Rafael Alberti: Poesiealbum 104

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rafael Alberti: Poesiealbum 104

Alberti/Wolff-Poesiealbum 104

ES IST MÖGLICH

Es ist möglich, daß ich nicht
aus diesem Jahrhundert bin.

Mag sein, aus dem, das kommt,
oder dem, das vergangen ist.

Nicht immer kann man aus dem
Moment sein, in dem man lebt.
Das Gestern liegt schwer auf uns.

Ich träume von einer Zukunft,
auf der kein Gestern liegt.

Übertragen von Erwin Walter Palm 

 

 

 

Nur eine

aus den Fesseln und der Verstrickung der Formprobleme befreite Dichtung konnte die ungeteilte „Weltkraft“ zurückgewinnen. Es bezeichnet wohl nicht nur die Generationsgemeinschaft, sondern den gegenseitigen Antrieb zweier befreundeter Geister, daß Alberti und García Lorca diesen Weg der Befreiung gemeinsam erschlossen – beide in Anknüpfung an die mitreißende und fortzeugende Macht der poetischen Volkstradition.

Werner Krauss/Carlos Rincón, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1976

 

Rafael Alberti: das Illusionistische als Bestandteil

der Wirklichkeit

Der spanische Dichter Rafael Alberti, der von italienischen Vorfahren abstammt, ist von Natur aus heiterer, als es sein Weg- und Generationsgefährte Federico García Lorca gewesen ist, der andalusische Binnenländer, der über die Hauptstadt seiner heimatlichen Hochebene sagte:

Granada, ruhig und fein, von seinen Bergketten eingefaßt und endgültig verankert, sucht sich selbst seine Horizonte, ergötzt sich an seinen kleinen Geschmeiden und bringt […] sein ungewürztes Diminutiv dar […] Die Zeit wird begrenzt, der Raum, das Meer, der Mond, die Entfernungen und selbst, als Überraschendstes, die Bewegung…

Alberti, weniger hermetisch, stammt aus der Hafen- und Weinstadt Puerto de Santa Maria, die an der Mündung des Guadalete liegt: an der – sich in einen weiten Golf öffnenden – Bucht von Cádiz. In diesem Ort, der über faszinierende Ausblicke verfügt und der mit seinem Fischereibetrieb und seinen Kellereien ein einfaches, aber durchpulstes soziales Klima besitzt, verbrachte der Dichter die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens:

Meine Kindheit war ein Geviert
aus frischem Kalk, lebendigem
Kalk mit meinem einsamen fröhlichen Schatten.

Undramatisch, fast verspielt richtete Alberti, der sich zunächst als Maler versuchte, sein Auge auf die Landschaft, freilich nicht, um sie in naturalistischer Weise zu reproduzieren, sondern um sie sich anzuverwandeln und sie schließlich transformiert im poetischen Wort sichtbar und hörbar werden zu lassen:

SO HOCH AM HAUS

So hoch
am Haus die Balkone!
Und das Meer nicht zu sehn.
So nieder!

Steige, steig, mein Balkon,
klettre in die Luft, immerzu:
Meerterrasse schon,
Kommandobrücke, du!

– Und als Flagge am Mast dann,
was für eine?

– Matrosen, meine!

Der junge Alberti, wenn auch zunächst seiner Evokation noch nicht sicher, hat sich schon früh gegen eine bürgerliche Laufbahn entschieden. Und das Meer, dessen Schiffe, Strände, Wellen und Salinen ihm erste Motive für sein malerisches Tasten waren, stellte sogar dann noch eine Gegenwelt, einen illusionistischen Raum dar, als er – die Familie war inzwischen nach Madrid übergesiedelt – an Lungentuberkulose erkrankte und zur Heilung ins Guadarramagebirge geschickt wurde: „Windet mich aus, auf dem Meer, / in der Sonne, als ob mein Leib / ein Fetzen Segel wär. // …“ Die Bedrohung durch die Krankheit gab dem sanguinischen Naturell Albertis gerade so viel beschwerenden Ernst, wie nötig war, damit sich die Begabung nicht rein artifiziell aufbrauchte:

Wringt alles Blut aus mir
und hängt mein Leben zum Trocknen
auf die Takelage am Kai.

Wenn ich trocken bin, dann werft mich
ins Wasser, einen Stein um den Hals,
daß nie wieder ich auftauchen kann.

Ich hab mein Blut den Meeren gegeben.
Schiffe, zieht über es hin!
Drunten, stille, bin ich.

Das Meer („mütterliches Meer von Cádiz“) erschien noch angesichts des Todes als eine Sphäre des Lebens, eine Dimension des Überlebens.
Albertis maritimer Pantheismus war lange Zeit hindurch die fruchtbare Grundlage seiner Kunst, sein seelisch-intuitiver Nährboden. Freilich bediente sich der Dichter auch, und zugleich, aus dem Fundus des ästhetisch und essentiell Vorgeformten. Ja, die Impulse, die Alberti durch die Literatur empfing, besaßen in seinem lyrischen Schaffen von Anfang an das Übergewicht. Und der liedhafte Charakter seines 1924 – im Alter von zweiundzwanzig Jahren publizierten – Erstlings Matrose an Land ist undenkbar ohne den Rückgriff auf Gil Vicente, den leichthändigen Stückeschreiber, der in seine Dramen sangbare Verse einstreute, ähnlich den Shakespeareschen Songs: „Komme von den Rosen, Mutter, / von den Rosen komme ich / …“ Alberti, der auch durch Baudelaire, Rubén Darío und vor allem durch Juan Ramón Jiménez beeinflußt wurde, hat die entscheidende Anregung zu Marinero en tierra vermutlich jedoch von Antonio Machado erhalten, wie hier die Gegenüberstellung zweier Gedichte verdeutlichen soll:

Es war einmal ein Matrose,
der schuf einen Garten am Meer
und machte sich drin zum Gärtner.
Es stand der Garten in Blüte,
und der Gärtner, der zog davon
über jene Meere Gottes.

aaaUnd:

Wie gut daran ich wär,
meine Gärtnerin, mit dir,
in einem Garten im Meer!

Auf einem Wägelchen, das
ein Lachs zieht, böten wir dann,
unterm Salzwasser, wär das ein Spaß,
dein Grünzeug, Liebste, an.

– Tang, frisch aus dem Meer!
Tang! Tang!

Das erste Gedicht stammt von Machado. Es steht in der Sammlung Campos de Castilla, die 1912 veröffentlicht wurde. Der Einfluß auf Alberti ist ebenso offensichtlich wie der Wandel, den das Sujet bei dem jüngeren Dichter erfuhr. Machados Poem, noch ungebrochen, noch in der Tradition poetischer Direktheit stehend, ist von empfindungsmäßiger Intimität; der Name Gottes wird genannt – in einem eindeutig metaphysischen Sinn. Bei Alberti hat sich die Gefühlslage verändert. Die Transzendenz ist aufgehoben, die Transparenz ironisiert. Das Meer fungiert nicht länger als verabsolutierendes Sinnbild des Daseins. Es ist nur noch Zerrspiegel alltäglichen Lebens. Der Legendenton mit seiner indikativischen Plausibilität hat einem spöttisch-konjunktivischen Rapport Platz gemacht. Und die Gestalt des Matrosen, die bei Machado zum (die Dinge der Welt ordnenden) Gärtner wird, ist bei Alberti nichts als ein Komödiant, der mit seiner Geliebten ein lyrisches Kostümfest veranstaltet.
Alberti benutzt die Phantasie nur noch, um der Sensibilität Verstecke zu erfinden. Das Meer ist lediglich eine poetische Chiffre, zwar mit den Attributen konkreter Erinnerungen ausgestattet, doch besitzt es nicht jene metaphorische Deckung, die es noch für den Neuplatoniker Machado hat oder für Jiménez, dem das Meer Gleichnis für die Bedingtheiten der subjektiven Umstände ist:

Ich spür’, daß mein Schiff,
dort in der Tiefe, auf etwas Großes
gestoßen ist.
Und nichts
geschieht! Nichts … Ruhe … Wogen …

– Nichts geschieht; oder ist alles geschehen,
und wir sind schon mit dem Neuen vertraut? –

Zu dem Sujet Meer trat sodann – mit dem Gedichtband La amante von 1925 – auch die Liebe als großes Thema, an dem Alberti seine artistische Fingerfertigkeit erprobte:

Im Erlenschatten, Liebste,
im Erlenschatten, nicht.

Unter der Pappel, ja,
dem Weiß und Grün der Pappel.

Weißes Blatt, du,
grünes Blatt, ich.

Gedichte wie dieses, in dem sich jugendliche Leidenschaft, poetische Frische und literarisches Traditionsbewußtsein mischten, wichen jedoch bald einer Schreibweise, die vom europäischen Nihilismus stärker geprägt war als von der spanischen Überlieferung. Alberti, der ehemalige Zögling der berühmten Jesuitenschule in Puerto de Santa Maria, an der auch Jiménez ausgebildet worden war, machte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eine tiefe Glaubenskrise durch, die ihren negativ-theologischen Niederschlag vor allem in den Gedichten „Über die Engel“ (1927-1928) fand sowie in den – fast gleichzeitig entstandenen – Texten von Kalk und Gesang, einem Buch der Unruhe, der Regression und des Umbruchs, in dem die absolute Metapher erprobt wurde, teils unter Rückgriff auf Góngora, teils unter Weiterführung jener Tendenzen, die Huidobro und Diego ins Spiel der poetischen Möglichkeiten gebracht hatten:

SCHWIMMERIN

Fliehe, Meer,
eile, Strand,
Wind, halt ein!

Drei Meernationen bieten mir
einen eisernen Apfel an.

Der Eiffelturm wirft einen Himmel
von Annoncen und Telegrammen aus.

Fliehe, Meer!
Es lebe mein Name auf allen Hüten
des Boulevards!
Und meine Photographie am Fahrrad!
Ah!
Und meine Anrechte auf eine Insel in der Seine!

Eile, Strand!
Was wird der König von England denken!

Das Haus der Lords
fliegt mir zu Ehren eine Runde.
Der Luftfahrtminister schmückt
einen Stern über Irland mit meinem Namen.
Und ein Wanderkino
schildert an den Eingängen mein Leben in Blau.
Ah!
Ich habe Vollmacht über eine Woge der Themse.

Wind, halt ein!
Was denken Seine Heiligkeit der Papst?
Engel tragen des Vatikans Limonen
hinab ans Meer,
Rosenkränze und Erbauungsschriften.
Auf meinen ehrfurchtgebietenden Badeanzug malen
Erzbischöfe und Kardinäle Kreuze.

Aber an einem Kuß Salzwasser
erleiden die unfehlbaren Sandalen
Schiffbruch.
Ah!
Für die Fische des Tiber werden
500 Meilen vollständiger Ablässe gewährt.

Fliehe, Meer,
eile, Strand,
Wind, halt ein!

Die Arbeiten aus Kalk und Gesang brachten den Dichter, dessen Matrose an Land noch als ein Beitrag zum Neopopularismus begrüßt werden konnte, unverhofft in die Nähe von Dadaisten wie Arp, Soupault und Schwitters. Es ging Alberti nun darum, einen urbanen Habitus an den Tag zu legen und sich den zahlreichen Anregungen und Änderungen gewachsen zu zeigen, die aus Paris, Zürich, Berlin, London und New York über die Pyrenäen und den Atlantik gelangten. Besonders der Stummfilm erwies sich als ein Mittel, mit dem sich das Neue, Abrupte und Absurde vortrefflich ausdrücken ließ. Das begriff, ebenso wie Lorca, auch Alberti, der dreizehn lyrische Burlesken über Charlie Chaplin, Buster Keaton, Stan Laurel und Oliver Hardy, Harold Lloyd und andere schrieb und der diese Arbeiten zu einem Buch vereinte, dem er – nach einem Wort Calderóns – den Titel gab Ich war ein Narr, und was ich sah, machte zwei Narren aus mir.
Rafael Alberti, jetzt ohne jede innere Beziehung zur spanischen Tradition, konnte seine Verzweiflung auf die Dauer jedoch nur schlecht hinter den Masken von Filmkomikern verstecken. „Ich hatte ein Paradies verloren“, bekannte er,

… ich war auf einmal wie ohne alles, ohne das Blau hinter mir, meine Gesundheit von neuem zerstört, zerrüttet, im Innersten zerbrochen. Ich begann, mich von allem fernzuhalten, von Freunden, Zusammenkünften…

Der Dichter, erwerbslos, getrennt von der Freundin und voller Rivalität seinen Kollegen gegenüber, war in eine Lage geraten, in der ihm die Poesie keine Hilfe mehr bot:

Durch Rumpelkammern von zerbrochnen Träumen.
Spinnwebe. Motten. Staub.
Verdammter!

Es ist bekannt, daß Alberti, ähnlich wie Neruda, den Konflikt schließlich dadurch löste, daß er sich der kommunistischen Bewegung anschloß. So konnte er seinem Leben einen positiven Sinn geben und sich zugleich von dem Selbstverdacht des Berufsschriftstellers befreien, eine gesellschaftlich unnütze, eine der sozialen Entwicklung hinderliche Rolle zu spielen. Viele westeuropäische Intellektuelle – wir verdanken diesen Hinweis Ignazio Silone, einem Mann also, der aus unmittelbarer Anschauung sprach – waren zu Beginn der dreißiger Jahre dazu bereit, ein „Konkordat“ mit den Machthabern des russischen Staates und den kommunistischen Parteien ihrer Länder zu bilden, weil sie auf diese Weise aus ihrer nur schwer zu ertragenden Isolierung befreit wurden und zudem die Illusion erhielten, in faktischer Solidarität mit den Massen „an der Spitze der fortschrittlichsten Bewegung der Menschheit zu marschieren, eins mit dem Sinn der Geschichte…“
Alberti, den die neue Lebensauffassung zu einem andersartigen Kunstverständnis brachte, widmete sich jetzt hauptsächlich dem Theater, das er jedoch, anders als Lorca, lediglich als ein Instrument der Aufklärung ansah. Später, im Bürgerkrieg, war Alberti Flieger in der Volksarmee, und er verfaßte weiterhin Agitationsstücke und -lieder. Schließlich emigrierte er über Paris nach Argentinien, wo er, wennschon er seine politische Gesinnung nicht änderte und seine propagandistische Tätigkeit beibehielt, erneut Gedichte schrieb, die an die imaginative Reinheit seiner frühen Arbeiten anknüpften, wie vor allem die Suite „Metamorphose und Nelke“ aus dem Band Zwischen der Nelke und dem Schwert (1939–1940) beweist:

Am Rande der See und an einem Flusse
in meinen frühen Kinderjahren
ich wollte Pferd sein.

Die Binsenufer waren Wind nur und Stuten.
Ich wollte Pferd sein.

Die aufgerichteten Schweife fegten die Sterne.
Ich wollte Pferd sein.

Lausch meinem hurtigen Trab, Mutter, am Strande.
Ich wollte Pferd sein.

Von morgen ab, Mutter, werd ich leben am Wasser.
Ich wollte Pferd sein.

Am Meeresgrund schlief ein Füllenweibchen mit vier weißen Beinen.
Ich wollte Pferd sein.

In der folgenden Sammlung Gezeiten (1942–1944) beschwor Alberti abermals das Meer, und ihm gelangen besonders in einem „Arion“ genannten Zyklus Abbreviaturen von suggestiver Kraft:

Nahe kommt die Elster,
ganz nah dem Meer.
Aber das Meer, es läßt sich
nicht lieben, nicht stehlen.
Nicht einmal,
nur um fortzufliegen.

Neben dem Meer („Ich berausche mich, Meer, an dir…“) motivierte vor allem die Erinnerung an die Toten des Krieges, die ihn eine auf die Stimmen von Antonio Machado, Federico García Lorca und Miguel Hernández verteilte „Trauer-Ekloge“ schreiben ließ. Doch auch die Musik und die Malerei lieferten Sujets, die, weil sie mit äußerster Sensitivität und Delikatesse ins lyrische Idiom transponiert wurden, unter Albertis Händen ein faszinierend unakademisches Aussehen erlangten:

RAMEAU. MENUETT

Auf bald, Blume.
Bis später, Lachen.
Gute Nacht, Anmut.
Wind, guten Tag.

Wenn du mir die Blume gibst,
geb ich dir das Lachen.
Bis später, Anmut.
Auf bald, Wind.

Wenn du mir die Anmut gibst,
geb ich dir den Wind.
Gute Nacht, Blume.
Rose, guten Tag.

Auf bald, Anmut.
Bis später, Wind.

Der einst durch die Schule der Klassik sowie des Impressionismus und des Kubismus gegangene Maler, der dem Lyriker Alberti weiterhin ratgebend zur Seite stand ermöglichte es, die Welt sensualistisch zu erfassen, sie optisch zu analysieren und sie emotional und intellektuell wieder zusammenzusetzen: „Reines absolutes Weiß, gefangen aber / in einem Rechteck, einem Quadrat, in einem Kreis.“ So lautet eine der Sentenzen über die Farbe Weiß. Und über Schwarz heißt es:

Feierliche schwarze Messe Zurbarán.

Oder aber:

Seine Rückseite wies das Licht. Und geboren ward das Schwarz.

Die existentiell profundeste Detinition ist dem Autor, wie mir scheint, in seinem Zyklus „Blau“ gelungen:

Der Schatten ist am tiefsten blau, dann wenn
der Körper, der ihn warf, schon nicht mehr da ist.

Hans-Jürgen Heise, aus: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974

Über Rafael Alberti

Dichtung ist stets ein Akt des Friedens. Der Dichter wird aus dem Frieden geboren wie das Brot aus dem Mehl.
Brandstifter, Krieger, Wölfe suchen den Dichter, um ihn zu verbrennen, zu morden, zu zerreißen. Ein Messerheld ließ Puschkin tödlich verletzt zwischen den Bäumen eines düsteren Parks zurück. Die Pulverpferde galoppierten, wahnsinnig geworden, über Petöfis leblosen Leib. Im Kampf gegen den Krieg starb Byron in Griechenland. Die spanischen Faschisten begannen den Krieg in Spanien mit dem Mord an ihrem besten Dichter.
Rafael Alberti ist so etwas wie ein Überlebender. Tausend Tode waren für ihn vorgesehen. Auch einer in Granada. Ein anderer Tod erwartete ihn in Badajoz. Im sonnenerfüllten Sevilla oder in seiner kleinen Heimat, Cádiz und Puerto Santa María, suchten sie ihn, um ihn zu erstechen, um ihn zu hängen, um in ihm wieder einmal die Dichtung zu töten.
Aber die Dichtung ist nicht tot, sie hat das siebenfache Katzenleben. Man quält sie, schleift sie durch die Straßen, bespuckt und verspottet sie, begrenzt sie, um sie zu strangulieren, verbannt sie, kerkert sie ein, drückt viermal auf sie ab, und doch entgeht sie all diesen Fährnissen mit rein gewaschenem Gesicht und einem Lächeln aus Reis.
Ich lernte Rafael Alberti in blauem Hemd und bunter Krawatte auf den Straßen von Madrid kennen. Ich lernte ihn als Kämpfer fürs Volk kennen, als es noch nicht viele Dichter gab, die sich dieser schwierigen Aufgabe widmeten. Noch hatte Spaniens Stunde nicht geschlagen, doch er ahnte bereits, was kommen würde. Er ist ein Mann des Südens, am klingenden Meer geboren, neben den Kellern des topasgelben Weins. Sein Herz wuchs im Feuer der Trauben und im Rauschen der Welle. Er ist immer Dichter gewesen, obgleich er es in seinen ersten Jahren nicht wußte. Nachher wußten es alle Spanier, später die ganze Welt.
Für uns, die das Glück haben, Kastiliens Sprache zu sprechen und zu kennen, bedeutet Rafael Alberti den Glanz der Dichtung in spanischer Sprache. Er ist nicht nur ein geborener Dichter, sondern ein Kundiger der Form. Seine Dichtung hat wie eine wundersam blühende Winterrose einen Becher Schnee von Góngora, eine Wurzel von Jorge Manrique, eine Blüte von Garcilaso, einen Duft der Trauer von Gustavo Adolfo Bécquer. Das heißt, in seinem kristallenen Kelch vermischen sich Spaniens edelste Gesänge.
Diese rote Rose erhellte den Weg derer, die in Spanien dem Faschismus Einhalt gebieten wollten. Die Welt kennt diese heroische, tragische Geschichte. Alberti schrieb nicht nur epische Sonette, er las nicht nur in Kasernen und an der Front, er erfand auch den poetischen Kleinkrieg, den poetischen Krieg gegen den Krieg. Er erfand die Lieder, die Schwingen schufen unter dem Donner der Artillerie, Lieder, die später über die ganze Erde flogen.
Dieser Dichter reinsten Wassers lehrte die öffentliche Nützlichkeit der Dichtung in einem der kritischsten Augenblicke der Welt. Darin gleicht er Majakowski. Diese öffentliche Nützlichkeit der Dichtung beruht auf Kraft, auf Zärtlichkeit und auf Freude. Ohne diese Eigenschaften tönt die Dichtung, aber sie singt nicht. Alberti singt immer.

Pablo Neruda, aus Pablo Neruda: Ich bekenne ich habe gelebt, Hermann Luchterhand Verlag

 

Rafael Alberti: Der verlorene Hain, Sinn und Form, Heft 3, 1977

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + Internet Archive +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDAdeutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Rafael Alberti: Der Spiegel ✝ Berliner Zeitung
Tagesspiegel

 

Rafael Alberti und Paco Ibáñez lesen und singen A galopar im Theater Alcalá von Madrid im Mai 1991.

 

RAFAEL ALBERTI – Ein Dichter seiner Zeit, Teil 1/2.

 

RAFAEL ALBERTI – Ein Dichter seiner Zeit, Teil 2/2.

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