ST-MARC
Das schönste Gedicht
Ist nur ein Produkt
Von Suppe und Beefsteak
Der Kopf kommt vom Schwanz
Was meint Selene dazu
Die Schweigsame
„Pierre Albert-Birot ist eine Art Feuerstein / Wenn Sie Streichhölzer anzünden wollen / Reiben Sie sie an ihm“ – Das schrieb Guillaume Apollinaire 1917 in seiner Gedichtvorwortprophezeiung zu Einunddreißig Taschengedichte, dem ersten Gedichtband, den Albert-Birot veröffentlichte.
Der Schriftsteller, von dem hier die Rede ist, gehörte Zeit seines Lebens, obgleich er in vielem ein Vorläufer war, zu den Vergessenen, den unbekannt Gebliebenen, den Abseitigen, den „Poètes à l’ écart“. Lange bevor es die Lettristen gab, stellte er in seiner Dichtung Experimente an, wie sie von dieser Gruppe später wieder aufgenommen wurden. Er schrieb typographische Gedichte, wie sie heute in Frankreich etwa Pierre Garnier schreibt, Simultangedichte, Plakatgedichte, Gedichtobjekte, quadratische, rechteckige, runde, ovale, schachbrettartige Gedichte. Die französischen Konkreten sehen ihn als einen der ihren an, aber erst langsam dringt sein Name ins Bewußtsein der Interessierten ein. Seine Lautgedichte, Versuche zu einer reinen Poesie, wie er sie nannte, sind Gedichte zum Schreien und zum Tanzen.
Pierre Albert-Birot, von seinen Freunden kurz PAB genannt, wurde im April 1876 in Angoulēme geboren. Nach der Volksschulzeit besuchte er in Bordeaux das Gymnasium. Als er 16 Jahre alt war, zog er mit seiner Mutter nach Paris, wo beide jedoch in so ärmlichen Verhältnissen lebten, daß zunächst keine Rede davon sein konnte, das Studium fortzusetzen. Der Traum von der Offizierslaufbahn, die seine Mutter für ihn bestimmt hatte, war ausgeträumt.
Albert-Birot machte die Bekanntschaft des Bildhauers Georges Archard, der ihm den Eintritt in die Ecole des Beaux Arts ermöglichte und bei dem er den Bildhauer- und Steinmetzberuf erlernte. Bei Gustave Moreau nahm er Zeichenunterricht, doch lange behagte ihm der Schulunterricht nicht. Schließlich verließ er Georges Archard, bei dem er nichts Neues mehr hinzulernen konnte. Er arbeitete nun in verschiedenen Bildhauerwerkstätten, vor allem bei Alfred Boucher, bis er eines Tags von der Stadt Angoulēme ein Stipendium von 400 Francs jährlich erhielt. In einer Baracke am Boulevard Montparnasse richtete er sich nun sein erstes eigenes Atelier ein, belegte aber auch gleichzeitig Vorlesungen an der Sorbonne und am Collège de France. Er widmete sich damals ausschließlich der Bildhauerei und der Malerei und schrieb nur gelegentlich ein paar Gedichte und kurze Prosastücke. Inzwischen hatte er geheiratet, und um seine schnell wachsende Familie zu ernähren, arbeitete er zuerst für einen Antiquitätenhändler, dann als Steinmetz an den Fassaden vornehmer Bürgerhäuser. Kurz darauf brach der Erste Weltkrieg aus, und damit begann ein neuer Abschnitt im Leben Pierre Albert-Birots. In einem Interview, das er der englischen Kritikerin Barbara Wright gegeben hat, berichtet er darüber:
Es macht mir keinen Spaß, die andern mit meinen Jugenderinnerungen zu langweilen, wieviele Autoren sind unerträglich mit ihren Geschichten! Sie erzählen ihre ganze Jugend von der ersten Stunde an. Unsere Ausbildung zum Menschen dauert sehr lange und ist sehr langsam.
Jeder Mensch beginnt sein Leben in einem anderen Lebensalter. Die einen fangen mit 18 Jahren an, die anderen fangen mit 30 Jahren an. Ich habe sehr spät angefangen, nach meinem 30. Lebensjahr. Ich muß hier etwas sagen, das mir sehr schwer fällt, aber leider doch die Wahrheit ist, nämlich, daß der Krieg von 1914 mir die Gelegenheit gegeben hat, mich kennenzulernen, mir die Gelegenheit gegeben hat, ich selber zu werden. Bis dahin habe ich ein Leben geführt, das gänzlich ohne Interesse war. Ich habe mit der Dichtung, der Malerei, der Bildhauerei geliebäugelt, denn ich habe alles gemacht, aber es war sehr verschwommen, sehr verdeckt, und ich stand unter dem Zwang eines dummen Lebens, eines Lebens in der Armut, das mich nötigte, einem uninteressanten Handwerk nachzugehen, meine Tage damit zuzubringen, nichtszutun, völlig leere Tage. Aber ich mußte das tun, um zu leben. Als nun der Krieg kam, wurde ich als kriegsdienstuntauglich ausgemustert, und von da an brauchte ich mich nicht mehr damit abzugeben, mir meinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Die Dinge waren auf einmal so lächerlich billig, daß man mit einem einzigen Franc einen ganzen Tag auskommen konnte. Ich war also Rentier geworden. Ein Mann, der sich plötzlich allen seinen Jugendträumen hingeben konnte. Ich habe in diesem Augenblick meine Freiheit vor mir selber gewonnen, ich bin, mit einem Wort, geboren worden. Deshalb sage ich auch immer wieder: Ich bin 1916 mit meiner Zeitschrift geboren worden.
Die erste Nummer dieser Zeitschrift, die Pierre Albert-Birot von den Texten bis zum Holzschnitt des Umschlags völlig allein bestritten und ohne jede fremde Hilfe hergestellt hatte, erschien im Januar 1916. Er hatte dieser Zeitschrift den Namen Sic gegeben, was zum einen das lateinische Ja bedeutete, zum anderen aus den Anfangsbuchstaben dreier für ihn wesentlicher Wörter gebildet worden war, nämlich: S on, I dee, C ouleur (Laut, Idee, Farbe). Auch die zweite Nummer bestritt PAB, der sich damals für Futurismus und Kubismus interessierte, selber.
Der erste Mitarbeiter der Zeitschrift Sic wurde Guillaume Apollinaire, einer der literarischen Avantgardisten des Vorkriegsfrankreich. Dazu kamen bald Schriftsteller und Maler, die später Rang und Namen haben sollten, wie Aragon, André Breton, Jean Cocteau, Blaise Cendrars, Drieux La Rochelle. Jules Romains, André Salmon, Tristan Tzara, Picabia, Raymond Radiguet, Soupault, Picasso, Matisse usw. Trotzdem schloß sich Albert-Birot keiner der damals entstehenden literarischen und künstlerischen Schulen an.
Ich bin eigentlich immer außerhalb der literarischen Bewegungen geblieben, selbst als ich meine Zeitschrift herausgab. lm Grunde habe ich den größten Nutzen von meiner Zeitschrift gehabt, denn als Herausgeber war ich gezwungen, mich selbst zu erforschen, mich immer mehr zu entdecken. Meine Natur verbot es mir strikt, einer Gruppe beizutreten, einer Clique anzugehören, nur eine Nummer zu sein. Ich konnte es nicht. Ich bin eigentlich immer ich selber geblieben.
Wenige Monate nach der Gründung der Zeitschrift Sic entstand die Figur des Grabinoulor, und bereits in der Novembernummer desselben Jahres erschien das erste Kapitel dieses Heldengedichts, das zum Hauptwerk Albert-Birots wurde. In den Jahren 1916 bis 1920 entstanden, erschien das erste Buch Grabinoulor 1921. Inzwischen sind es sechs Bücher geworden, allerdings sind sie noch nicht alle veröffentlicht. Erst 1933 kam es zu einer zweiten, stark erweiterten Auflage, zu der Max Jakob in den Nouvelles Litteraires schrieb:
Grabinoulor! Ein schönes Wort! Es wurde schon viel darüber gesprochen, viel darüber geschrieben. Rabelais! Die Erzählungen Voltaires! Swift! Man hat von einem Meisterwerk gesprochen, als ob ein Werk bereits bei seiner Entstehung so genannt werden könnte. Ein Werk entsteht nicht als Meisterwerk, es wird es. Und doch will es viel heißen, wenn man von einem Buch sagen kann, daß es zugleich lustig, lebendig, aktuell, intelligent, phantastisch, poetisch, realistisch, gewagt, mehr als gewagt, psychologisch, synthetisch, typisch, wild, einfach, klassisch; universell, überraschend, sonderbar, banal, erlebt und selbst erfahren, liebenswürdig, hassenswert, pessimistisch, optimistisch, ernsthaft, humoristisch und mehr als humoristisch ist… und was man noch alles dazu sagen kann.
Ich bin ein jämmerlicher Kritiker, mir fehlt der Geist der Analyse und ich erkläre mich unfähig, die Wände eines Werkes auseinanderzuschrauben, daß das Fahrrad mit dem Mond, die Mieter der großen Wohnblocks mit den Gesetzen der allgemeinen Schwerkraft, die kleinen Liebesgeschichten und das Ragout der gescheiterten Leidenschaften im Salatkorb der Köchin mit der Ungerechtigkeit der irdischen Gerechtigkeit vermischt.
Eine weitere, allerdings nur typographisch auffällige Besonderheit des Buches ist das vollständige Fehlen der Interpunktion. Mit der Konvention der Satzzeichen brechend, schrieb Albert-Birot seinen Text in einem Zug, ohne Komma, ohne Punkt. Er erklärte dazu in seinem Interview:
Als mir die Idee zu diesem Buch gekommen ist, habe ich mir nicht einen Augenblick vorstellen können, daß es mir möglich wäre, Einschnitte zu machen.
Die Interpunktion aber ist ein solcher Einschnitt, es ist ein Anhalten, es ist, wie es heißt, ein Atemholen. Natürlich erleichtert das den Leuten, die lesen wollen, die Lektüre, sie lesen halblaut vor sich hin, sie holen, auch wenn sie mit den Augen lesen, Atem; es ist eine Erleichterung, das gebe ich zu, aber es ist etwas, das mir furchtbar erschienen ist, diese ständigen Einschnitte, dieser ständige Bruch des Wortes, des Satzes, ich habe das Bedürfnis empfunden, etwas zu tun, das aus einem einzigen Stück, einem einzigen Guß ist, und tatsächlich gibt es in allen sechs Büchern des Grabinoulor keinen einzigen Punkt, und ich hätte es auch nicht ertragen können, hier irgendwo einen Halt zu machen.
Die Leser sollten speziell dafür erzogen sein; der Schauspieler aber, der seinen Beruf richtig versteht, der Sprechübungen gemacht hat, der müßte auch atmen können, ohne daß der Hörer es merkt, er müßte Grabinoulor also lesen können, ohne den Eindruck zu erwecken, er atme.
Nachdem Grabinoulor, den Jean Paulhan einmal den französischen Don Quichote genannt hatte, jahrelang vergriffen war, wurde er 1964, um ein drittes Buch erweitert, endlich wieder neu aufgelegt. Für viele war es eine ausgesprochene Entdeckung. Daraus nun eine Probe:
… aber das ist noch nicht alles man schläft ein und man erwacht und da gibt es einen Meter zum Messen es gibt die Vorderseite und die Rückseite und Plastikblumen und Taschentücher für den Batist und das Bruyèreholz für den Tabak und den Tabak für die Pfeife und die Pfeife für den Mund und den Mund für die Trillerpfeife die Trillerpfeife für die Amsel die Amsel für den Wald den Wald für die Freiheit die Freiheit für den Käfig den Käfig fürs Fenster das Fenster für die Vorhänge die Vorhänge für die Spitzen die Spitzen für das Hemd das Hemd für die Haut die Haut für das Leder das Leder für die Handschuhe die Handschuhe für die Damen die Damen für die Herren die Herren für die Salons die Salons für die Friseure die Friseure für die Brillantine die Brillantine für die Haare die Haare für die Suppe die Suppe für die Suppenschüssel die Suppenschüssel für das Steingut das Steingut für den Leim den Leim für die Collagen die Collagen für die Tapeten die Tapeten für das Zimmer das Zimmer für das Haus das Haus für die Abgeordneten die Abgeordneten für die Reden die Reden für den Wind den Wind für die Luftzüge die Luftzüge für die Fensterscheiben die Fensterscheiben für den Kitt den Kitt für das Weiß das Weiß für den Schnee den Schnee… für den Winter den Winter für die Kohlen die Kohlen für den Stollen den Stollen für Weihnachten Weihnachten für den Tannenbaum den Tannenbaum für den Kamin den Kamin für die Alten die Alten für die Jungen die Jungen für das Lächeln das Lächeln für die Mona Lisa die Mona Lisa fürs Louvre das Louvre für die Wächter die Wächter für die Diebe die Diebe für die Reichen die Reichen fürs Nadelöhr das Nadelöhr für den Faden den Faden… für die Köchin und die Köchin für den Soldaten und den Soldaten für die Kaserne und die Kaserne für die Gewehre und die Gewehre fürs Vaterland und das Vaterland für das Brathühnchen und das Brathühnchen für den Sonntag und der Sonntag fürs Land und das Land für die Hühnchen und die Hühnchen für die Hühner und die Hühner für die Hähne und die Hähne für die Kirchtürme und die Kirchtürme für die Glocken und die Glocken für die Seele und die Seele für Gott und Gott für alle und dabei ist das noch nicht alles denn es gibt auch noch die die nicht einschlafen und die gern schlafen möchten und auch die die einschlafen und nicht wachwerden und die die tanzen und die die nicht tanzen können und die die da sind und die die nicht da sind und die die Hunger haben und die die voll sind und die die die Brust nehmen und dann gibts auch das Auto das Flugzeug das Telephon den Phonographen das Kino das Zölibat und den Ehebruch trotz der Vögel der Türen der Fenster dem Regen den Hähnen den Glockentürmen den Glocken den Hühnern den Eiern dem Sonntag und dem Vaterland was beweist wenn es bewiesen werden muß daß Grabinoulor völlig recht hat wenn er sagt daß das was man im Auf und Ab das Leben nennt leichter zu machen ist als ein Knoten mit einer alten Krawatte…
Am 24. Juni 1917 fand die größte Manifestation der Zeitschrift Sic statt, nämlich die von Pierre Albert-Birot und einer Gruppe von Freunden organisierte Aufführung von Apollinaires surrealistischem Drama Les Mamelles de Tiresias. Apollinaire hatte sein Stück ursprünglich surnaturalistisch genannt, es dann aber auf Vorschlag PABs, der dieses Adjektiv unzutreffend fand, in surrealistisch umgetauft. Später hat die Gruppe um Breton, der Albert-Birot allerdings nie angehörte, dieses Adjektiv übernommen.
Die Premiere von Apollinaires Stück wurde zu einem totalen Mißerfolg, und es kam zu keiner weiteren Aufführung mehr. Die Kritik war vernichtend, aber die Angriffe der Presse gegen Pierre Albert-Birot waren fast noch größer als die gegen den Autor selber. So hieß es in einem Artikel mit pamphlethaftem Charakter unter anderem:
In einem Augenblick, in dem es der Meinungspresse an Papier fehlt, in dem unabhängige Zeitungen von der Bildfläche zu verschwinden drohen, sieht man, luxuriös in neuen und eleganten Buchstaben gedruckt, eine Zeitschrift, die Sic heißt und in der entartete Hampelmänner des integralen Kubismus, Clowns der Feder wie Albert-Birot und Jean Cocteau aufs Erbärmlichste das Papier verschmieren, das Schriftstellern, die den Stolz haben, sich für eine Idee zu schlagen, so spärlich zugeteilt wird. Drei Wörter tauchen anstelle des Schlußpunktes unter meiner Feder auf, und ich schleudere sie diesen Gauklern an den Kopf: „Ach, ihr Schweine!“
Im December 1919 erscheint die letzte Nummer von Sic. Pierre Albert-Birot erklärt dazu in einem einzigen Satz: „Avantgardistische Zeitschriften müssen jung sterben.“
Als Sonderdruck von Sic erschien 1919, kurz vor dem Ende der Zeitschrift, der zweite Gedichtband Pierre Albert-Birots. Poèmes quotidiens ist der Titel dieser Aufzeichnungen aus dem Alltag, dieser knappen Notierungen von Gedanken, Eindrücken, Erlebnissen, die häufig eine Wendung ins ganz Persönliche nehmen. Also keine erlesene, für den Feierabend oder stimmungsvolle Erbauung aufbereitete Poesie, sondern Gebrauchslyrik für den befreiten Alltag eines Poeten über den Alltag in der Sprache dieses Alltags. Allerdings, Tagesaktualitäten mit ihren politischen und zeitgeschichtlichen Bezügen bleiben aus diesem Alltag noch ausgeklammert, sie finden sich erst in den später erschienenen versifizierten Chroniken.
Alltagsgedichte heißt auch, daß sie gegen die Sonntage und gegen die Feiertage geschrieben sind, die Pierre Albert-Birot wegen ihrer feierlichen Sterilität zuwider sind. Während Raymond Queneau sich über die „gehaßten Sonntage“ mokiert, indem er ihre Langeweile minutiös und ironisierend beschreibt, schließt PAB diese behördlich verordneten Be- und Gesinnungstage aus seiner Poesie aus. Und weil die Sonn- und Feiertage, im Gegensatz zum Werktag, zum „Alltag“ keine Kalenderheiligen haben, trägt jedes dieser Alltagsgedichte den Namen eines solchen Heiligen.
PABs Gedichte, und zwar nicht nur die Alltagsgedichte, haben häufig epigrammatischen Charakter, d.h. sie bringen in knappster Fassung eine Überlegung, eine Betrachtung, der dann eine witzige, überraschende Pointe folgt: „Die Blätter laufen auf der Straße hinter mir her; / Sollte ich etwas vergessen haben?“ Oder: „Das Hemd das fällt ist ein Vorhang der hochgeht.“
Die typographisch strenge Anordnung der Poèmes quotidiens – Mischung aus Mittel- und Vorderachse – konnte in der vorliegenden deutschen Ausgabe aus technischen Gründen leider nicht beibehalten werden.
Die von 1917 bis 1919 in der Zeitschrift Sic erschienenen Chroniken dürften wohl vor allem literar-historisch interessant sein. Diese Chroniken, gemischt aus Anekdote und Reportage, berichten von Ausstellungseröffnungen, Dichtertreffen, Preisverleihungen, Theateraufführungen, aber auch von einem Base-Ball-Spiel oder der Beschießung von Paris durch die dicke Berta. Sie sind zwar in Verszeilen abgesetzt, aber wieder reimlos und narrativ:
AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG
Am siebzehnten März 1918
Einem Sonntag der blutigen Woche
Habe ich meine Pantoffel ausgezogen
Und bin schnurstracks
Zur Ausstellung Van Dongen gegangen
Der Faubourg St. Honore
Wo Paul Guillaume der Eklektiker
Seinen Laden hat
Ist am Sonntag ganz triste
Er ist nur noch bewohnt
Von Häusern
Der Sonntag hat seine Gründe
Die die Liebe nicht kennt
Und hier sind die grünen Damen mit den großen Augen
Die uns ansehen
Und die wir ansehen
Einige sind nackt
Andere sind angezogen
Alle sind geschminkt
Viele sind scheints zu verkaufen
Aber keine verschenkt sich
Diese Damen sind in Wahrheit
Sehr dekorativ
Jeder muß halt leben
Außer Filmdrehbüchern, die nie realisiert wurden, und außer Hörspielen schrieb PAB eine Reibe von Theaterstücken, zwölf insgesamt, von denen er fünf selbst verlegt und gedruckt hat. Da er seine Stücke als Anti-Theater verstand und sie in einer künstlichen Realität ansiedelte, ist es verständlich, daß sie von den Theaterdirektoren sowohl der subventionierten Bühnen als auch des Boulevards abgelehnt wurden. Also gründete er 1929 sein eigenes Theater, das aber leider noch im selben Jahr einging.
Er lebte nun, inzwischen Witwer geworden, in einer kleinen, mit Möbeln und Büchern vollgepackten Mansarde. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete er nachmittags bei einem Antiquar, der ihn bis 1945 beschäftigte. Zwei Stunden am Tag konnte er, der seinen Haushalt selbst versorgen mußte, der Literatur widmen. Neben einem Roman Remy Floche, Angestellter, der 1934 bei Denoel erschien, und den Memoiren Adams, die 1948 in den Editions du Dauphin erschienen, schrieb er vor allem Gedichte, die er auf einer alten Handpresse in einer Ecke seines Schlafzimmers selbst druckte. Jahrelang lebte er in ärmlichen Verhältnissen, zurückgezogen, fast vergessen von der Umwelt, die ihn eigentlich schon für tot hält. So sah er sich denn im September 1953 auch gezwungen, einer Zeitschrift, die ihn für tot erklärt hatte, folgende Berichtigung zugehen zu lassen, die André Lebois in seinem Vorwort zu dem Band Poesie wiedergibt:
Ich erfahre durch Sie, daß ich verstorben bin, und obgleich das irgendwie zwischen Dadaismus und Surrealismus liegt, ist es für mich doch eine sehr schlechte Nachricht, so schlecht, daß ich den Entschluß fasse, wieder aufzuerstehen, weshalb ich Sie bitten möchte, diese Auferstehungsmeldung an gut sichtbarer Stelle einzurücken, damit die Leser, denen Sie meine große Abreise verkündet haben, nicht unnötig weinen. Vielen Dank und bis zum nächsten Mal.
PAB heiratete noch einmal, eine junge Frau. Am 25. Juli 1967 starb er im Alter von 91 Jahren in Paris, nachdem ihm die letzten drei Jahre so etwas wie späten Ruhm eingebracht hatten.
Eugen Helmlé, Nachwort
Schreibe einen Kommentar