Da ging die Zeit, und sonst kein Weg: die Zeiger
Stehn schon verkehrt, wohin du dich auch drehst
Und spiele ich den Redner oder Schweiger
Du gehst bloß gut, wo du bloß besser gehst
Und schöner liegst, und aufgehst, mir, Gestirn
Das, soviel auch eröffnet, nicht erkannt ist
In schneller wechselnden Phasen, die wir irrn
Seit gestern weißt du fünfmal, wo dein Land ist
Das ich dir aufheb unter der Lippen Schimmer
Daß du ans gleiche Ufer keinmal steigst
Die Rotation verhält, wenn du dich neigst
Und stürzt, denn du bist gut : Das war das Zimmer
Zwölf Meter im Quadrat, ein Laken, Wein
Und über uns das Weltall fällt nicht ein.
ist der Vernunft verbündet. Es erkennt die Unordnung im Wirklichen, aber es anerkennt sie nicht und mobilisiert die Poesie, um in einer zur Verwüstung neigenden Welt den Sinn fürs Lebensvolle, Lebensdienliche wachzuhalten. Der Aufklärer entwirft mit immer neuer Formlust Gegenbilder zu den Anmaßungen der Wirklichkeit; sein Versemachen gleicht dem beharrlichen Treiben jener, die den Stahlbeton der Grenzbauten spechtgleich behämmern, um Durchblicke in die Wandung zu brechen. Was ihn von diesen Bohrern unterscheidet: er hat früher als sie zum Werkzeug gegriffen und hieb Sehlöcher in mehr als eine Mauer. „So bin ich gerüstet“, schrieb er 1973, Mandelstams gedenkend, „fürchte mich, schreibe.“
Friedrich Dieckmann, Klappentext, 1990
− Porträt eines Dichters aus Sachsen mit europäischem Rang. −
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Die Sächsische Dichterschule war weniger eine sogenannte als das Land, in dem sie stattfand, vielmehr hat sie sich durch ihre Mitglieder namhaft gemacht, und was die haltbare deutsche Lyrik ihr verdankt, ist noch nicht ausgemessen und auszumessen. Auf jeden Fall haben wir es mit der derben Grazie Karl Mickels zu tun, der in seinen Gedichten den Hinterhof dem Olymp zugeführt hat und den Olymp dem Hinterhof, mit dem sperrigen, viel zu wenig bekannten Richard Leising (sperrig nicht nur, weil er kaum zwei Dutzend seiner lyrischen Monolithen in die Welt warf, die aber mit Wucht), mit Elke Erb, deren Verse und Prosazeilen jenseits aller Schulweisheit träumen, und mit Sarah Kirsch, der natürlichsten aller Sibyllinen, mit dem thersiteshaft, jedoch nicht ohne Maß polternden Adolf Endler und mit den traurigen Oden des sanften Heinz Czechowski „welcher / Die Welt sehr liebt, und darum melancholisch / Auf sie blickt“, wie es in einer Widmung Rainer Kirschs heißt, von dessen heiterer Strenge hier vornehmlich die Rede sein soll.
Man geht nicht fehl in der Annahme, sieht man auf den Jahrgang der Poeten, daß zum Entstehen der Sächsischen Dichterschule ein Generationenkonflikt nötig war, der sich literarisch ausdrückte und zum Politikum wurde. Die neuen „Hechte im Karpfenteich“ der Lyrik, welche sich die Ostberliner Akademie der Künste zu Beginn der sechziger Jahre herbeigewünscht hatte, waren wohl nicht die üblichen kleinen Fische gewesen, die sie erwartet hatte. Was da zur Sprache kam, unterschied sich lebhaft von der Lyrik, die im sozialistischen Überschwange war, vor allem in Unbotmäßigkeit. Sie verweigerte sich, obwohl traditionsbewußt, oder eben drum, den literarischen Verkehrsregeln wie der Parteinahme der tagespolitischen Partei sowie einer falschen Auffassung von Volkstümlichkeit, zu der Brecht bereits alles und folgenlos gesagt hatte. Sarah Kirsch mochte lieber die abverlangten „ökonomischen Probleme“ aus ihren Gedichten lassen und zog die poetische Ökonomie von „Wolkenkämmen, silbernen Vögeln, silbernen Haien“ vor. Heinz Czechowski beharrte auf seiner Eigenart, „die Welt mit anderen Augen“ zu sehen. Karl Mickel schlug das Verlangen nach simpler Verständlichkeit mit den Worten „das Verhältnis ist nicht Autor-Leser, sondern Gegenstand-Autor-Leser“ barsch ab. Und auch Rainer Kirsch verdarb sich frühes Wohlwollen durch ein Gedichtpasquill, das weniger dem selbstgerechten Antifaschismus der DDR als der deutschen Ungerührtheit Reverenz erwies. Dessen „Mißton“, nicht der der Ungerührtheit, wurde als „lästerlich-deplaciert“ gerügt.
AUSFLUG MACHEN
Na, wohin gehts?
In den Eichenwald, in den Eichenwald
Der graue Kuckuck ruft dort bald.
Wünsch eine gute Fahrt!
Na, wohin gehts?
In den Fichtenwald, in den Fichtenwald
Wo Goldhahns und Kreuzschnabels Stimmlein schallt.
Wünsch eine gute Fahrt!
Na, wohin gehts?
In den Buchenwald, in den Buchenwald
Dort pfeift der warme Wind so kalt
Dort schmeckt die Luft so seltsam süß.
Dort riechts so stark nach Paradies
Dort ist der schwarze Rauch zu sehn
Dort pfeift der Wind, der Rauch bleibt stehn
Dort weht der Wind schon siebzehn Jahr
Dort schreit der Rauch wohl immerdar.
Wünsch eine gute Fahrt! [1962]
Die Debatte, was und wieviel Lyrik darf, wurde nach Art der Landesherren beendet, und die genannten Autoren schlössen sich zu einem lockeren Trutzbündnis, eben der Sächsischen Dichterschule, zusammen, bis sich, wie Sarah Kirsch später schrieb, „die Schatten der Freunde“ – aufgerieben, vertrieben und geblieben – „in alle vier Winde“ der Deutschländer verstreuten.
Es war eine merkwürdige Schule, in der die Schüler das Sagen hatten, und die Lehrer dennoch nicht das Nachsehen, weil die Schüler ungezwungen bei ihnen nachsahen. Eine Art antiautoritärer Traditionalisten, die das Angebot der staatlichen Erbeverwaltung verschmähten und sich ebenso von der bürgerlichen Ehrfurcht freihielten wie von den rasanten Erledigungen des hiesigen Regietheaters. Es war, als wären die Klassiker unter die Plebejer gefallen und die Jüngeren behandelten sie neugierig und staunend wie einen respektablen Kramladen. Sie machten sich viel Federlesens mit Shakespeare und Horaz, Dante und Petrarca, Homer und anderen Griechen, und setzten ihnen gehörig und ungehörig zu, am Ende Eigenes. Zu den Vorzügen solcher Beschäftigung rechneten sie für ihre Kunst „Zitierbarkeit“ (die Welt soll souverän herbeizitiert werden können; das Gegenteil einer fassungslosen Haltung), Präzision und Sprachvermögen („Gegeneinander von Zartem und Grobem, hoher und Umgangssprache“), Dauerhaftigkeit (ein „Überschuß an Zukunft“), Realismus („das Charakteristische regiert das Ästhetische“), Geschichtsbewußtsein („scharfes, am Marxismus geschultes Reflektieren“) und „Belehrung“ („ohne missionarische Geste“). Die Zitate stammen aus einem Aufsatz von Rainer Kirsch über Karl Mickel, können aber darüber hinaus und für Kirsch angenommen werden. Im übrigen machten sie, was im Westen als harmloser Klassizismus mißverstanden wurde, was Dichter immer machen, wenn sie nicht als Politiker auftreten, sondern schreiben, sie legten artgemäß formalen Protest ein und an Kunst zu.
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Wenn zum Wesen des Gedichtes, wie Brecht sagt, auch das Gesicht seines Verfassers gehört, so tut man sich damit bei Kirsch schwer. Seine Erfahrungen sind in seinen Versen im philosophischen Sinn aufgehoben und lassen, neben einer angebrachten peniblen Datierung, nicht so leicht Rückschlüsse auf seine Biographie zu. Und größere Konfessionen sind bei der Art dieses Autors sowieso nicht zu erwarten.
Folgt man den kargen Daten, fällt der Lebenslauf des Autors mit dem Lauf des Lebens der DDR zusammen und auseinander, und unterhalb dieser Widersprüchlichkeit ist wohl kein Schriftsteller aus der DDR zu haben, jedenfalls kein gescheiter und jedenfalls nicht gescheit. Kirsch, 1934 geboren und mit allem Drum und Dran in die DDR hineingewachsen, also (man muß es sagen) marxistisch erzogen, studierte Philosophie in Jena, las Bloch, was sich nachhaltig auswirkte, und Gedichte, die dasselbe taten, vornehmlich Rilke, Brecht, die Expressionisten, und manches Westliche der Zeit, Bachmann und Celan, Enzensberger und Rühmkorf. Die zaghafte Enthüllung der stalinistischen Verbrechen im Jahre 1956 war für Kirsch so zaghaft nicht. Die Verstörung trieb ihn an den Schreibtisch und die ersten Gedichte, Selbstverständigungen, aus sich heraus. Und in dem Dichter Louis Fürnberg fand er einen, der ihm zusprach.
Ein Jahr später war er von der Universität relegiert, arbeitete als Hilfsarbeiter in einer Druckerei, als Chemiearbeiter in Buna und dann bei einer LPG in Reideburg bei Halle. Die Genossenschaft stellte ihn, auf Ersuchen des Schriftstellerverbandes, an drei von sieben Tagen frei. Seit 1958 war er mit Sarah Kirsch verheiratet, und da sie auch Gedichte schrieb, verfügte der Bezirk über ein Poetenpaar. Das Ansehen und die ersten Honorare kamen von Auftragsarbeiten. Kirsch schrieb Artiges, angestrengte und anstrengende Lieder für Lesebücher, zum Beispiel: „Geh voran Pionier / Deine Heimat ruft nach Dir.“ Kinderhörspiele und eine Kinderoper folgten.
Das Aufsehen erregten eher andere Gedichte wie das erwähnte „Ausflug machen“ und das Sonett „Meinen Freunden, den alten Genossen“, dessen Schlußzeilen unmißverständlich, also durchaus im Sinne der Angesprochenen, lauten:
Und die Träume ganz beim Namen nennen
Und die ganze Last der Wahrheit kennen.
Fortan – „die Zäsur liegt 1965“ – schrieb er ohne Rücksicht auf Verluste, Gedrücktwerden und Gedrucktwerden. Sein erster Gedichtband, nach einem gemeinsamen Buch mit Sarah Kirsch, konnte erst 1980 bei Hinstorff erscheinen. 1973 wurde er aus der SED ausgeschlossen. Er hatte einen Faust-Stoff, „Heinrich Schlaghands Höllenfahrt“, komödiantisch verfaßt und darin das gesellschaftliche Vorbild, den neuen Menschen, zu Ende gedacht und war prompt mit seiner Figur in die Hölle geraten. Von der Achtung, die nachfolgte, machte er währenddessen wenig Aufhebens und auch nicht danach. Die Zeit nutzte er für Lyrikübersetzungen, vorwiegend aus dem Georgischen, und schrieb ein kleines kluges Buch über die Probleme, die sich beim Umsetzen, Nachdichten und Übertragen des eigentlich Unübertragbaren zutragen, das er Das Wort und seine Strahlung nannte.
Sieben Jahre später wurde er wieder Mitglied der Partei, ein Mitläufer gegen den Strom. Im Rahmen einer Umfrage über die Wirkungen der Kunst hatte er 1971 den Schülern des Butzbacher Gymnasiums geschrieben:
… die Veränderungen, die sie bewirken kann, sind unmerklich und keine Saulus-Paulus-Effekte. (Überhaupt ist mir Paulus, als politische Figur und Modell, tief verdächtig, ja widerlich.)
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Läßt man die Gedichte aus drei Jahrzehnten passieren, erscheinen sie wie ein Katalog von Menetekeln und, man ahnt es, wie ein weiterer qualifizierter Beitrag zur Wirkungslosigkeit der Kunst in politischen Dingen. Belsazars Knechte sind eben doch eine literarische Figur, und eine der Ungeduld dazu. So lassen sich Kirschs Gedichte wie eine Chronik in Miniaturen vom Anfang des Endes der DDR lesen. Das Gedicht „Aufschub“, das keinen dulden wollte, beschreibt die Atmosphäre:
Damit wir später reden können schweigen wir.
Wir lehren unsere Kinder schweigen damit
sie später reden können…
Das Gedicht endet:
Einmal, denken wir, muß doch die Zeit kommen.
Über die Jahre sehen wir einen Autor, der zwischen Fürstenerziehung („Ist keiner mehr im Weg, man ist es selber / und muß nach unten morden…“) und literarischer Sozialarbeit („So, kaum erstaunt, seh ich, wie es gelingt / Den Stock zu schätzen, den man auf uns schwingt“) hin und her wetzt wie der märchenhafte Hase, bis er – die Niedrigkeiten der Politik sind schon alle da – die Illusionen über beides verliert. Am Ende aller Bemühungen, Menetekel, Warnschriften, Bannsprüche, gelesener Leviten und unerhörter Lektionen steht das Epitaph „Sterbelager preußisch“, 1986 geschrieben, eine Grabschrift zu Lebzeiten.
STERBELAGER PREUSSISCH
Merkbare Sätze, hör ich, sind vonnöten.
So daß, wenn du schon ahnst, daß du bald kippst,
Du immerhin vor Schluß die Zeichen übst,
Die ändern ohne dich an Auskunft böten,
Was die, trag lallend, eignen Blicks nicht finden:
Der Stumpfsinn ihre Brunst. So aber bleibt
Was Stachelndes, das sie zum Blinzeln treibt:
Die Mücken, doch noch, tanzen um die Linden,
Mittage wehn, Handwerker kaufen Schnaps,
Systeme blühn und reifen zum Kollaps,
In ferner Landschaft schießt man sich um Reis,
Der Tod hebt an im Mund, sein Färb ist weiß;
Und schneller drehn sich in der Welt die Dinge,
Um die es, ginge es um noch was, ginge.
Das Gedicht stammt aus dem Band Kunst in Mark Brandenburg, 1988 erschienen, und läßt eine Entwicklung erkennen: Aus manch vordergründigem Engagement ist eine hintergründige Gelassenheit erwachsen, aus dem politischen Dränger ein durchaus nicht unpolitischer Stoiker, der mit engagierter Distanz und Lebenslust einen eher sportlichen Umgang mit der Welt pflegt und empfiehlt. Wie wir im Ernst von Dantes Göttlicher Komödie eher eine irdische zu sehen vermögen und in der Heiterkeit von Boccaccios Decamerone weniger einen Renaissance-Knigge denn eine erbauliche Sammlung unserer Hoch- und Niedertrachten, Listen und Tücken, sind Kirschs Gedichte gleichermaßen auch eine Chronik des humanum est, und wie alle gute Literatur werfen auch sie ein Licht auf unsere belehrbare Unbelehrbarkeit. Sie überdauern ihren Entstehungsgrund und die Trümmer ihrer geistigen Verhältnisse nicht zuletzt, weil nicht nur Phönixe aus der Asche steigen, sondern, wie man aus der deutschen Geschichte weiß, auch die Brandstifter.
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Kirschs Gedichte setzen Haltungen voraus, die im Westen des Landes wenig gepflegt werden. Was ihm zu Gebote steht, wirkt altmodisch, aber selbstbewußt. Er kann eine Sammlung seiner Aufsätze, Kritiken und Notizen einfach „Amt des Dichters“ nennen. Er stellt sich durchaus als Dichter vor, wo andere zu Unterkühlungen wie Autor, Schriftsteller, Gedichteschreiber, Texter neigen. Dafür ist ihm die Verwechslung von Kunst und Leben ein Greuel, und die Vorstellung, ein Kunstwerk beanspruche nur „ein Spiegel der Welt“ zu sein, ist ihm zuwider. Dann sorgt er schon lieber für „Ordnung im Spiegel“, wie eine seiner Essaysammlungen bezeichnend heißt.
Sich beim Schreiben „nicht als Sklaven des schlecht Tatsächlichen“ zu verhalten, hat er von Georg Maurer gelernt, und so mißtraut er allen ungefilterten Gedanken und Gefühlen auf dem Papier. Nicht die Träne gilt es auszudrücken, sondern den Gedanken, der die Träne ausdrückt. Irgendwie-Gefühle, weiß der Dichter, hat das Leben in Form seiner Ohrfeigen und Liebkosungen genug, und durch Gedankenlosigkeit läßt sich Verzweiflung nicht fassen. Dagegen setzt Kirsch auf die „Zärtlichkeit des Intellekts“, so, wie in seiner Nachdichtung von Petrarcas 34. Gesang von „liebendem Denken“ die Rede ist.
Natürlich geht das nicht gut ohne das Wissen um die Verdunkelungen der Aufklärung, nicht nur in diesem Jahrhundert. „Die Vernunft“, definiert das Gedicht „Rat zu üben“, 1977 geschrieben, nicht ohne Selbsthohn, „Ist eine furchtbare Last / Nur die Vernünftigsten / Gehn mit ihr / Ein paar Schritte“. Allein, die Vernunft gehört mitunter zu den Genußmitteln, und so baut sich die Hoffnung des genußsüchtigen Dichters auf die Genußfähigkeit aller und fürchtet nichts mehr als eine unbefriedete, weil unbefriedigte Welt. Auf Menschen und Dinge Lust zu machen, darauf läuft es wohl hinaus, wenn Kirsch (darin nicht unpreußisch) von seiner „Pflicht zur Hoffnung“ spricht. Dabei gelingt es ihm oft (darin unpreußisch), den Ernst der „Weltläufte“ spielerisch zu fassen, indem er sich die Sprachmasken bukolischer Zustände borgt, um die Verstellungen unserer Gesichter zu entlarven; ein galliger Anakreontiker, nicht ohne derben Übermut, mit dem (und Frau Welt) gut Kirschen essen ist, auch die saueren.
CLAUDINE ODER DIE ZEITLÄUFTE
Hübsche Claudine, mußt du bei mir weinen?
Dein Loch ist wundersüß, ich gönn es keinem
So glatt wie mir, doch kann ichs nicht verwalten
Als Eigentum: Schwäch wen du schwächst!, und halten
Dich andre aus, sei seufzend guter Dinge.
(Es gibt der Güter schlimmere und geringe,
Das schlimmste ist: Claudine unverspundet.)
Dann nämlich will sie, daß die Welt gesundet,
Und wenn die Welt das nicht so eilig möchte,
Schwindelt Claudine sie höchst laut zurechte.
Und weil das wehtut, kommen ihr die Tränen.
Es ist ja wahr: ein Balg mit Sägespänen
Strengt nicht so an; was mach ichs dir? Mir scheint:
Weil Eine weniger dann lügt und weint. [1983/1986]
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Daß beim Gedichteschreiben Herzwerk und Kopfwerk zusammengehören, hat sich herumgesprochen, daß aber beides ohne Handwerk nichts ist außer Lamentation, Kitsch und Kalkül, nicht. Das Handwerk der Verskunst ist derart in den Verruf gekommen, daß unter den jüngeren Dichtern immer weniger zu wissen scheinen, daß ein Gedicht nicht aus Worten, sondern aus Versen besteht. Letztere lassen sich allerdings nicht so leicht aus dem Ärmel schütteln wie erstere, und es liegt auf der Hand, daß Kirsch mit den prosaischen Lyrikleihgaben, Wort- und Satzruinen, die derzeit das Kontingent stellen, wenig im Sinn hat. Auch findet seine (man muß es sagen) marxistische Nüchternheit wenig Geschmack an den sakralen Tonleitern, die neuerdings wieder mitten in den großen Städten über die Dörfer getragen werden, um die Kirchturmspitzen des Mystizismus zu befestigen. Dagegen bedient sich Kirsch der alten Tugend des Fleißes, die sich qualitativ verstand und nicht quantitativ und die ihre Herkunft und ihren Gegensatz aus den Gebräuchen und Unsitten des Arbeiter-und-Bauern-Staates nicht verleugnet.
Allerdings setzte die Sächsische Dichterschule den Bitterfelder Wegen ihrer Staatsführung, daß die Arbeiter schreiben sollten, Grenzen, indem sie darauf bestand, daß die Dichter arbeiten sollten, allerdings nicht in den Fabriken, sondern in ihrem Metier. Daß es, wo die selbstgesetzten Hürden hoch sind, gelegentlich zu Parforceritten kommt, liegt in der Natur der Sache, und daß derlei Kraftakte auch „Im Maß Petrarcas“ gekonnt zu machen sind, zeigt Kirschs gleichnamiges Gedicht. Da spricht es dann auch nicht gegen Kirschs Verfahren der historischen Versetzung, daß es dem Leser Bildung und jenen Fleiß abverlangt, deren Preis seit jeher der Genuß ist. Ein Genuß, der sich noch erweitern läßt, wenn man Kirschs Selbstdeutung und „Lesehilfe“ zur Kenntnis nimmt, die einen Einblick in die Werkstatt gestattet. Dort läßt sich aus dem Allerlei der Motivkiste Dreierlei, sozusagen Kirschs Urelle und Grundmaß, hervorheben: Kunstfertigkeit, Liebe und Philosophie. „Maß assoziiert a) Versmaß, weiter gefaßt eine bestimmte Art Gedichtbau und metaphernknüpfendes Reden; b) das Maß, das (die Elle, die) Petrarca an die Welt zu legen pflegte, füglich wird von Liebe als oberster Bewegungsweise der Materie gehandelt; c) die gleichnamige hegelsche Kategorie der Vermittlung höheren Sinns.“
Für Kirsch gilt, was schon ältere Dichter wußten, daß, wer sich mit dem Pegasus nicht mitunter in seine Geschichte vergaloppiert, auf den ausgetretenen Wegen der Neuzeit bleibt, zu deren plattesten die lyrische Neuerungssucht um der Neuerungssucht willen zählt. Kirsch ist auf Haltbares aus, auf das Wort, „das sich nicht vergißt“, und das läßt sich durchaus auch als Anspruch auf ein zivilisiertes Benehmen auf dem lyrischen Parkett verstehen, das, wenn es denn sein muß, auch auf der Straße standhält. Die Sehnsucht nach Mustergültigem prägt sich als Marge und Herausforderung in die blanke Genrebezeichnung mancher Gedichttitel: Sonett, Ballade, Etüde, Chorisches Lied. Für sein Gedicht bevorzugt er eine Unangreifbarkeit im doppelten Sinn. Von innen sollen die Verse unangreifbar sein, daß sie sich derart ersatzlos verständigen, daß kein Eingriff und Zusatz des Autors mehr möglich ist, und von außen sollen sie unangreifbar sein, daß sie Widerspruch und Widerstreit bereits in sich tragen und mit List (man kann auch sagen: Kunst) unterlaufen.
Natürlich ist das Kirschsche Arbeitsethos auch von den Zensoren alten Typs geprägt, aber es ist nicht zu fürchten, daß es angesichts der neueren des Marktes entbehrlich wird. Wer wie Kirsch bei der Sache ist, hält Sorgfalt und Genauigkeit für keine poetischen Sekundärtugenden, und es gibt nur wenige Dichter, bei deren Gedichten man sich mit den Fragen, ob und warum sie einen Schlußpunkt machen und warum nicht, und ob der gesetzte ein springender ist, mit Gewinn unterhalten und vergnügen kann. Und für die Lösung eines lyrischen Problems, etwa des Verhältnisses zwischen „Wortstaub“ und Informationsdichte – anders ausgedrückt: Wieviel Redundanz braucht / verträgt ein Gedicht? – gäbe er, da bin ich sicher, ginge sie nur mit dem Teufel zu, seine materialistischen Vorbehalte auf.
Kirschs strenges artistisches Prinzip hat nicht zuletzt dazu geführt, daß, bedenkt man die drei Jahrzehnte seiner Bemühungen, ein relativ schmales Werk vorliegt. Dafür entschädigen seine Verse, unter denen ein paar der schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache zu finden sind, durch ihren Reichtum an Formen, der von der scheinbar einfachen Volksliedstrophe über Distichen bis zu immer neuen alten und alten neuen Sonettkonstruktionen reicht. Karl Mickel hat nicht unrecht, wenn er von Kirschs Gedichten sagt:
Sein Name war nie in aller Munde, aber seine frühen Gedichte haben jetzt drei Jahrzehnte standgehalten, und die neueren sind von europäischem Rang.
Der Rang, den Kirschs Gedichte einnehmen, besteht in der erarbeiteten Leichtigkeit, mit der sie sich dem schwerfälligen Gang der Welt, den Menschen und ihren Angelegenheiten widmen, und gleichermaßen in einer erarbeiteten Schwermut, mit der sie sich allem nähern, was gemeinhin auf die leichte Schulter genommen wird. So entsteht eine Mischung aus Ironie und Trauer, eine Art spöttischer Melancholie, die den Ton dieser Gedichte ausmacht. „Wem schon gelingen mehr als dreißig wirklich große Gedichte?“ merkt Kirsch 1975 an. „Schon zehn sind viel.“ Man kann nachzählen.
Peter Maiwald, Neue Rundschau, Heft 4, 1990
– Lobrede auf den Dichter Rainer Kirsch anläßlich des Wilhelm-Müller-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 13.10.2001 in Dessau. –
Die Laudierens-, die Lobpreisens-Situation, in der ich mich befinde, ist eine günstige; sie lädt zu entspanntem Geplaudere ein. Denn sie entbehrt der Beweis-Not, sie badet in Evidenz-Überfluß. Kirschs Leistung ist offensichtlich und bedarf des Belegs nicht. Ja, wir (und dieses wir ist eine undeutliche, aber deutlich über die Landesgrenzen hinaus auszweigende Sozietät) – wir wissen, was wir an ihm haben.
Was haben wir an ihm?
Eine der peripheresten Mitteilungen ist, daß er, der Skeptiker, das Murphysche Gesetz nicht eben als Unsinn abzutun bereit ist, jenes Gesetz, dem zufolge von allen Möglichkeiten die unbehaglichste wahr wird. Woraufhinaus auch immer die Dinge laufen können mögen, sie laufen hinaus auf den worst case; der böseste Käse ist es, zu dem noch die frommeste Denkungsart-Milch gelibbert.
Schlagendster Beweis: das Gesetz selber, welches erstformuliert worden ist von einem gewissen Finagle. Aber böse Falle: Dessen Felle sind davongeschwommen, oder -geschwemmt worden, und Murphy steht im Licht.
In welchem Licht allerdings. Denn siehe: Es gibt Sachsen-Anhalt, und es gibt Dessau, die Bauhaus- und Weill- und eben Wilhelm-Müller-Stadt, und es gibt dieses Georgium, dessen gute Gründe, dem Weltkulturerbe zuzugehören, in dieser Stunde gemehrt werden. Von welcher schlimmesten Sachlage, und gar naturgesetzlicher Artung, kann da die Rede sein, lieber Finagle. Statt hat des worst Käses schierestes Gegenteil.
Apropos gelibbern. Das Wort kommt im bisherigen Œuvre des Berliner kosmopolitischen Westewitzers, also aus Mittelsachsen Gebürtigen, zwar nicht vor, kakelte indes keineswegs aus ihm heraus. Kirsch weiß sich der trefflichen Sprachkörnigkeit seiner Herkunftsgegend zu vergewissern. Dort wird aufgemuckt, und durchaus nicht mit zuen Augen, und ist er nicht welttüchtig, jener akustische Kurzschluß von Lähm und Lähm, den Kirsch zu Buche schlagen läßt? Gemeint ist weder das Lähmen noch die Löwen, sondern Lehm und Leben; Kirsch kostet diese blitzhafte Übereinkunft von knetbarer Mumpe und köstlichem Dasein aus in seinem – übrigens von der Magdeburger Bühne seinerzeit abgesetzten, also verbotenen – Stück Heinrich Schlaghands Höllenfahrt. Später wird R. K. den Prometheus über siebzig Seiten begleiten, nämlich beim Übersetzen des Prometheus unbound, des Entfesselten Prometheus von Shelley (dessen Unmut gegenüber den Anmaßungen jedweder Obrigkeit Kirsch energisch teilt); hier aber, in seinem Faust-Stück, bringt er die Leistung des philanthropischen Halbgotts, eben aus Lehm die Menschen zu formen und sie mit Leben zu begaben, auf die denkbar kürzeste Schöpfens-Formel: Lähm werde Lähm.
Auch die komplementären Wörter verfügt Kirsch wie selbstverständlich in den Text – diejenigen aus der Physik, aus der Kosmologie. Albert Einstein etwa durchfährt, als Monolith, das Gedicht-Triptychon „Die Tangentialen“ und gibt den nüchternen Gestus vor für eine Analyse des Stalinismus, die freilich – im Nacken Bespieene speiend – eisig ausfällt. – An den Begriff Negentropie (negative Entropie) findet sich – einmaliger Vorgang in der bisherigen Dichtung, soweit ich sehe – Empfindung gebunden, eine übrigens durch und durch wohlige; was Wunder, da der Ausdruck den herausgehobenen und offenbar auf den Planeten Erde leider beschränkten, also exklusiv kostbaren Drang des Lebendigen zur Gestaltsteigerung bezeichnet; die kosmische Umgebung hingegen flacht öde zu Kälte und Dunkelheit hin aus, nimmt widerwärtig an Entropie zu, entstaltet sich. Kirsch erweist die Poesieuntauglichkeit des oder jedenfalls dieses Begriffs als eine scheinbare.
Nun aber die eigentlichen Worte dieses Mannes, sie lauten: Unaufgebrachtheit, Gefaßtheit, Maß. Kirsch eignet eine Haltung, oder vielmehr: Er hat sie sich zu eigen gemacht – eine Haltung der Gehaltenheit. Von der Mode, bei jedem Knirschen der Weltläufte in die nächste Kirche zu flüchten, hält er nichts, wie er in „Anna Katarina oder die Nacht am Moorbusch“, einer sächsischen Schauerballade nebst dreizehn sanften Liedern und einem tiefgründigen Gespräch, mitteilt. Alles Eilfertig-Unstolze ist ihm unappetitlich: das Blinzeln, Lallen, Stammeln, das Sich-durchgehen-Lassen von Ungefährem und Ungenauem und Zufallsbestimmtem und Wirrem. Selbstredend verwahrt er sich, der Formstrenge, gegen alles Holperige, schlecht Merkbare, ärgerlich Schwafelnde.
Wofür also Kirsch einsteht, ist die Klarheit. Klarheit statt Verklärung; statt bevormundender Überredensanstrengung die Genauigkeit des Sichtens, die Unbestechlichkeit des Benennens; statt raunender oder rauschhafter Ahnungs-Schwadigkeit die scharfe Vernunft, die kühlgehaltene Sprache, der normale Puls. Gar der Haß dürfe kein Grund sein zu brüllen oder Wutsilben zuckend herauszuschleudern, wie es in einer Belobigung des vorhin erwähnten Shelley heißt. Daß Kirsch mit diesem entschlossen die Macht über Menschen mißbilligt, besagt allerdings nicht, er anerkennte keinerlei Autorität. Er anerkennt. Freilich heißt diese Autorität: Welt. Welt in ihrem so unbeeinflußbaren wie aber ergründbaren Sosein. Es interessiert ihn mithin der klafternde Fortgang der Geschichte, nicht indes deren jeweiliger Bodensatz namens Politik. Mit einem Wort: Kirsch vertritt eine tragende Strömung (derzeit eher eine Unterströmung) deutscher Kultur: die klassische; Werke wie Auszog das Fürchten zu lernen (Rowohlt 1978), Ausflug machen (Hinstorff 1980), Kunst in Mark Brandenburg (Hinstorff 1988), Ordnung im Spiegel (Reclam 1991) oder Die Talare der Gottesgelehrten (Mitteldeutscher Verlag 1999) geben Aufschluß.
Ja, Kirschs Berührungsekel gegen die Romantiker läßt sich nicht übersehen. Mit Verachtung bedenkt er jene, die die Welt aus den Angeln heben wollen sowie jene (vermutlich sind es dieselben), die sich von ihr aus den Angeln heben lassen; die, statt historisch zu sichten, hysterisch dreinschauen. Was aber wäre das für ein Schwimmer, der, im Sich-voran-Stoßen die Gegenkraft des Wasser fühlend, diese als mißliebig wahrnähme und sich in eine Leere schwelgerisch hinwegsehnte.
Abgeklärtheit, Denkpräzision, Distanz – weht uns aus so zu markierenden Gedichten, Prosaarbeiten oder Essais nicht eine Kühle an? Eine Kühle, auf der der Dichter gar besteht? Von einer gewissen Stufe der Professionalität an – so sagt er in einem Interview – schlägt, ob Sie sich elend fühlen oder prächtig, nicht auf die Texte durch, und hernach bezieht er das Requiem von Mozart nicht auf dessen Seelenverfassung, sondern die Auftragssituation.
Hierin nun einmal gehe ich mit dem Manne nicht mit.
Macht R. K. etwa nicht geltend, es sei jene H a l b t r ü b e des Bewußtseins, ohne die wir Liebe nicht als Glück erleben? Liebe als das Innigste (Sonett „Petrarca hat Malven…“): Liebe, von der (in „Petrarca am Schreibtisch…“) verlautbart wird: Und h e i l i g wird, was wir im Fleische treiben.
Weiteres beizubringen: Wie ohne Aufruhr jetzt lesen und vor fünfundzwanzig Jahren schreiben diesen Vers: Manchmal muß man sich ins Messer werfen. Von Zeit zu Zeit, in wieder einmal ungefügen oder aber zu verfugten Verhältnissen, wird Eines alle Zuversicht und alle Vorsicht fahren lassen und sich opfern. Es gibt, kommt Kirsch in einer „Notiz zu Chile“ nicht umhin zu vermerken, es gibt eine Trauer, die einem das Herz ausbrennt langsam bis an kein Ende – es folgt diesem Ende kein Satzzeichen, kein Punkt.
Besagtes Innigste übrigens scheint, so Kirsch, herstellbar nur auf unerhörte Weise, oder ist eben sie die erhörteste? Denn Nichtstun – aufregendes Paradoxon – weist sich als hohes Tun; und Erkenntnis-Einbuße als Verstehens-Gewinn. Hören Sie, wie das Innigste gelingen (schön beglaubigender Konjunktiv:) könnte:
Nämlich, indem wir, beieinanderliegend,
Indes durch feinste Scheiben Luft getrennt,
Die Lust in uns so reglos höher leiten,
Bis, weil kein Ich mehr, wo es ist, erkennt,
Wir wie unhandelnd ineinandergleiten;
Und malvenfarben dehnt sich der Moment.
Der Moment dehnt, der Augenblick weitet sich – es gehen sozusagen die Augen über, da Zeit – aus ihrer Ablaufsgeraden heraus – aufbeult und aufbläht und aufblüht, d.h. innehält. Ihr, der prekär auslaufenden (auslaufend für Individ wie Gattung) – ist Einhalt geboten, das Verweile-doch-du-bist-so-schön steht da nicht als Todesurteil wie weiland beim Großmeister, sondern als Lebens-Movens, herbei geleistet durch Unleistung. (Mickels Erwägung, es ermangele Kirschs Liebesgedichten ein wenig der Metaphysik, konnte die späten Gedichte nicht zurateziehen.)
Kann Liebe nicht überhaupt den Tod, Eros den Thanatos, außer Kraft setzen? Das Sonett „Im Maß Petrarcas“ stockt, über elf Verse, kunstreich eben diese Frage auf. Die Antwort wäre keine, enträte sie der Realistik; indes, die Hoffart einer untilgbaren Sehnsucht webt sich der stupenden Wirklichkeit als ein Glanz ein und korrigiert. Staunenmachend, wie das Gedicht das Paradies aufscheinen macht, und zwar nicht in somnambuler Exorbitanz, sondern als arbeitend den Weltläuften abgetrotzte Enklave.
Das dritte der Kirschschen Sonette, ohne die ich eine Dichtungs-Weltanthologie als unvollständig ansähe, heißt „Die Zerreißung“. Es verhandelt das Clavigo- oder Melusine-, jedenfalls wieder ein Goethesches Problem: Das Zweisame beschert alle Herrlichkeit bis hinaus über die Bezirke der Vernunft, aber wird sie nicht das Amt des Welt-Besehens versehren? Wird er, der Besichtigende, der unerbittlich Abschildernde, er, der dem Gemeinwesen Auskünfte nicht so sehr erteilt als vielmehr (wie es in einem Aufsatz über den hochgeschätzten sowjetrussischen Dichter Ossip Mandelstam heißt) zufügt, er, der (so steht es, glaube ich, in einer Würdigung des Mathematikers Gödel) Ordnungen aufscheinen zu lassen gedenkt, die die vom jeweiligen Staat austarierten ins Nichts oder Ärgerliche schieben – wird also er sich nicht schließlich wohlfinden bei den Dingen, fragt das Gedicht und endigt im redlichen nahegehenden Schrei:
Was, schrie ich, wär Vernunft, und wo Gewinn,
Wenn ich, vorm Nichts mich rettend, im Nichts bin?
Kirsch, als er den erforderlichen Spannungsaufbau eines Kunst-Stücks bedenkt, erkennt einen allmählich aufsteigenden Kurvenverlauf als nötig mit raschem Abfall nach dem Höhepunkt; es gehe in Kunst insofern nicht anders zu als beim Orgasmus, jedenfalls dem männlichen. Ich bin nun im Abstieg, einem Abstieg hin auf den Boden jener Tatsachen, die uns – als Speise und Trank im Nebenraum kredenzt – dieses für sich einnehmende Gebäude noch mehr für sich einnehmen machen. Kirsch, sofern das Gebotene zu schätzen sein wird, wird es schätzen. Über Georgien erkundigt er sich brieflich so: Haben sie dort noch jenen Wein namens Kindsmarauli, den einmal Yussuf Wissarionowitsch zur Brust nahm; der Wein sei – und jetzt kommts – sacht restsüß und rotbräunlich. Oder die Pelmeni – heute, deucht mich, vom Begriff Ravioli verdunkelt: so gleißen sie im Gedicht auf Grieshaber und Hannsmann: im gelbäugig Dampfenden muschelförmig oder wie Löwenmäulchen schwimmend; sie. Dünn gehüllt von Teig bemessen so, daß eins in Eines Mund geht – und es folgt eine herrliche Ellipse, ein Satzrumpf, den das Kauen oder Schlingen oder sonstwelches redeverhindernde Schöne zu dieser voll-mundigen Forderung stutzt: Nämlich die Fülle.
Eine Fülle steht in Rede (sofern angesichts ihrer von Rede überhaupt die Rede sein kann), die den Mund dem Mundus anvergleicht, was ingleichen Welt und Sternenhimmel und Menschheit heißt. Menschheit, ja – in der Tat besagt, daß eines von den Pelmeni in Eines Mund gehen möge, es mögen hineingehen jedwede Pelmeni in Jedwedes Mund. Dieses nachdrückliche Emanzipations-Begehren also, diese gemochte Menschheitswerdung, die sich als ganzes Gegenteil von Verbreiung, von Vermatschung, von Vermassung weiß. Die nämlich findet sich abgewiesen, etwa in der Schmährede „Fast food country“, in mit dusseligen Paarreimen absichtsvoll verkluntschten Versen:
Roastbeef, kalt und rot,
Schmeckt nach Pappe und Jod.
Der gelbe Gips,
Ölrauchend, heißt Chips.
Dahingegen der Verzehr als ein Kraftzuwachs, ein Zuwachs an Gemüts-Kraft gegen die bei den Widersacher: die schwindende Zeit; und die mitnichten schwindende Gesellschafts-Hierarchisiertheit:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaJedes Glas
Vom trockenen Rotwein, schmeckst dus, ist ein Sieg
Über das Caesar, jedes würzige Fleisch
Das du am Gaumen spürst, gegen das Weltall
Ein Aber-Leben,
ein Wider-Leben, ein Wider-Legen des beschleunigt auseinanderdriftenden auskühlenden Universums mit seinem kältetödlichen Ende, das bis vor kurzem als unausweislich schien.
Ich schließe, mit allerdings zwei Schlüssen. Der erste: Kirsch übersetzt Worte Petrarcas so: in der Seele innen; innendrin in der Seele, Seele Dativ, innen mit kleinem i. Das große I – Seele stünde im Genitiv; gemeint wäre das Seelen-Innere – scheint ihm bombastisch. Indes, die Arbeit ändert den Arbeiter, das Bombastische wandelt sich ins statthaft Hehre, das i wächst zum Versal. Beihelfen diesem Vorgang Telefondiskurse mit Mickel, dem ich selbiges Sonett zur Übersetzung für das 1982er Poesiealbum Petrarca angetragen hatte. Mickels ursprüngliches Groß-I übrigens gerät – aufregender Überkreuzvorgang – zur Minuskel.
Zweiter Schluß ist ein Trinkspruch aus Georgien, jener bereits erwähnten Weltgegend, die Du uns, Rainer, durch gültige Übersetzungen großer Dichtung näher gebracht hast: Möge Dein Sarg gezimmert werden aus den Brettern einer 100jährigen Eiche Doppelpunkt die soeben gepflanzt wird.
Peter Gosse, neue deutsche literatur, Heft 541, Januar/Februar 2002
KIRSCHS KERN
Die Klauenfeile finaler Fassung.
Die hochgemute Unterlassung.
Richard Pietraß
Sabine Brandt: Merkbare Sätze, hör ich, sind vonnöten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.7.1994
Wolfgang Platzeck: Mit sanfter Gewalt
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 17.7.1999
Thomas Kunze: Der Markt ist so rücksichtslos wie die Zensur
General-Anzeiger, 17./18.7.1999
Michael Braun: Petrarca aus Sachsen
Badische Zeitung, 17.7.2004
Der Tagesspiegel, Berlin, 17.7.2004
Jürgen Engler: Das Wort und seine Strahlung
neues deutschland, 17.7.2009
Torsten Klaus: Rainer Kirsch – ein unbequemer Dichter mit Idealen
monstersandcritics.de, 15.7.2009
Ambros Weibel: Amt des Dichters: Rainer Kirsch zum 75. Geburtstag
ambros-weibel.de, 18.7.2009
Felix Bartels: 75 Jahre Kirsch
felix-bartels.de, 17.7.2009
Hans-Dieter Schütt: Zuversicht statt Optimismus
neues deutschland, 17.7.2014
Burga Kalinowski: Und ohne dieses Wort wäre das Gedicht nichts
neues deutschland, 19.7.2014
Burga Kalinowski: „Mein Inneres lesen“
junge welt, 11.9.2015
3.7.2024 – 28.8.2024 „Zum 90. Geburtstag von Rainer Kirsch“: kuratierte Ausstellung von Helga Grzebytta in der Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf
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