgegeben.
„Trotzdem bleibe ich jetzt und immer Kommunist“,
hast du geantwortet,
und kurz vor deinem Tod:
„Der Tod besteht nicht darin,
daß man sich nicht mehr mitteilen,
sondern daß man nicht mehr verstanden
werden kann.“
II
Chor:
Denn wer den Zweifel liebt
hat schon verloren,
es kann nicht gut sein,
wenn man abweicht von der Norm.
Nur wer ein Glatzkopf ist
bleibt ungeschoren,
und nur wer mitmarschiert,
marschiert nach vorn!
III
Glaub mir, Paolo Pasolini,
sieben Jahre nach deinem Tod
hat sich nicht viel verändert.
Die Veilchen blühen im Frühling
nach dem gleichen Prinzip,
und all die schönen,
begehrenswerten Knaben
schlagen nach wie vor
ihren Freiern
die Nasen ein.
Die Faschisten haben dieselben
Orgasmusprobleme
und warten mit geblähten Samensträngen
auf die Endlösung.
Vom ägyptischen Weihrauchhandel
bis zum konzertierten Börsenbetrug
ists ein Atemzug,
und die babylonischen Bankiers
haben ihre Geschäfte
in die oberen Etagen der Ölgesellschaften
verlegt.
Wir bauen immer noch fleißig ihre Pyramiden,
nur,
wo sollen die später mal graben?
Hiroshima ist nur ein Vorort von Jericho –
aber ganz wird der große Endknall
eines gewissen ästhetischen Reizes
nicht entbehren:
Eine malerische Wolke Gift
senkt sich auf die Menschheit
und bettet sie in den Tod.
Heloten und Spartacus,
ein paar Demonstranten mit Stehvermögen
und blutigen Köpfen,
die Mutigen sind nicht mehr geworden,
ach,
manchmal glaube ich,
es kommen immer wieder dieselben
auf die Welt.
Und dazwischen
die traurigen Genies, die Wahnsinnigen,
die Irrationalisten, die Verstoßenen,
dieser viel zu zärtliche Ansturm gegen Profitgier
und die Prügelfaust der Wahrheiten,
kaum Veränderungen,
kaum Entwicklung,
manchmal ein Anflug von Liebe
unter den Eismeeren,
Berührungen vielleicht,
Worte und Zeichen –
mich jedenfalls kann die Weltgeschichte am Arsch lecken.
Vielleicht mein Freund Markus
und meine Geliebte Carline
und nebenan die Wiesenbrechts
und eines ihrer Kinder,
das gebrechlichste vermutlich,
die werden mutiger werden
und für sich eintreten,
aber ist das genug?
IV
Chor:
Denn wer den Zweifel liebt
hat schon verloren,
es kann nicht gut sein,
wenn man abweicht von der Norm.
Nur wer ein Glatzkopf ist
bleibt ungeschoren,
und nur wer mitmarschiert,
marschiert nach vorn!
V
Du überblickst jedenfalls
jetzt alles viel besser,
und ich glaube,
du kommst mit den Toten eher zurecht.
Totsein macht großmütig,
und richtig einig mit sich
wird man eben erst im nachhinein.
Hilf mir doch ein bißchen,
reiß mir einen Augenblick den Himmel auf.
Es kann so schön sein,
an Flüssen zu sitzen,
die Beine baumeln zu lassen,
und ich stelle mir Wälder vor
und kräftige Menschen,
die so tief Luft holen,
daß ihnen schwindlig wird,
und zwischenrein:
Polizeiknüppel und Aufmärsche,
Beine und Busen,
aufgewogen und als Geschenkpaket
verschnürt,
wo soll man noch Atem holen,
wo soll man noch lieben,
haben dir deine Mörder nie ins Gesicht gesehen,
warum ist ihnen die Hand nicht verdorrt
ich wäre doch so zärtlich gewesen zu dir,
Paolo Pasolini.
Natürlich,
sie müssen ihre Welt ja immer mit Fahnen erobern,
aber ich will von keiner Fahne abbeißen
es heißt,
daß dieses Tuch bitter schmecke.
Sie wollten schon lange deinen Kopf,
Jochanaan,
denn wer läßt sich schon gern das Bettuch wegziehen,
wenns draußen kälter wird?
Wachstum, Pasolini,
und die Wärme der Fernsehsessel!
Frigide Frauen und mörderische Schwänze!
Lustvolle Menschen kann man nicht besitzen
nur was sie veräußern können,
auf was sie treten können
das nennen sie Liebe.
„Laßt uns umkehren.
Es lebe die Armut.
Es lebe der kommunistische Kampf
für die lebensnotwendigen Dinge.“
VI
Chor:
Denn wer den Zweifel liebt
hat schon verloren,
es kann nicht gut sein,
wenn man abweicht von der Norm.
Nur wer ein Glatzkopf ist
bleibt ungeschoren,
und nur wer mitmarschiert,
marschiert nach vorn!
VII
Nein!
Nein!
Natürlich werde ich nicht aufgeben.
Will die Zeit noch nützen.
Wer weiß, wanns Schluß ist.
Es gibt Menschen,
denen läuft plötzlich das Gehirn aus.
Das dauert ein paar Monate.
Erst können sie sich nicht mehr konzentrieren,
dann vergessen sie, wo der Lichtschalter ist.
Und in ihren kurzen wachen Momenten
weinen sie hemmungslos.
Aber Gedanken können nicht einfach wegfließen.
Auch du hast die Erde getränkt,
und soviel Land
können nicht mal deine Mörder umpflügen,
um zu verhindern,
daß da was wächst.
Nicht für die Welt,
nicht für Gott,
nicht für das Paradies,
und nicht für die Menschheit,
vielleicht nur für eine Handvoll Träumer,
keine Illusionisten,
keine Fantasten,
sondern einfache Menschen,
die plötzlich jetzt und heute sagen,
sich auf die Straße stellen
und schlicht behaupten:
Mit mir nicht, meine Herren.
Konstantin Wecker
Ronald Pohl: P.P.P.: Als Außenseiter im ewigen Clinch mit Nachkriegsitalien
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Der Standart, 18.2.2022
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