STIMME
sanftheit du stumme
mag das geläute vom berg kommen
ich singe
aaaaaaaaaameine nacht alleine
aaaaaaaaaameine stimme keine gewalt
aaaaaaaaaadas wasser gestülpt meiner rechten
aaaaaaaaaazunge verschränkt
aaaaaaaaaaaaaaawärme der luft
aaaaaaaaaadie syringe
aaaaaaaaaaaaaaakein metall
aaaaaaaaaaaaaaakeine träume
das rot des wassers von blut rot
und die seraphische schönheit
aaaaaaaaaaaaaaader jüngling
auf dem spitzen dach
aaaaaaaaaaaaaaareitend
aaaaaaaaaader marsch der sonne
aaaaaaaaaawird von hunden begleitet
aaaaaaaaaader marsch der erde
aaaaaaaaaaein blühender orkan
Mich interessiert das Lebendige,
nicht das Historische.
Werner Kraft
Ein Bild ist die Summe von Maleropfern, sagte Delacroix nach dem Betrachten der Bilder eines Vorgängers.
Es ist die Auslassung, die den Rang einer Zeichnung bestimmen kann. Etwas, das fehlt, wird anziehend sichtbar.
Als der gigantisch bruchstückhafte antike „Torso von Belvedere“, der über Michelangelo auf die Kunst der Neuzeit bis zu Rodin oder Lehmbruck gewirkt hat, 1998 um Kopf und Gliedmaßen, Schwert und Scheide ergänzt wurde und der sitzende, vor dem Selbstmord brütende Aias als ursprüngliche Figur wahrscheinlich wurde, war dem Münchner Archäologen Raimund Wünsche ein detektivisches Meisterwerk gelungen; aber die Faszination, die von dem Torso ausgeht, ist durch die Ergänzung hin.
I
Wir sprechen hier von einem modernen Fall, in engeren Grenzen. Aber es gibt eine Parallele. Auch Rainer Maria Gerhardts Werk fehlen Arm und Beine, und sein ihn charakterisierendes Stichwort ist, klein geschrieben, „fragmente“. Das ist zunächst durch den Zeitpunkt bedingt, an dem er auftrat.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Menschen und Güter, auch die intellektuellen, moralischen und künstlerischen, Treibgut. Die Situation schien offen und unabgeschlossen; von der Atmosphäre intensiver geistiger Suche haben viele berichtet. Nach Theaterabenden und Lesungen wurde geredet, stundenlang, Zeitschriften entstanden zuhauf. Es war der Versuch, neue Pfade zu finden, Brücken, die betretbar waren, ein Stückchen festeren Bodens.
In der Gruppe junger Poeten und Künstler, die sich seit 1948 in Freiburg, Stadtstraße 7, um den 20jährigen Rainer Maria Gerhardt sammelten, wurde diese Erfahrung zum Programm. Zuerst tauschte die Gruppe Manuskripte mit „Neuem“ aus; als das den Initiatoren über den Kopf wuchs, gingen sie zur Vervielfältigung per Matrize über und versandten kleine Heftchen, überschrieben FRAGMENTE. blätter für freunde, in denen sie die Empfänger baten, sich weiterhin zu beteiligen: „bleiben wir bei dem, was wir immer wollten, neues zu suchen und zu finden und eine kleine gemeinschaft zu sein, der es auf die versuche ankommt“. Das klingt nach Inselbildung. Das Bewußtsein, aber auch die begonnene Arbeit war geprägt von Offenheit, Unabgeschlossenheit. Sie durchdringt Gerhardts Hinterlassenschaft, die Pound und hinter ihm Joyce das meiste verdankt.
Diese Hinterlassenschaft ist dann auch unfreiwillig Fragment geblieben. Vieles ist noch im Entstehen, more divined than seen, im buchstäblichen Sinn nicht ausgesprochen. Das verlockt zu ergänzen, sich seinen Vers zu machen. Gerhardt ist heftig, polemisch, ohne schon ganz deutlich sein zu können. Auch seine Gedichte scheinen mehrfach noch nicht ganz da angekommen zu sein, wohin er wollte. Ein enormer Wille, eine dementsprechende Arbeitskraft ist am Werk, ein vielseitig ausgreifendes, intelligentes, zuletzt ganz unrealistisches Planen. Er hat manches in Andeutungen vorweggenommen, was in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren auftauchte und zur Richtung wurde, von Höllerer achtungsvoll genannt, von Enzensberger schamhaft verschwiegen. rmg, wie er selbst unterzeichnete, war von entschiedener Art, in Sachen Kunst kompromißlos. Was hätte er zu dem sich entwickelnden Betrieb gesagt? Er war nicht mehr da. Seine Stimme fehlte. Was er veröffentlicht hatte, lag verstreut in Bruchstücken vor, kaum besprochen, von einigen Liebhabern gesammelt. Ein halbes Jahrhundert lang kam es zu keiner Werkausgabe. Als 1988 von Helmut Salzinger und Stefan Hyner ein mutiger, interessanter Versuch untornommen wurde, der den von Gerhardt eröffneten transatlantischen Dialog ins Zentrum rückte, scheiterte er an der nicht vorhandenen Zustimmung der Erben.
Vor fünf Jahren war es berechtigt, zu fragen, ob die fast verschollene Legende RMG ein falscher Mythos sei. Heute läßt sich’s öffentlich überprüfen. Nachdem diese Werkausgabe vorgelegt werden kann, die vermutlich das Wesentliche enthält, was von ihm publiziert worden ist oder als einstige Rundfunksendung und im Nachlaß aufzuspüren war – eingeschlossen die erhaltene Korrespondenz, welche die Attacke auf Benn und das Scheitern Gerhardts als deutscher Poundübersetzer betrifft −, läßt sich noch einmal der Augenblick vergegenwärtigen, in dem dieser junge hochbegabte Autor sich im Nachkriegsdeutschland der literarischen Moderne emphatisch öffnete. Auch weil es ein erster Anfang war, haben diese Bruchstücke die Frische und den Ernst, den Zauber des Aufbruchs. Moderne ist ihm noch kein Fetisch, sondern ein faszinierender neuartiger Arbeitsvorgang.
Als er 27jährig aus dem Leben ging, schien er gescheitert zu sein: als Verleger und Zeitschriftenherausgeber, Übersetzer, literaturkritischer Essayist, Poet und als Schlüsselfigur in einem transatlantischen Dialog mit den Dichtern des Black Mountain College. Die Wirkung ließ auf sich warten, es gab eine Legende, kein aktives Nachleben. Sein Standpunkt ist nicht präsent auf den erwähnten Gebieten, die Literaturgeschichte weiß fast nichts von ihm, während er in den USA gar kein Unbekannter ist.
Aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts, das uns von ihm trennt, lassen sich die zukunftsträchtigen Konturen der Versuche in der Stadtstraße 7 deutlicher erkennen, die seinerzeit so wenig Echo hatten:
− Die Zeitschrift fragmente. eine revue der internationalen dichtung von 1951 und 1952 eröffnete als erste einen neuen Horizont internationaler moderner Lyrik, sie bot eine erstrangige Sammlung und Übersetzung hier noch kaum oder gar nicht bekannter Poeten, die von Ernst Robert Curtius und Egon Vietta sofort als Manifest begriffen wurde.
− Die Übersetzungen Rainer und Renate Gerhardts waren nicht nur treffsicher in der Auswahl, sie sind auch besonders interessant durch ihren rauhen, der Vorlage befremdlich nahen Übersetzungstyp, der ihnen ihre Frische erhalten hat, zu Beginn der fünfziger Jahre aber auf Widerstand stieß.
− Gerhardts Dichtungstheorie orientierte sich vorwiegend an der von ihm herausgegebenen und übersetzten anglo-amerikanischen Dichtung und konturierte sich als Gegenentwurf zur deutschen literarischen Situation, speziell zu Gottfried Benn, der gerade als deutscher Repräsentant der Moderne hervortrat. Diese Poetologie hat beachtliches Format und ist ganz unbekannt.
− Die Gedichte, unter denen es eigentümlich schöne Stücke gibt, erschließen sich am ehesten, wenn man sie als Exempel der gesuchten Dichtart versteht. Die Nähe des Gerhardtschen Konzepts und seines Verfahrens zu Paul Klees Verbindung von Lehre und künstlerischer Praxis im Weimarer Bauhaus wird hier besonders deutlich.
− Der in poetischer Form, als „Gedichtwechsel“ eröffnete transatlantische Dialog mit Robert Creeley und CharIes Olson war ein früher Schritt, der erst in den sechziger Jahren Nachfolge fand. Kurz:
Die Beschäftigung mit Rainer Maria Gerhardt ist der Blick in eine erregende Werkstatt.
II
Als er 1947 in das zertrümmerte Freiburg kam, in dessen Mitte nur das Münster noch unzerstört stand, und sich an der Universität als Gasthörer der Germanistik und Psychologie einschrieb, war dieser Zwanzigjährige vor allem ein junger Dichter. Schon im folgenden Jahr kristallisierte sich die Idee heraus, in dem zusammengebrochenen und neu aufbrechenden Land „die Dichtung, und zwar die anspruchsvollste und schwierigste Dichtung der Moderne aller Länder, ins Zentrum des geistigen Lebens zu rücken“, wie Alfred Andersch am 9. September 1954 in seinem Nachruf auf Gerhardt schrieb (FAZ).
Es begann im Januar 1948 anläßlich einer studentischen Kunstwoche, mit einer Ausstellung und einem Abend junger Dichter und Komponisten. Die Ausstellung und der Abend wurden Anfang Juli wiederholt, jetzt schon mit entschlossen modernem Qualitätsbewußtsein und Programm. Um Rainer Maria Gerhardt und Renate Schlothauer, Studentin der Anglistik, Romanistik und Germanistik, um ihr bald gemeinsames Zimmer in der Stadtstraße 7 bildete sich ein Kreis. Klaus Bremer gehörte dazu, der in diesen Jahren interessante Gedichte geschrieben hat und später zum Kreis der „konkreten poesie“ stieß, die Künstlerfreunde Helmut Bischoff und Erwin Steitz, die an der Karlsruher Kunstakademie studierten. Der junge Komponist Berthold Hummel tauchte auf. Es gab Leseabende.
„Ein verrückter Kerl“, hat mir der Freiburger Maler Bert Jäger auf dem Augustinerplatz gesagt, ein kleiner Mann, der stehenblieb, wenn wir uns trafen, und sich auf seine beiden Krücken zurücklehnte.
Kaum über zwanzig kannte er die ganze Moderne. Pound und Eliot, Saint John Perse, Olson und Creeley, er hat uns mit ihnen bekannt gemacht, sie übersetzt und in kleinen maschinengeschriebenen, von Hand vervielfältigten Heftchen verschickt. Das graue Nachkriegspapier im Querformat fiel auf ausgedörrten Boden. Für uns war fast alles neu, was er machte. Immer traf man ihn mit einem Rucksack voller Bücher oder mit einem von einem Riemen zusammengehaltenen Bücherpaket über der Schulter, er warf die Last ab und zog einen irgendwo am Straßen und ins Gespräch. Er hatte schon wieder ein Thema, immer hatte er was auf der Palette. Es ist nicht gut ausgegangen mit ihm. Mit 27 Jahren war er tot.
Als ich ihn bat, aufzuzeichnen, was er von Gerhardt wußte, schüttelte er den Kopf.
Auch dar Maler Helmut Bischoff aus Marxzell-Burbach (Baden), den ich durch Vermittlung Fritz Werners bei einer Vernissage kennenlernte, sprach zunächst nur in Andeutungen von Gerhardt und der gemeinsamen aufregenden Zeit. Aber er sandte bald zwei Porträts, die er 1950 von ihm gezeichnet hat. Ein schmaler Kopf, schmale eckige Augen, östlich. Da ist er vielleicht am unverhülltesten erkennbar, schon dem Nirvana verschwistert.
Fritz Werner liebte es, Verbindungen herzustellen. Dieser stadtbekannte Freiburger Buchhändler und Archivar der Wirkungsgeschichte Gottfried Benns wurde schon 1948 eine Art Mentor Rainer Maria Gerhardts. Er hat ihn hoch geschätzt. Von der Schönheit der jungen Renate Gerhardt hat er noch als 85jähriger Greis geschwärmt. Sie habe starken Anteil an seinen Übersetzungen aus dem Englischen gehabt, sein Englisch war schwach, er habe die abschließende Form gegeben. Die Gerhardts schickten und widmeten ihm bald, was es von ihnen Neues gab, besuchten ihn in seiner damaligen schrägen Dachwohnung, wo er mit seiner Frau lebte, der Malerin Charlotte Gadow. Er versuchte, zu raten, abzuraten, angesichts der tollkühnen verlegerischen Pläne Gerhardts manchmal flügelschlagend, stellte 1949 eine erste Verbindung zu Gottfried Benn her, 1952 zu einem jungen Studenten, den er als Ersten Preisträger aus einem Lyrikwettbewerb des Freiburger Studium Generale herausgefischt hatte: Hans Magnus Enzensberger. Nach einer Weile gelang es ihm, Klaus Bremer, Rainer Maria Gerhardt und Hans Magnus Enzensberger an einem Abend in seiner Dachkammer zusammenzubringen. Sie lasen einander ihre Gedichte vor. Enzensberger zog sich zurück, er suchte einen arrivierten Verleger. Für ihn sei der Buchdruck erfunden, meinte er.
Fritz Werner hatte drei Götter: Gottfried Benn, Martin Heidegger und – Rainer Maria Gerhardt. Niemand hat wohl nach Gerhardts frühem Tod so oft versucht, auf ihn hinzuweisen, ihn wieder ins Gespräch zu bringen, eine Werkausgabe anzuregen. Er hat mir in den Achtzigern seinen Gerhardtnachlaß in Kopie vermacht und diese Ausgabe angestiftet.
Während der fünf Jahre, von 1947 bis 1952, die Rainer Maria mit Renate Gerhardt in Freiburg gelebt hat und in denen ihre Söhne Titus und Ezra geboren wurden, haben sich ihm viele Türen geöffnet, öffnete er selbst viele Türen, vor allem zur Welt. Sie strömte ein, es gab einen Bedarf nach Öffnung der Grenzen, als die „Festungszeit“ des Krieges vorüber war. Dabei waren die Gerhardts so arm, daß sie im Winter zeitweise auch tagsüber im Bett lagen, weil die Kohlen fehlten, und Briefe nicht beantworteten, weil kein Geld in der Portokasse war. In dieser Zeit wurde Pound Pate des zweiten Sohnes der Gerhardts, Ezra, hat Robert Creeley die vierköpfige Familie in ihrem einen Zimmer, Stadtstraße 7, besucht, ergaben sich die Vorbindungen zu CharIes Olson, den Poeten des Black Mountain College in North Carolina, zu William Carlos Williams in Amerika, zu André Breton und Max Ernst in Paris, zu Hans Arp in Basel. Es gab da offenbar wenig Hindernisse. Seine Anziehungskraft muß groß gewesen sein, seine Eindrucksfähigkeit und Entwicklungsbereitschaft, seine Arbeitskraft nicht geringer. Wenn man überschaut, was er in dieser kurzen Zeitspanne gewollt, versucht und zustande gebracht hat, kommt man um die Vorstellung nicht ganz herum, das Schuhwerk dieses jungen Mannes seien Siebenmeilenstiefel gewesen.
III
Die Araber legen Steine auf den Dattelkern, wenn sie ihn setzen, um die Pflanze beim Emporkommen zu stärken. Die Steine in Gerhardts Leben haben allzu schneidende Spuren hinterlassen. – Was bisher über ihn bekannt war, ist lückenhaft und von Legenden entstellt. Manches haben wir mit Hilfe Renate Gerhardts und aufgrund von Urkunden, Bewerbungen ihres Mannes aus dem Jahr 1954 ergänzen und berichtigen können. Auf einige Akzente seines in vier Etappen sich darstellenden Lebens sei besonders hingewiesen.
Karlsruhe (1927–1942)
Die Kunst gehört zur Erbschaft Gerhardts. Mütterlicherseits kommt er aus einer ursprünglich im Osten angesiedelten jüdischen Musikerfamilie mit Namen Apostel. Der Großvater, Johann Gregor Apostel, wird in der Taufurkunde von Gerhardts Mutter als aus Beuthen/Schlesien stammend, „Versicherungsbeamter hier“ geführt, „kathol. Konfession“ wie seine Karlsruher Großmutter Josephina, geborene Immler. Diese für Gerhardts Erziehung entscheidende, offenbar starke Frau war Dozentin für Putzmacherei am Herzoglichen Institut der Großherzogin von Baden.
Die Mutter, Margaretha Apostel, 1907 geboren, hat zwei Brüder, den Violinisten Richard in Karlsruhe, und den in Wien lebenden angesehenen Komponisten und Schönbergschüler Hans Erich Apostel. Der jüdische Zweig seiner Herkunft wird von Gerhardt in seiner Hinterlassenschaft auffallenderweise nirgends berührt.
Der Vater, Jus (Julius) Gerhardt, einer ursprünglich elsässischen Familie (Gérard) entstammend, war Maler und Graphiker.
Rainer Maria Gerhardt, der einzige Sohn seiner Eltern, wird am 9. Februar 1927 im Haus der Großeltern, Karlsruhe, Stephanienstraße geboren. Er verliert früh beide Eltern. Der Vater wird 1931, physisch und geistig erkrankt, in ein Sanatorium eingeliefert, die junge Mutter entschwindet für längere Zeiten nach Berlin, verbunden mit dem Kunstprofessor Polly Schwarz, der Junge wächst bei der Großmutter Josephine Apostel auf. Er besucht die Volksschule. 1941 stirbt der Vater nach zehnjähriger Krankheit in der Heilanstalt Illenau. In der Schule wird dem Sohn von Lehrerseite versichert, der Vater sei zu Recht gestorben. Der Vierzehnjährige, der eine Lehre bei der Karlsruher Lebensversicherungs AG beginnt, soll zu der Zeit „Amok gelaufen“ sein (Bericht Edeltraut Jäger, Frau des später befreundeten Malers Bert Jäger, zu der Zeit Sekretärin jener Versicherungsgesellschaft). 1942 wird das großelterliche Haus in der Stephanienstraße, als das erste in Karlsruhe, ausgebombt. Der Fünfzehnjährige befindet sich als einziges Familienmitglied im Haus und im schützenden Keller. Dies war sein Ausgangspunkt.
Wien (1942–1946)
Der zweite Lebensabschnitt führt, teils, so scheint es, gemeinsam mit der Mutter, nach Wien in das Haus Hans Erich Apostels. Der Junge setzt hier seine Lehre und kaufmännische Ausbildung fort und schließt mit Auszeichnungen ab, erhält die Chance, höhere Schulen zu besuchen und macht als Externer 1946 das Abitur am Schottengymnasium. Vor allem aber beginnt sein anderes Leben. Das Haus ist ein geistiger Treffpunkt und bekannt als Widerstandsnest. Die Regeln der Zwölftonmusik und eine Offenheit für die Literatur der Welt gehören zum Hausgeist. Der Onkel untersagt dem jungen Neffen, mehr als halbe Nächte in der Bibliothek zuzubringen, und stellt ihm andererseits Aufgaben wie: Bis morgen schreibst du mir ein Petrarcasonett (berichtet Edeltraut Jäger). Er verfaßt Gedichte, erhält im Juni 1944 die Jugendkunstmedaille der Stadt Wien. Zugleich steckt er, wie alle seiner Generation, in der Uniform der Hitlerjugend. Im September wird er per Telegramm zum RAD, zum Reichsarbeitsdienst, an die Weichsel im Kreis Kutno beordert. Aus den folgenden Wochen stammen Briefe an „Mutsch“, die, bisher unbekannt, im Nachlaß der mütterlichen Linie aufgetaucht sind. Der Arbeitsdienst entpuppt sich als vormilitärische Ausbildung. Der Blick dieses 17jährigen ist illusionslos, nüchtern und klarsichtig.
16.IX.1944… vor wenigen Wochen wurde die Bildung der Persönlichkeit gepredigt – heute richtet sich alles danach, die Persönlichkeiten zu vernichten. Wenn du diese Kreaturen (die größte Anzahl der Ausbilder gehört dazu) ansiehst, diese geistige Nullen, so wirst du die ganze Nichtigkeit dieser Angelegenheit sehen, hier gilt nicht der Kopf, der Geist, sondern allein der Stimmaufwand, die Brutalität eines Nichts an Menschen. So stehen wir in diesen erdgrauen Kostümen hier und schaukeln hin und her, von dem Bestreben geleitet, uns möglich bald und tüchtig stur zu machen.
Ich komme mir vor wie in einem Narrenhaus: Bad Ischl – Zychlin. Der Unterschied ist furchtbar. Daß ein Volk zwei Gesichte von so einer Verschiedenheit trägt, hätte ich nicht gedacht.
Gute Nacht, Mutsch,…
„17.9.1944… So weit liegt alles zurück, daß man sich nach einsamen Gedichten sehnt, Hölderlin-Hymnen und Trakl-Gedichte, in düsteren und stolzen Farben halten sie noch die letzten Reste einer wahrhaftigen Menschlichkeit.“
Zweimal bittet er in den ersten Tagen um eine Generalstabskarte, eine gute Straßenkarte, „für alle Fälle“. „Weihnachten… ist gewiss (99%) der Krieg aus“.
Zugleich meldet sich in diesen Briefen der Poet:
Du schreibst, ich solle von Landschaft und Leuten erzählen: die Landschaft ist hier grenzenlos weit, kein Horizont, das Land versinkt direkt im Himmel und alle Formen verfliessen in einer unendlichen Feierlichkeit. Es ist wunderbar, wenn abends der Himmel im Osten dunkelt und durch die Horizonte die letzten Scheine des Alltags gehen. Die Sonne liegt dann wie ein goldenes Feuer auf der Erde und wir sind stumm vor dem grossen Gefühl dieses Geschehens.
Hoffentlich vermag ich, aus diesem dumpfen Stinkloch von Krankenhaus herauszukommen…
Er ist erkrankt, vielleicht getürmt, gelangt jedenfalls noch Wien. Aus dem Jahr 1945 gibt es eine Sammlung Lieder der Liebe, die leicht hingesetzt scheinen und keinen konventionellen Rahmen sprengen. Ein Jahr später verfaßt er zum 16.4.1946, dem ersten Todestag von Franklin Delano Roosevelt, ein Requiem für den amerikanischen Präsidenten, das er Mrs. Eleanor Roosevelt in tiefster Verehrung widmet; er läßt es in Post-Antiqua auf Bütten setzen und versendet in handsignierten Exemplaren. Es ist ganz im Ton Rilkes verfaßt. Gerhardt ist inzwischen Kulturreferent, dann Delegierter der Freien Österreichischen Jugend. Im Oktober 1946 erkrankt er schwer. Ein Tumor im linken Ohr, der das Gehirn anzugreifen droht, nimmt ihm jede Lebenshoffnung, die Ärzte halten eine Operation für aussichtslos. Ein sehr anrührender Brief vom 14. Oktober an „Mutsch“ nach Karlsruhe, eine Art Testament, nimmt Abschied, indem der Sohn nach offenbar ernsten Konflikten um Verzeihung bittet und die Mutter erstmals zu verstehen glaubt, sein „Werk“ einer geliebten jungen Wiener Schauspielerin Steffi vermacht. Die Krankheit nimmt nach zwei Tagen eine Wende: „irgendetwas muss sich in meinem Schädel ereignet haben.“ Die Freie Österreichische Jugend ist längst kommunistisch unterwandert, er hat rebelliert und soll Wien Hals über Kopf verlassen haben.
Freiburg (1947–1952)
Der dritte Lebensabschnitt ist bestimmt durch rapide Entwicklung. Er schreibt sich als Gasthörer der Universität ein. 1948 erscheint als das Jahr des Durchbruchs. Jetzt bildet sich der erwähnte Kreis, die gruppe fragmente. Für die Gerhardts steht das Jahr im Zeichen Eliots; an einem umfangreichen Textkonvolut seiner Lyrik erarbeiten sie sich das Handwerk gemeinsamen Übersetzens. Ein modernes deutsches Weihnachtsspiel mit symbolisch abstraktem Figurenpersonal und aktuellem Zeithintergrund, wohl auch unter dem Eindruck Eliots entstanden, wird als Improvisation konzipiert, als eine Art performance. Prosaskizzen, genannt Kleiner roman, scheinen den Zug der Heiligen Familie durch die Geschichte als eine Art Welttheater anzuvisieren. Gerhardts Gedichte aus dieser Zeit nähern sich der Kunstrichtung an, die man als Expressionismus II bezeichnen könnte.
Bei dem sich jetzt entwickelnden Vorhaben, die Dichtung der Moderne zum Maßstab Nr. 1 für Poesie zu erklären und zum Ausgangspunkt für die Dichtung seiner Generation zu machen, ist er notwendigerweise Autodidakt. Die Selbstausbildung hat, bei erschwerten Bedingungen, Vorzüge: sie fördert die leidenschaftliche Hingabe an die Sache, nichts als die Sache, den aus der unmittelbaren Berührung hervorgehenden persönlichen Ernst, und sie ermöglicht Unbefangenheit. Gerhardt war alles drei, sachbesessen, ernst und vollständig unbefangen.
Es läßt sich leicht vorstellen, wie fremdartig neu das erste kleine querformatige Heft der FRAGMENTE. blätter für freunde gewirkt haben muß: Die in einer knappen, harten, spröden Sprache von Renate Gerhardt übertragene Ode Ezra Pounds E. P. Ode pour I’élection de son sépulchre, in der er sich nach dem Zivilisationsdesaster des Ersten Weltkriegs seine Grabschrift schreibt, die surreale Satire auf den Kulturbetrieb Das Tannadeltier von Klaus Bremer, Rainer Maria Gerhardts auf die zweite Nachkriegssituation eingelassener gesang der jünglinge im feuerofen:
was hab ich gegen dieses auszurichten
was hab ich gegen dieses auszurichten
was hab ich gegen dieses auszurichten
sonne im antlitz und wind im haar.
Mit den sechs Heften von Ende 1948 bis 1950 bildet sich ein Zeitschriftenherausgeber aus. Sie sind eine konturierte Einheit und können auf Programmatisches verzichten, die Texte allein stellen ein Programm dar und sind auch heute kennenswert.
Als die gruppe der fragmente / freiburger kreis zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung tritt, am 24. Februar 1950 im Hörsaal 5 der Universität, an den Wänden hängen Holzschnitte und Monotypien der Malerfreunde, liest Bremer ein langes Gedicht, werden Übersetzungen von Perse und Pound gelesen, erklingt ein Streichtrio in e von Berthold Hummel, liest am Ende das Haupt der Gruppe. „Ich weiß nicht mehr, was er las“, berichtet Fritz Werner. „Ich weiß nur noch, daß seine Sprache elektrisierte, daß es ein völlig neuer Ton war, eine Unverbrauchtheit der Worte, die aufwühlte“ (Allmende 32/33, 185).
Jetzt gründet er den verlag der fragmente. Dem Prospekt geht ein knappes Manifest voraus:
Der ort der kunst: das exil. Unsere fragmente sind ein versuch, das exil zur sprache zu bringen.
Der Gedichtzyklus tod des hamlet, der schon als Nr. 3 der blätter für freunde versandt worden war, erscheint im eigenen Verlag als schmaler Band, Holzschnitte von Erwin Steitz als begleitende Kunstmappe.
Das Jahr 1950 steht unter einem günstigen Stern. Man kommt mit Gottfried Benn in Verbindung, RMG wird von Pound als sein deutscher Übersetzer autorisiert und beginnt, mit Benns Verleger Max Niedermayer über eine deutsche Auswahl aus der Prosa und Lyrik Pounds zu verhandeln. Noch im gleichen Jahr, am 12. September, eröffnet Gerhardt in einem auch formal programmatischen Gedicht den Dialog mit Creeley und Olson.
Ende des Jahres gibt es bedenkliche Vorzeichen. Benn hat auf drei Briefe, in denen Gerhardt um Gedichte für seine geplante Zeitschrift fragmente bat, nicht reagiert, nachdem er sie vorher anscheinend in Aussicht gestellt hatte. Ende des Jahres gibt er ein äußerst negatives Urteil des Merkurherausgebers Hans Paeschke über die Poundübersetzungen der Gerhardts mit der Bemerkung „Rate zur Vorsicht!“ an Max Niedermayer weiter. Zugleich schreibt Gerhardt in einem Neujahrsgruß an Fritz Werner, es sei „an der zeit, etwas am throne benns zu rütteln.“ „UNSERE ZEITSCHRIFT STARTET.“
Das Jahr 1951 bringt eine unglückliche Wende. Das Erscheinen der Zeitschrift verzögert sich, die Verhandlungen über die Poundauswahl gestalten sich quälend. Mitte April planen Niedermayer und Benn einen Band neuer Gedichte Gottfried Benns unter Gerhardts Markenzeichen Fragmente. Gerhardt erhebt höflich, dann entschiedener Einspruch gegen die Verwendung eines Titels, den er seit 1949 für seine noch halb privaten, auch an Benn und Niedermayer gegangenen FRAGMENTE. blätter für freunde eingeführt und unter dem er seit 1950 seine gedruckte Zeitschrift fragmente angekündigt hat. Der Briefwechsel im April/Mai 1951 ist nicht ohne Brisanz: Als unmittelbare Folge stellt Niedermayer die Qualität der Poundübersetzungen Gerhardts in Frage und entschließt sich, „nicht eine Zeile“ von ihm zu drucken (19.5.1951 an Benn). Als Ende Mai Gerhardts fragmente erscheinen und in der beigelegten rundschau ein hochintelligenter Angriff auf Benns Statische Gedichte, ist die Kluft endgültig. Gottfried Benn geht in seiner Antwort entschieden unter sein Niveau. Längst entschlossen, sich im Nachkriegsdeutschland als der Repräsentant einer literarischen Moderne zu etablieren, gibt er diesem Entschluß in seiner Marburger Rede „Probleme der Lyrik“ vom 21. August 1951 kanonischen Ausdruck und nennt die Gruppe, die er noch 1950 als „Freiburger Kreis“ und Beispiel für den „Stil der Zukunft“ begrüßt hat, hier nicht beim Namen. Aber er zitiert aus Gerhardts fragmente-Heft 1 ein exzellentes Gedicht von Michaux und sehr bemerkenswerte Übertragungen „primitiver Dichtung“ von Ilse Schneider-Lengyel, indem er sie als „eine Art Neutönerei in der Lyrik […], eine Art rezidivierenden Dadaismus“ abkanzelt: „Das soll wohl sehr global sein, aber für den, der vierzig Jahre Lyrik übersieht, wirkt es wie die Wiederaufnahme der Methode von August Stramm und dem Sturm-Kreis, oder wie eine Repetition der Merz-Gedichte von Kurt Schwitters: ,Anna, du bist von vorne wie von hinten‘.“ Fritz Werner, der unbedingte Bennverehrer, ist tief verletzt und verteidigt die Gerhardts dennoch in einem langen noblen Brief. Aber Niedermayers Ablehnung ist endgültig, am 5. November 1951 wird er dann den gezahlten Vorschuß zurückfordern.
Dem Fehlschlag steht ein enthusiastisches Lob der Zeitschrift in der Zürcher Tat (21.7.1951) gegenüber, Curtius vergleicht sie mit der Sammlung Menschheitsdämmerung (1919) von Kurt Pinthus und wirbt Mäzenaten für das Unternehmen; da er aber zugleich die deutsche Literaturkritik als „Quakende Frösche“ tituliert, meldet sich ihr Repräsentant Friedrich Sieburg so herabsetzend wie möglich; in Deutschland gibt es sonst kein nennenswertes Echo.
Gerhardt entwickelt Pläne, in die Provence auszuwandern und die Arbeit in Aix-en-Provence mit Robert Creeley und Helmut Bischoff fortzusetzen. Er verlebt inspirierte Tage in der Provence bei den Creeleys. Die Pläne lassen sich nicht verwirklichen.
Die Zeitschrift sollte ursprünglich monatlich erscheinen, er ist schon jetzt stark verschuldet, das zweite Heft erscheint 1952, fast ohne Resonanz. Die Familie lebt unterhalb der Armutsgrenze; nach dem Verlust der Wohnung Stadtstraße 7 zeltet sie den Sommer über bei Karlsruhe am Rhein bis in den Herbst, anschließend bis in den November auf einem Karlsruher Zeltplatz.
Die Arbeit wird fortgesetzt; die Pläne werden erweitert. Man lebt von Rundfunkarbeiten, soweit möglich. Alfred Andersch bringt im Abendstudio ein vorzügliches Porträt Pounds, Die Pisaner Gesänge (März 52) und einen Entwurf von Gerhardts poetologischem Konzept, die maer von der musa nihilistica (November 52). In der schriftenreihe fragmente erscheinen Claire GoII, Wolfgang Weyrauch und Gerhardts zweiter Gedichtband umkreisung. Die Schuldenlast wächst, das materielle Scheitern ist absehbar, das Leben wird ruhelos. Wie tragfähig war seine Idee? Seine Arbeit? Lassen sich die Konturen seiner Hinterlassenschaft klar genug fassen, um ein Urteil zu ermöglichen oder doch die Grundlage eines Urteils? Betrachten wir noch einmal die Gebiete, auf denen er sich hervorgewagt hat: den Verleger und Herausgeber, den Übersetzer, die Poetologie des Essayisten, seine Dichtung, den Dialog mit den neuen Amerikanern.
IV
1. Sein Verlag ist eine Utopie. Er konzipiert ihn als reine Idee und plant, ohne Kapital und Vertrieb, als gäbe es keine Regeln des Marktes. Dabei hat er eine mit Auszeichnung bestandene kaufmännische Ausbildung hinter sich.
Als junger Zeitschriftenunternehmer und Autor ist er lieber anmaßend als allzu bescheiden. Er fällt absolute Urteile, ist unbedingt in seinen Grundsätzen und scheut sich nicht, seinen in Aussicht genommenen Verleger gründlich (und übrigens, was Pound angeht, sachkundig) zu belehren. „Wie alt ist Herr Gerhardt eigentlich?“ fragt Max Niedermayer irgendwann.
Vor allem sind seine Ankündigungen nicht zuverlässig. Was er imaginiert und plant, gibt er gerne als Wirklichkeit aus, kurz, er gehört, wie so mancher seiner Branche, zur näheren Verwandtschaft Felix Krulls.
Die andere Seite aber ist eine ausgesuchte Höflichkeit, eine rasch erworbene Professionalität im Umgang mit der zum Maßstab erhobenen Literatur. Er hat eine Spürnase und Treffsicherheit des Urteils, als verfüge er über eine unfehlbare Wünschelrute; fast alle von ihm publizierten Ausländer rücken später in den Kanon auf, unter seinen Entdeckungen sind keine Nieten.
Das nur rudimentär umgesetzte Verlagsprogramm war auch mit dem, was vorlag oder in den Druckfahnen steckenblieb, eindrucksvoll und als Ganzes ein fabelhaft gedachtes Projekt. Schon die Zeitschrift fragmente ist von nachhaltiger Qualität und der kleinen Öffentlichkeit des Gedichts weit voraus.
2. Beim gemeinschaftlichen Übersetzen, von dem in der Dokumentation „RMG – Benn – Pound“ und im Kommentar dazu ausführlicher die Rede ist, kann es sogar einen Vorteil gehabt haben, daß Rainer Maria Gerhardt die englische Sprache nur dürftig beherrschte. Da Renate Gerhardt kundig die Rohübersetzung lieferte und ihm für fragliche Stellen gelegentlich ein ganzes Wortregister zur Verfügung stellte, er seinerseits ein musikalisches Ohr hatte und sich in einen fremden Ton leicht einhörte, könnte es sein, daß die Übersetzung gerade deshalb wortnah blieb und mehr von der Musik und dem Ton des fremden Textes aufnahm als üblich. Die Gerhardts entwickelten einen in den 50er Jahren befremdlichen, heute von vielen sehr angesehenen Übersetzungstyp.
Vor einiger Zeit habe ich im Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen einer Gruppe von 13 Übersetzerinnen und zwei Übersetzern Pounds „E. P. Ode pour I’élection de son sépulchre“ in der Übersetzung der Gerhardts von 1949/51 und der Eva Hesses von 1956 vorgelegt. Man erkannte zwei Sprachtypen. Die Gerhardts waren wörtlicher, der englischen Syntax näher, härter, sachlich spröder – auch in ihren emotionalen Elementen – und schienen nach allgemeiner Auffassung gerade dadurch lebendiger geblieben. Sie bewegten die Übersetzung auf das Original zu bis zur Ungelenkheit. Eva Hesse bürgerte dagegen Pound in die idiomatische Bildungssprache ein, die in den fünfziger Jahren als Poesie galt, und wirkt abgestanden, aus der Mode gekommen.
Den Schluß von „Canto LXXXIV“:
If the hoar frost grip thy tent
Thou wilt give thanks when night is spent
übersetzen die Gerhardts (1950/52):
Wenn rauher frost dein zelt berennt
Dann sagst du dank wenn die nacht zu end.
Eva Hesse (1956):
Kommt Rauhreif nieder auf dein Zelt
wirst du heilfroh sein, wenn der Tag sich hellt.
Eva Hesse wurde nach den Gerhardts mit der Übersetzung Pounds betraut. Ihre enormen Verdienste sind oft gewürdigt worden. Wir sprechen hier von ihren frühen Übertragungen; ich gestehe aber grundsätzlichere Zweifel, ob Pounds Lyrik durch Eva Hesse in unsere Sprache tatsächlich herübergebracht worden ist, und würde mir ein Symposion von Experten wünschen, auf dem das Problem der Pound-Übersetzung neu diskutiert wird. Dabei geht es um eine sachliche Frage: welcher Übersetzungstyp, der in die Zielsprache einbürgernde oder der sich der Ausgangssprache weitgehend annähernde, „ausbürgernde“, ist der angemessenere? Einer Poesie wie der Poundschen entspricht m. E. nur der befremdende, nur er garantiert die im Original geleistete Horizonterweiterung.
3. „Es gibt kein bewusstsein von neuer dichtung ohne neue kritik“, heißt es in der den fragmenten 1 beigelegten rundschau. „Wir wollen dahingestellt sein lassen, ob die neuen gesichtspunkte den dichter hervorbringen oder der neue dichter den neuen gesichtspunkt.“ Die Frage ist nicht zufällig, sie betrifft Gerhardts eigene Arbeit. Im grandiosen Fall Klopstock brachte der neue Gesichtspunkt, die ausgearbeitete Theorie, das neuartige Werk hervor.
Das essayistische Werk Gerhardts ist schmal und nähert sich fast überall dem Manifest. Neben der mit Sprengsätzen versehenen rundschau gibt es ein laut Fritz Werner oft umgearbeitetes großartiges Manuskript, das als Vorwort zu dem geplanten, nicht erschienenen Deutschlandsonderheft der fragmente gedacht war, und zwei herausragende Rundfunksendungen: Die Pisaner Gesänge und die maer von der musa nihilistica. In diesem Werkteil wird Gerhardts Kraft der Beschreibung und des Urteils besonders spürbar. Vielleicht ist er als poetologischer Programmatiker am bedeutendsten.
Mit sicherem Blick macht er 1951 auf Arno Schmidt als denjenigen aufmerksam, der sich die epochalen Errungenschaften von James Joyce zu eigen gemacht habe. Dabei sieht er in Technik und Form Wahrnehmungsorgane, Erkenntnisinstrumente.
Sein Orientierungspol liegt während der Freiburger Jahre immer weniger in der deutschen Tradition. Der Angriff auf Benn in fragmente 1, der ihm als Majestätsbeleidigung bzw. jugendlich unbeholfener strategischer Versuch eines Denkmalsturzes verübelt wurde und gründlich schadete, war brisant, weil er einen ernsten, sachlichen Hintergrund hatte, ein neuartiges Fundament. Auch wenn er Benn verehrte, sich der Faszination und Wirkung dieses imposanten Formats nicht entzog – er intendierte seit 1950 eine andere Weichenstellung.
Das ist aus dem Nachlaß noch sehr viel deutlicher ablesbar als aus dem bisher Bekannten. Gerhardts nur in Ansätzen formulierte Poetologie gewinnt Kontur in dieser Auseinandersetzung. Wie läßt sich ihr Umriß fassen?
Fritz Werner notiert in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen, den Lapisculi:
Am 8.3.[1951] wieder eines dieser die Jahre füllenden Gespräche mit R.M. Gerhardt. Ich hatte wieder einmal Kritik an seinen m. E. voreiligen Schritten auch in bezug auf Benn geübt. Im Gespräch setzte er den Dichter gegen den Lyriker ab. Von dem musikalischen Zwölfton-System ausgehend, behauptete er, nicht Metrum sei die Einheit des Gedichts, sondern der Atemzug: die erste Zeile: Thema, die zweite näheres Verhältnis, aber [muß heißen: ab] der dritten Variationen; also ein klangliches Ornament, zu dem andre im Verhältnis stehen. Von daher hört alles Gedicht auf, das sein Verhältnis nur aus dem Metrum bezieht. Er verwandte das nicht von ihm erklärte Wort der metaphysischen Dichtung.
Das klingt nach Schönberg und Charles Olson und nimmt schon seinen Kommentar zu Benns Statischen Gedichten und zur französischen Dichtung in der rundschau vorweg. „Die sprache erhält nicht den raum, sie selbst zu sein, sie wird eingeengt und mit exotischen glanzlichtern versehen“, heißt es dort. „Benn lehnt rückgriffe und sentiment ab. Wir müssen ihm aber bescheinigen, daß seine gedichte rückgriffe und sentiment sind. Sie sind ein sichgehenlassen in gefühlen.“ Es fehle an Härte und künstlerischer Disziplin.
Das ist kein Jugendstreich. Gerhardt stellt dem von Gottfried Benn erfolgreich dekretierten und durch Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik wissenschaftlich autorisierten Begriff der „Moderne“ frische, formal neue Möglichkeiten, andere Dimensionen der via moderna gegenüber. Statt des romanischen Traditionsstrangs, dessen Ursprünge im 19. Jahrhundert, von Baudelaire bis Rimbaud, Hugo Friedrich als das Äußerste und Höchste an Modernität erschienen und durch ihn fast kanonische Geltung erlangten, richtet Gerhardt den Blick entschieden auf das englisch-irisch-amerikanische Panorama des 20. Jahrhunderts. Er verwirft nicht nur, wie der Kritik an den Statischen Gedichten Benns zu entnehmen, den klassischen Vers mit Metrum und Reim. Er deutet auch das von Benn übernommene Konzept des „Montagestils“ um in Richtung auf Arnold Schönberg, Olson und Paul Klee:
Montagestil bedeutet nicht formauflösung, sondern steigerung und äußerste disziplin der form. Es gibt keinen schwierigeren vers, als den von der stütze des metrums befreiten. Es gibt kein schwierigeres gedicht als das von der stütze eines gewissen schemas befreite, montagestil ist nicht der ausweg in einen mehr oder weniger zu kontrollierenden freien rytmus, der freie rytmus erscheint uns als jugendstil, wenn wir die mathematischen kompositionen und konstruktionen von bild- und lautbeziehungen betrachten. Die verbindung zur musikalischen technik ist in dieser technik hergestellt. Der technik der malerei wird nicht mehr nachgestanden.
Er spricht ausführlich von der Langzeile.
… die zeile macht neue veränderungen durch, sie gewinnt neue intensitäten. Gewisse rhetorische elemente sind ihr zu eigen, wiederholungen, aufzählungen, das ornament entscheidet über die eigenart.
Wir begegnen hier stilelementen, die der methaphysischen dichtung eigen sind.
Ein zweiter Gegensatz betrifft das Verhältnis zum Politischen. Nach einer Phase der Absolutheit politischer Gesichtspunkte, dem politischen Rausch, neigen deutsche Autoren zu einem nicht weniger radikalen, apologetischen Ästhetizismus. Dafür gibt es schon im 19. Jahrhundert, und dann, nach 1914, nach 1933 und 1968 markante Beispiele. Gerhardt ist der bei uns eher seltene Fall eines Autors, der einen unbedingten Anspruch an die ästhetische Form mit der Forderung gesellschaftlicher Wachheit verbindet – die Brücke ist das Politikum verantworteter Sprache. Für ihn ist es selbstverständlich, daß poetische und politische Texte zwei Welten angehören. Er polemisiert in einem Brief an den Südwestfunk dagegen, daß Benn und Pound ihrer politischen Vergangenheit wegen Interesse finden, und meint, Rilke könne derzeit nur Wirrköpfigkeit befördern, mit ihm sei ein klares Denken so gut wie unmöglich geworden. „Seine wirkung wird nur noch von dem das zeitgenössische denken auflösenden freiburger philosophen Martin Heidegger erreicht und übertroffen. Mit Heidegger ist das begreifen jeder konkreten sache unmöglich, ebenso wie das handeln in konkreter situation. Es ist eine philosophie der ,weltzeit‘, das heisst des irgendwann und des nirgend.“ So klar hat das vor Heideggers Tod nur Robert Minder ausgesprochen.
Das Bindeglied zwischen Dichter und Gesellschaft sieht er nicht in Inhalten, sondern in der Genauigkeit der Sprache. Die deutschen Dichter hätten sie verkommen lassen – es ist das Programm der Großen Unterweisung des Confucius, deren Poundsche Fassung er 1953 in der Schriftenreihe der fragmente veröffentlicht hat, auf das er sich im Vorwort zu einer Auswahl neuerer Gedicht, bezieht.
Ein gedicht soll kraft zum leben geben, heute, es mag in anderen situationen anders sein, aber heute, da die grossen der erde mit den ängsten der menschen spekulieren und auf ihren nöten ihre verbrecherischen pläne aufbauen, ist es die aufgabe der dichter, eine atmosphäre von klarheit und lebendigkeit zu schaffen, den grossen den grund ihrer greuel aus der hand zu winden, die grosse waffe (die angst) mit der die regierungen ihre völker schrecken, um sich so die vollmachten für ihre ungeheure willkür in die hände zu spielen.
Wie grundsätzlich und fundiert Pound und Charles Olson aufgegriffen und zu Orientierungspolen werden, mag man der erst kürzlich aufgefundenen Sendung Die Pisaner Gesänge und schon der maer von der musa nihilistica entnehmen. Die letztere nimmt schon im Titel Bezug auf Benn. Nihilismus sei „Kontaktlosigkeit“, erklärt Gerhardt, „Angst vor der Wirklichkeit“, romantische Restauration: „Der Kontaktlose als Ideal einer verarmenden und ratlosen Generation“. Zugleich gibt er ein etwas deutlicheres Bild von Pounds, Creeleys und Olsons zentralem Begriff der Emotion, den „emotional units“. Durch Auflösung des Gefühlsbündels in seine Einzelteile, in offenen Versen, die atmen, werde jenseits von Metrum und Reim ein anderes Gefühlsterrain entworfen.
4. Daß Gerhardts Widerspruch sich an Gottfried Benns Statischen Gedichten entzündete, war kein Zufall. Der elementare Gegensatz ist hier der zwischen Abgeschlossenheit und Offenheit, Vollendung und Fragment. Benn ist zumeist ein Autor des Zustandes, er diagnostiziert die „Lage“, selbst das Titelgedicht „fragmente“ in dem gleichnamigen Band (1951) ist ein Wort zur Lage, fragmente der Name für einen pessimistisch erfahrenen zivilisatorischen Endzustand, ein Fazit:
FRAGMENTE
Fragmente,
Seelenauswürfe,
Blutgerinnsel des zwanzigsten Jahrhunderts −
Narben – gestörter Kreislauf der Schöpfungsfrühe,
die historischen Religionen von fünf Jahrhunderten zertrümmert,
die Wissenschaft: Risse im Parthenon,
Planck rann mit seiner Quantentheorie
zu Kepler und Kierkegaard neu getrübt zusammen −
[…]
Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik:
das ist der Mensch von heute,
das Innere ein Vakuum,
die Kontinuität der Persönlichkeit
wird gewahrt von den Anzügen,
Die bei gutem Stoff zehn Jahre halten.
Der Rest Fragmente,
halbe Laute,
Melodienansätze aus Nachbarhäusern,
Negerspirituals
oder Ave Marias.
Wenn man Gerhardt folgt, hatte Benn der gruppe fragmente ursprünglich einige „Gedichte in Ihrem Stil“ angeboten. Die erste Fassung von FRAGMENTE ist von Benn signiert „G.B. 24.6.50“. Er war schon damals dem gereimten Gedicht gegenüber mißtrauisch geworden, die Form schien sich erschöpft zu haben. Es ist nicht undenkbar, daß er bei dem sich jetzt vordrängenden Typus, den er dann in seinen Fragmente betitelten Band aufnahm, zunächst an den „Freiburger Kreis“ gedacht hatte: bei Gedichten wie „Ein Schatten an der Mauer“, „Satzbau“, „Finis Poloniae“, „Gladiolen“, „Restaurant“.
Es gehört zu den stärksten Qualitäten der Dichtung Benns, daß er der Erfahrungssprache des Alltags, der Umgangssprache aller Sphären eine unerwartete poetische Dimension und Kraft abgewinnt. Seine reimlosen Gedichte sind, auch aufgrund ihres Rhythmus, oft so erstaunlich wie hinreißend. Es sind allerdings nicht Gedichte „im Stil“ des Freiburger Kreises, er muß es früh bemerkt haben.
In Heft 2 seiner Zeitschrift (1952) veröffentlicht Gerhardt ein Gedicht unter, wie er zu Recht meinte, seinem Titel:
FRAGMENTE für renate
der wind bricht auf diese nacht
aaaaaaaaaaaaaaaaquirrt weint
habe die nacht gesehn
aaaaaaaaaaaaaaaakann nicht schlafen
aaaaaaaader bruder ist fortgegangen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaich höre
aaaaaaaadie tür geknarrt
aaaaaaaaaaaaaaaanun ist sie verschlossen
ich habe fusstapfen gesehen
aaaaaaaaaaaaaaaain frischer erde
CATULLUS
aaaaaCATULLUS
aaaaaaaaaaaaaakeine kraft
wenn nicht diese: eine geschichte von dir und mir
keine kraft wenn nicht diese
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavon dir und mir
aaaaahat kein auge sich aufgetan
aaaaahat kein vogel berichtet
aaaaahat der wind nicht geschrien
aaaaaaaaaaaaaakeine kraft
wenn nicht du und ich
aaaaaaaaaaaaaaeine passage
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaoder liebe
metaphysik
aaaaaCATULLUS
aaaaaaaaaaaaaaCATULLUS
pauper amavi
aaaaaaaaaaaaaaCATULLUS
Ein Lied von Treue und Untreue, wie es scheint, und die Beschwörung einer Liebe. Hier wird das Schwere einmal leicht und einfach, es ist eins seiner schönsten Gedichte. Die Form ist neuartig, ein schwebender Aufbau, fragil, offen, typographisch streng um eine vertikale Achse gesetzt. Man spürt, wie ein Gefühlsbündel verrätselt und variierend aufgefächert wird, und ist überrascht, im mehrfach zitierten „vorwort zu einer auswahl“ den Kommentar dazu zu lesen:
Montagestil erfordert kontrapunktik der sprache, bezogenheit der glieder aufeinander, rytmus- und melodiefolge in strenger regel, einzig der musikalischen phrase folgend. Man denke an Schönberg’s theorie des komponierens mit zwölf tönen.
Gerhardts neue Gedichte, die zu Beginn der fünfziger Jahre ziemlich fremd in der Landschaft stehen und kaum Anerkennung gefunden haben, erschließen sich am leichtesten, wenn man sie als „beispielgebend“ (F.J. Knape) versteht. Sie beruhen auf einem neuen „Gesichtspunkt“, einem neuen Literaturhorizont und seinen theoretischen Vorgaben – das ist in unsrer Tradition als Praxis vielleicht selbstverständlich, als Vorstellung und offenkundiges Verfahren aber eher ungewohnt. Im Weimarer Bauhaus wurde es zu einem ergiebigen Verfahren. Beispiel und Kunstwerk standen einander nahe. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt die Gedichte aus dem Band umkreisung (1952) und dem Nachlaß liest, gewinnen so gelungene wie z.B. „cegestes“, „brief an creeley und olson III“, „anagramm“, „seegedicht III“ ein vermehrtes, doppeltes Interesse.
Gerhardt hatte von der noch vorherrschenden Prägung durch die Tradition (1948) bis zum Beginn seiner Krise (1952) nur drei Jahre, um das neue Gedicht, das er suchte, zu entwickeln. Was er hervorgebracht hat, ist auch in diesem Sinn fragmentarisch, eine Werkstatt. Um es gerecht zu würdigen, ist zu beachten, welcher Zeitraum Johannes Bobrowski und Peter Huchel, Ernst Meister oder Karl Krolow zur Annäherung an das gründlich Neue nötig war und zur Verfügung stand.
5. Am 14.10.1965 schrieb Peter Härtling in Die Welt der Literatur:
Einige Jahre nach dem Kriege, 1949 und 1950, gab es, scheint mir, eine Chance für die deutsche Lyrik, die sie nicht annahm, die sie erfaßt vom Schwung der Repetition, nicht begriff. Damals gewannen an manchen, wenn auch unscheinbaren Stellen, jene amerikanischen Poeten Einfluß, die wir erst heute in ihrer magistralen Größe entdecken: William Carlos Williams, Kenneth Patchen, E.E. Cummings, Ezra Pound und Charles Olson.
Auf die einzige Ausnahme und auf den einzigen Dialog, der sich damals über den Atlantik hinweg entspann, möchte ich hinweisen, vor allem aber auf den deutschen Partner der Unterhaltung, auf Rainer Maria Gerhardt.
Der poetische und poetologische Gedichtwechsel zwischen Gerhardt und Olson glückte zwar nicht so ganz. Olson unterstellt dem deutschen Bären, daß er habe sagen wollen, Europa sei tragisch und tief, die USA dagegen ein glückliches Land ohne Geschichte. Er sagt so etwas nicht und schreibt in einem Brief an Paeschke das Gegenteil, aber Olson antwortet dennoch darauf, Elefant, der er war, mit einem poetologisch sehr interessanten, noch viel längeren Gedicht, in dem Genauigkeit das Schlüsselwort ist und er Gerhardt davor warnt, das Zitieren historischer Perücken und klangvoller Namen, diese Art Requisitenzauber, bereits für Poesie zu halten. Daran war etwas.
Die Freunde in den USA sind von Gerhardts frühem Tod erschüttert, widmen ihm Gedicht und Nachruf, ein Erinnerungsbuch, tauschen sich brieflich über ihn aus. In den USA ist Gerhardt lebendiger geblieben als in Deutschland.
Über seine letzte Lebenszeit, die Jahre 1953 und 1954, ist uns wenig bekannt. Im Verlag fragmente erschienen noch zwei Werke, die ihm am Herzen lagen, Pound, wie lesen und, in einer schlackenlos klaren, lapidaren Übersetzung, Pounds Confucius, die große Unterweisung, jene kurzgefaßte Staatsethik. – Das fulminante altchinesische Gegenstück einer Poetik, die Wen-fu-Reimprosa des Lu Chi über Literatur in der Wiedergabe von Achilles Fang, und ein Artaud liegen nur noch als Druckfahnen vor.
Am 1.5.1953 kann die Familie in Karlsruhe eine neue Wohnung beziehen. Von seiner Verschuldung, seiner Schreibkrise spricht Gerhardt selbst, auch von der isolierten Position seiner Vorhaben. Sein Leben wird noch rastloser. Die verlegerischen Pläne sind so intelligent wie uferlos ausgreifend.
Im Frühjahr 1954 versucht er in ungezählten Bewerbungen, einen festen Stand zu gewinnen, der vielleicht in andrer Hinsicht längst verloren ist. Am 27 Juli 1954 geht er in Karlsruhe aus dem Leben.
V
Dies ist anscheinend der siebte Versuch einer Werkausgabe. Mindestens zweimal unternimmt ihn Renate Gerhardt, vor ihr Helmut Heißenbüttel und Klaus Bremer, nach ihr Salzinger/Hyner und gleichzeitig ich selbst – das ist in den ausführlichen Bemerkungen „Zu dieser Ausgabe“ nachzulesen. Wir haben uns nicht vorgenommen, die Gründe für das jeweilige Scheitern der Werkausgabe aufzuklären. Es wäre eine Endlosgeschichte. Renate Gerhardt konnte, als ihr Mann starb, das Erbe nicht antreten, da der Verlag mit 20.000 DM verschuldet war – eine zu der Zeit hohe Summe. Sie war mittellos, Mutter zweier Söhne, stand noch in der Berufsausbildung. Das Erbe fiel an die väterliche Linie. Die beiden Erblinien waren heillos entzweit. So war es, leider! Wer unvermeidlich etwas Einblick darin bekommen hat, welche Tragödien sich in den Generationen des Vaters Justus und des Sohnes Rainer M. Gerhardt zugetragen haben, wird sich vor Schuldzuweisungen hüten.
Der Aufbau dieser Edition ergibt sich aus dem bisher Gesagten. Die Auswahl wird im Anhang näher begründet. Mehr als die Hälfte des in dieser Ausgabe Vorgelegten ist bisher unbekannt, manches wurde erst in jüngster Zeit aufgefunden.
Daß wir nach den Dichtungen (I), den Essays (II), dem Verleger und Übersetzer (III) und dem „Transatlantischen Dialog“ (IV) – also dem eigentlichen Werk – auch überwiegend neue Briefe (V), darunter die persönlichen des 17jährigen von der „Front“ (1944) an „Mutsch“, und das postumo Echo in den „Stimmen“ (VII) dokumentiert haben, lag im Fall dieser Lebens- und Werkgeschichte nahe. Am Ende schien es uns zwingend, nachdem der Briefwechsel Gottfried Benns mit seinem Verleger Max Niedermayer erschienen war, auch das lebensbestimmende, recht dramatische Kapitel „RMG – Benn – Pound“ zu dokumentieren (VI): Auch dies letzte Kapitel wirft noch einmal eine diskussionswürdige Frage auf.
Wie klug, wie gründlich waren die Weichenstellungen der ersten Nachkriegszeit? Es liegt nahe, sich vorzustellen, wie RMG auf die Entwicklungen der kommenden Jahre reagiert hätte, von denen er einiges antizipiert hat: was er von der Anthologie neuer deutscher Gedichte in Walter Höllerers Transit (1956) akzeptiert und zu Hans Magnus Enzensbergers Museum der modernen Poesie (1961) gemeint hätte, zur konkreten Poesie und dem Kreis um Max Bense und Helmut Heißenbüttel, zur Debatte über das lange Gedicht, die Langzeile, geschlossene und offene Form, Rolf Brinkmann und die Seinen, wie er auf die Verabschiedung der Literatur und Kunst zugunsten politischer Umwälzung reagiert hätte.
Das Nachleben seines Werks in Veröffentlichungen ist kaum nennenswert, wenn man von der Edition Helmut Salzingers und Stefan Hyners absieht, deren 200 Exemplare fast vergriffen sein sollen, als der Einspruch wirksam wurde.
Das Nachleben als Echo ist bemerkenswert. Auf RMG hat die erste Garnitur hingewiesen, man mag es in den „Stimmen“ (Kap. VII) nachlesen.
Wer sich in seine Fragmente vertieft, wird von der Lebendigkeit dieses Aufbruchs, von den in ihm gespeicherten Energiewellen berührt werden. „Moderne“ ist hier noch kein kommerzielles Logo und kein politischer Unbedenklichkeitsnachweis, sie ist ihm auch noch nicht das bequeme Mittel, sich ohne weitere Unkosten als der Überlegene zu etablieren. Modernität ist überhaupt nicht das Kriterium. Modernität, der lineare Zeitvorsprung in einer vermeintlich linear voranschreitenden Entwicklung, ist eher eine Professorenhypothese bzw. ein Fetisch als selbst ein ernstzunehmendes Kriterium.
Gerhardts Begriff der Moderne ist mit konkretem Inhalt gefüllt – eine konturierte Herausforderung an die künstlerische Arbeit. Er ließ sich den Begriff etwas kosten. Sein Konzept – war eins. Ob es gültig geblieben ist, ob es zu abrupt war, mag offenbleiben. Aber die Elemente der Moderne, die er hervorhob, sind noch immer unverbraucht und in manchem steinalt. Er hat das Zeug, als Projektionsschirm für so manches zu dienen.
„Ich beklage nicht, daß die antike Kunst so fragmentarisch auf uns gekommen ist“, liest man im Nachlaß Johannes Bobrowskis. „Zwar hätten wir sie auch sonst fortgesetzt mißverstanden, aber ob mit so viel Gewinn, wage ich zu bezweifeln.“
Uwe Pörksen, Nachwort
Mythenbildung und Spekulation sind zwei wesentliche Kennzeichen der nunmehr über ein Halbjahrhundert andauernden Beschäftigung mit dem Werk Rainer Maria Gerhardts. Durch diese Ausgabe, die das veröffentlichte und unveröffentlichte Werk in allen wesentlichen noch erreichbaren Teilen vorlegt, soll eine solide Grundlage geschaffen werden, die neue Anregung, gesicherte Aussagen und Deutungen ermöglicht. Bisher klafft an der Stelle, die Gerhardt in der Geschichte unserer Literatur zukommt, eine Lücke.
Inhalt, Aufbau und Auswahl
Die Ausgabe legt das Hauptwerk vor. Sie ist in sieben Abteilungen gegliedert, die sämtlich das Ziel des Autors dokumentieren, nach den Jahren 1933 bis 1945 der Weltsprache moderner Poesie neue Aufmerksamkeit und ein Echo zu verschaffen.
I. Die Dichtungen Gerhardts sind, von wenigen Gedichten in den privat verteilten Heften blätter für freunde (1948–1950) abgesehen, vertreten durch die von ihm veröffentlichten Bände der tod des hamlet (1950) und umkreisung (1952), weiterhin durch ein partiell für den Druck vorbereitetes Manuskript seegedichte und einige weitere unbekannte Gedichte aus dem Nachlaß. Das ausgeprägt moderne Ein deutsch weihnachtsspiel. Anno domini 1948 ist bisher unveröffentlicht und wird ebenso aufgenommen wie im gleichen Zusammenhang entstandene Prosafragmente, überschrieben Ein kleiner Roman. Frühe konventionelle Liebesgedichte (seit 1944), ein Requiem des 19jährigen für Franklin Delano Roosevelt zum ersten Jahrestag seines Todes, und eine Sammlung Gedichte (1948), die dem Expressionismus I sehr nahestehen und von Gerhardt verworfen wurden, sind nicht berücksichtigt.
II. Essays und Features. Gerhardts programmatische Poetologie deutet sich an in dem Brief an einen Redakteur des Südwestfunks (Oktober 1950) und wird zuerst konturiert erkennbar in der kritischen rundschau (Beilage zu Heft 1 der Revue fragmente), sie wird eindrücklich klar durch die Rundfunksendung die Pisaner gesänge (März 1952) und den Rundfunkessay die maer von der musa nihilistica (November 52), schließlich durch das unveröffentlichte Vorwort zu einer [geplanten] auswahl neuerer gedichte und die Rundfunkbesprechung eines Essaybandes von Curtius (1954). Weitere Rundfunkarbeiten, die für den Schulfunk vorgesehen waren oder Bekanntes schwächer wiederholen, wurden nicht aufgenommen (vgl. Bibliographie).
III. Der Verleger, Zeitschriftenherausgeber und Übersetzer, bei dem Renate Gerhardt immer mitzudenken ist, wird zuerst erkennbar in den seinerzeit hektographiert verteilten Heften fragmente. blätter für freunde (1948-1950). Sein Profil ist dann öffentlich faßbar in der Zeitschrift fragmente. internationale revue für moderne dichtung, die monatlich geplant war, von der aber nur zwei Hefte erschienen, Heft 1, 1951 mit Beilage der kritischen rundschau, Heft 2, 1952. Die von Gerhardt begonnene Schriftenreihe des Verlags ist hier vertreten durch die Übersetzung von Pounds im Pisaner Gefangenenkäfig erarbeiteten Testament des Confucius. Auf die frühe Übersetzung einer Eliotauswahl (1948) und eine für die Schriftenreihe vorgesehene, als Druckfahne vorliegende Übersetzung Artauds (1954) wurde verzichtet (vgl. Bibliographie, nicht aufgenommener Nachlaß).
IV. Die Abteilung Ein transatlantischer Dialog, dessen Bedeutung Peter Härtling 1965 hervorgehoben hat (siehe Kap. VII, „Stimmen“) und der für Gerhardts Begriff vom modernen Gedicht maßgeblich ist, wird dokumentiert durch die poetische Korrespondenz zwischen Gerhardt, Creeley und Olson aus den Jahren 1951 und 1952 sowie Olsons Nachruf Der Tod Europas. Zum Begräbnis von Rainer Maria Gerhardt (1954; dt. Übers. 1961). Einige weitere Zeugnisse belegen die Dimension dieses Dialogs und des Echos auf Gerhardt in den USA. Sie ist in den 1980er Jahren von Helmut Salzinger und Stefan Hyner gründlich und ergiebig recherchiert und in einer Ausgabe von 1988 vorgelegt worden, die sofort Aufmerksamkeit fand, deren Verbreitung aber bald von den Erben Titus und Ezra Gerhardt unterbunden wurde, da die Editoren sich nicht die Nutzungsrechte gesichert hatten. Das ganze Ausmaß dieses Dialogs und speziell des Echos auf Gerhardt in den USA ist nicht Gegenstand dieser Ausgabe, die vorgelegten Zeugnisse (Kap. IV) und Briefe (Kap. V) machen es aber erkennbar. Die Bemühungen von Salzinger und Hyner behalten demgegenüber ihren selbständigen entschiedenen Wert.
V. In der Abteilung Briefe klafft eine Lücke. Briefe von Rainer Maria Gerhardt sind in nicht geringer Zahl erhalten, Briefe und Antworten an ihn fehlen rätselhafterweise fast ganz. Sie müssen im Augenblick als verschollen gelten. In der weiblichen Erblinie, bei Renate Gerhardts Söhnen Titus und Ezra, befindet sich eine umfangreichere Geschäftskorrespondenz, die hier nicht dokumentiert wird. Bei der männlichen Linie, im Nachlaß von Rainer Gerhardts Mutter Margarete Bente, ihrem Ehemann Walter Bente und dessen Nachfolger Bernd Kirsch, finden sich Briefe Rainer Maria Gerhardts an seine Mutter seit 1944. Herr Kirsch, Schwiegersohn und amtlich bestellter Betreuer von Frau Hildegard Künzel, der Lebensgefährtin und Alleinerbin Walter Bentes, hat sie freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Es sind sehr sprechende persönliche Dokumente darunter, die hier erstmals erscheinen, zusammen mit Briefen Gerhardts an die Künstlerfreunde Helmut Bischoff und Erwin Steitz und an literarische Gesprächspartner von Alfred Andersch bis zu Arno Schmidt.
VI. Das Kapitel Dokumentation bietet als selbständige Einheit in chronologischer Folge den Briefwechsel, der Gerhardts Scheitern als Poundübersetzer und sein Verhältnis zu Gottfried Benn und dessen Verleger Max Niedermayer betrifft, da es sich hier um zwei zentrale, einschneidende Themen seiner Autorenbiographie handelt. Vor allem lassen sie den von Benn unterschiedenen Begriff der „Moderne“ und Gerhardts seinerzeit Anlaß erregende, bemerkenswerte Auffassung vom Übersetzen erkennen.
VII. Die Abteilung Stimmen zeigt abschließend, über das unter den Kapiteln IV und V zu Findende hinaus, das beachtliche Echo auf RMG von 1950 bis in die 90er Jahre.
Textgrundlage
Textbasis dieser Ausgabe sind zunächst die Publikationen des Verlegers Gerhardt; eine weitere Quelle sind Typoskripte, die sich in Rundfunkarchiven erhalten haben (vgl. Bibliographie, nicht aufgenommener Nachlaß).
In den Nachlässen der weiblichen und der männlichen Erblinie fanden sich keine über das aus anderen Quellen Bekannte hinausgehende Veröffentlichungen oder Manuskripte, dagegen wertvolles Bildmaterial und Briefe Gerhardts an die Mutter (Nachlaß Bente-Kirsch).
Eine umfassende Quelle ist die Sammlung veröffentlichter Texte und unveröffentlichter Typoskripte, von Briefen, einiger Bilddokumente, Stimmen zu RMG, die Fritz Werner seit 1948 angelegt hat und die sich als Teil seines nachgelassenen Gottfried-Benn-Archivs im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet. Die Gerhardts haben Werner als einem Bewunderer, Freund und Mentor von Anfang an Manuskripte und publiziertes gewidmet bzw. gesandt, und er hat bis zu seinem Tode 1996 weitergesammelt, Fragen Interessierter beantwortet, versucht, Rainer Maria Gerhardt ins Gespräch zu bringen, und sich um eine Werkausgabe bemüht. Er hat dem Herausgeber dieser Edition vor 20 Jahren geschenkt, was er an Originalen doppelt besaß, den Rest des Werkes in Kopie, und hat auch diese Werkausgabe angeregt (vgl. Fritz Werner 1992, S. 201).
Die Texte lassen teilweise den Manuskriptcharakter der Vorlagen erkennen. Offensichtliche Rechtschreibfehler wurden stillschweigend verbessert; Ergänzungen und Hinzufügungen der Herausgeber stehen in eckigen Klammern; unleserliche und undeutliche Stellen werden mit [???] gekennzeichnet.
Zur Geschichte der Ausgabe
Bereits 1955/56 scheiterte ein Versuch Helmut Heißenbüttels, im Claassen Verlag eine Werkauswahl herauszubringen (vgl. „Stimmen“).
1959 wollte Klaus Bremer im Neske Verlag (Pfullingen) einen Band mit Arbeiten RMGs herausgeben:
Sie wissen also, daß er den Auftrag von Neske hat, einen Band mit Rainers Arbeiten zusammenzustellen. Er hat Material, ich weiss nicht was, und erwartete von mir Zusätzliches. Ich habe ihm klargelegt, was ich Ihnen versprochen habe und welche Gründe mich hindern, ihm solches herauszugeben. Er ist mit Neske übereingekommen, auch mit dem wenigen, was er besitzt, einen Band zusammenzustellen. Eigentlich schade. Ich möchte aber sehr gern, dass Sie meine Meinung dazu wissen:
Ich halte mich an mein Versprechen nichts ohne Ihre Zustimmung herauszugeben. Sie können sicher sein, dass alles, was ich besitze, allein zu Ihrer Verfügung steht und nur mit Ihrer schriftlichen Zustimmung an Dritte weitergegeben wird.
(Fritz Werner an Renate Gerhardt, 2.2.1959)
Die Ausgabe kommt nicht zustande.
1964 schickt Fritz Werner sein gesamtes Material an Renate Gerhardt, da diese es zu einer Ausgabe benötigt:
Es ist natürlich ganz selbstverständlich, dass ich Sie in Ihrem Plan, Rainers Arbeiten herauszugeben, mit meinem Material voll und ganz unterstütze.
Ich habe hier alles ausgesucht, was ich zusammenfinden konnte und bin nur darüber überrascht, dass ich bis auf einen keine Briefe Rainers finde. Wir haben nicht viele Briefe gewechselt, aber bestimmt mehr als einen, und dass ich bei meinem Suchen mehr Briefe Bremers und Enzensbergers aus dieser Zeit gefunden habe, finde ich doch etwas seltsam. Vielleicht habe ich sie irgendwohin gesondert gepackt, aber bei meinem Platzmangel in der Miniaturwohnung ist es sehr fraglich, ob ich in absehbarer Zeit noch etwas finde.
(Fritz Werner an Renate Gerhardt, 19.7.1964)
Die Ausgabe kommt nicht zustande.
1972 erneuter Versuch Renate Gerhardts:
Ich habe mich nämlich daran gemacht, nicht nur rainers texte zu edieren, sondern versuche, so eine art kleine monografie über unsere ganze arbeit, seine literarische diskussion mit unseren Freunden, seine aktivitäten und pläne und gespräche auf dem gebiet der bildenden kunst etc zusammenzustellen. Es will mir scheinen, dass das einen sinn hat, denn schliesslich liefen damals eine unzahl von Fäden auf unserem schreibtisch zusammen.
(Renate Gerhardt an Fritz Werner, 17.2.1972)
Die Ausgabe kommt nicht zustande.
1988 Versuch Uwe Pörksens:
In Freiburg ist im vergangenen Jahr der Wunsch entstanden, an Rainer Maria Gerhardt zu erinnern. Der Buchhändler Fritz Werner hat mir oft von Gerhardt und seinem Kreis erzählt und mir die wohl vollständigste Sammlung aller seiner Veröffentlichungen ausgehändigt, so daß ich Gerhardts Werk gründlich kennen lernen konnte. Ich bin sehr beeindruckt. […]
Der Leiter des Freiburger Kulturamts, Herr Dr. Ludwig Krapf, ein in Dingen der Literatur beschlagener und aufgeschlossener Mann, wäre sehr gern bereit, für eine Unterstützung durch die Stadt Freiburg zu sorgen, wenn der Plan einer Sammlung und Veröffentlichung von Arbeiten Gerhardts und vielleicht auch der einer Ausstellung konkrete Gestalt annimmt.
Bevor wir diesen Plan aber weiter voran treiben, wollte ich mich in diesem Vorstadium gerne an Sie wenden. Vielleicht gibt es an anderer Stelle ähnliche Pläne? Vielleicht haben Sie eine schon fertig vorbereitete Auswahl zur Hand? – Robert Creeley, der im vergangenen Jahr in Freiburg gelesen hat und überwiegend von Gerhardt gesprochen hat, wäre offenbar gern bereit, zu einer Ausgabe etwas beizusteuern.
(Uwe Pörksen an Renate Gerhardt, 30.5.1988)
In einem weiteren Brief vom 22.6.1988 heißt es:
Sehr geehrte Frau Gerhardt,
ob es möglich sein wird, Sie am 2. oder 3. Juli in Berlin zu treffen? – Ich möchte Ihnen auf keine Weise durch diesen Wunsch zur Last fallen; aber es ist mir so, als könnte von der Arbeit und dem Werk Ihres Mannes im Augenblick noch einmal eine neue Wirkung ausgehen und als gäbe es in diesem oder, eher, im nächsten Jahr hier bei uns eine verhältnismäßig leichte Möglichkeit, ein Gerhardt-Buch herauszubringen. Vor kurzem traf ich den Maler Bischoff zusammen mit dem 80jährigen rüstigen Fritz Werner auf einer Vernissage. Beide wären sehr froh über eine solche Veröffentlichung. Auf Umwegen hatte Herr Werner gehört, Sie könnten zustimmen, wenn er der Herausgeber wäre. Nichts wäre ja, wenn wir an einen Freiburger denken, passender. Er wehrte ab, aus Bescheidenheit, im Gedanken an sein Alter. Ich sagte, ich fände die Idee vorzüglich und könne assistieren.
Noch fußen wir auf Gerüchten. Vielleicht darf ich Sie doch demnächst einmal anrufen, um einen eventuellen Gesprächstermin zu vereinbaren?
Freundliche Grüße aus Freiburg,
Ihr Uwe Pörksen
Die Ausgabe kommt nicht zustande.
Im Sommer 1988 erschien, unabhängig von diesem Versuch und ohne Einverständnis der Familie Gerhardt, die oben erwähnte, weitgehend zweisprachige Dokumentation jenes ersten transatlantischen Dialogs in vier Heften unter der Herausgeberschaft von Stefan Hyner und Helmut Salzinger: Leben wir ein wenig weiter. Über das Nachleben des Dichters Rainer Maria Gerhardt (Edition Heard Farm, Falk 9). Sie wurde unterbunden. Im Jahr 1995 erschien eine Dissertation unter dem Titel „… zugeritten in manchen sprachen…“ Über Werk und Wirkung des Dichters und Vermittlers Rainer Maria Gerhardt. Ihr Verfasser, Franz Josef Knape, hatte 1964 begonnen, auf eigene Faust das Werk Gerhardts zusammenzutragen. Seine weitgefächerte Darstellung verband die wissenschaftliche Analyse mit ausgiebigen Zitaten, so daß wichtige Splitter und Elemente des Werks nun wieder zugänglich wurden.
Im Jahr 2002 unternahm Uwe Pörksen einen zweiten Versuch, die Werkausgabe auf den Weg zu bringen. Im Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn, erschien sein Essay „… wenn einer dafür lebt, was Dichtung ist…“. Rainer Maria Gerhardts Freiburger Fragmente. Die Publikationskommission der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, unter ihnen Wulf Kirsten und Friedrich Pfäfflin, Klaus Reichert und Peter Hamm, nahm die Anregung, die Werkausgabe Gerhardt zu ermöglichen, lebhaft auf. Es kam zu Gesprächen mit Renate Gerhardt. Im Oktober 2004 teilte sie und ihre Söhne Titus und Ezra der Deutschen Akademie Für Sprache und Dichtung schriftlich ihre Zustimmung zu diesem Editionsprojekt mit. Bei einem privaten Symposion in Freiburg am 10./11. Februar 2006 wiederholte Frau Gerhardt, im Verein mit ihren Söhnen ihre Zustimmung zu der inzwischen im Detail geplanten Anlage und dem in Aussicht genommenen Erscheinungstermin. Ein grundsätzliches Einverständnis von Herrn Bente lag bereits vor, und Herr Bernd Kirsch stimmte zu.
Der Ausgabe ist eine Zeittafel beigegeben, die mit einigen über Gerhardt verbreiteten Legenden aufräumt, und ein Verzeichnis des großen Personenkreises, dessen Fäden in der Stadtstraße 7 zusammenliefen.
Nun – 53 Jahre nach seinem Tod – kann zu seinem 80. Geburtstag diese Werkausgabe vorgelegt werden.
war einer der Vorreiter, als es darum ging, der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Orientierung zu geben. Der fragmente-Verlag, den er zusammen mit seiner Frau Renate und mit Claus Bremer gründete, verfolgte ein schwindelerregend ambitioniertes Programm. In der internationalen Revue für moderne Dichtung: fragmente publizierte Gerhardt Werke u.a. von Artaud, Miller, Creeley, Olson und Pound. Gerhardts eigene Dichtungen sind an dieser Moderne geschult. Seine ungeglätteten Pound-Übertragungen verunsicherten damals und ließen den Übersetzer trotz Pounds Autorisierung auf der Suche nach einem deutschen Verleger scheitern.
Anerkennung oder ein nennenswertes Echo auf Gerhardts literarisches Programm, an das später andere erfolgreich anknüpften, blieben aus. Mit 27 Jahren wählte Gerhardt, finanziell ruiniert und literarisch isoliert, den Freitod.
Die Ausgabe enthält Gerhardts Werke, dokumentiert sein verlegerisches Wirken und wird durch Briefe und Stimmen über ihn ergänzt.
Wallstein Verlag, Klappentext, 2007
− Rainer Maria Gerhardt erstmals in einer Gesamtausgabe. –
Arno Schmidt, bekennender Atheist, hat ihm dies ins Stammbuch geschrieben: „Rainer M. Gerhardt, bitt für uns!“ Der Dichter und Verleger Rainer Maria Gerhardt, der 1954 im Alter von siebenundzwanzig Jahren aus dem Leben schied, war tatsächlich so etwas wie ein Heiliger der Literatur. Um ihr zu dienen und um seine Zeitschrift fragmente zu finanzieren, führte er ein Leben in Armut und voller Verzicht. Er hatte eine Vision und scheiterte erbarmungswürdig. Er suchte das neue Lied, doch im Ton seiner Meister. Er fand keine Resonanz und blieb dennoch unvergessen. Denn endlich, zur achtzigsten Wiederkehr seines Geburtstags, ist eine Werkausgabe erschienen, nach jahrelangen Bemühungen und im siebten Anlauf.
Rainer M. Gerhardt war eine Legende. Doch er hatte kein Nachleben. Jedenfalls nicht in Deutschland, erstaunlicherweise aber in Amerika. Noch zehn Jahre nach seinem Tod erschien dort eine Hommage der Lyrikerfreunde auf ihn. Einem von ihnen verdanken wir auch die ergreifende Schilderung seiner Lebensumstände. Robert Creeley, der Gerhardt 1950 in Freiburg besuchte, rühmte dessen „eigenartige Konzentration, hartnäckig, oftmals enthusiastisch“. Er schilderte die Lage:
Sie wohnten in Freiburg in einem einzigen Zimmer, Rainer, seine Frau und die beiden Kinder. Sie überließen uns ihr Bett und schliefen auf dem Boden.
Manchmal, so berichten andere Zeitzeugen, hatten die Gerhardts kein Geld, um das Papier für ihre Zeitschrift zu bezahlen oder um Briefe und Manuskripte zu verschicken. Im Winter, wenn es am Geld für Heizung mangelte, lagen sie auch tagsüber zeitweise im Bett. Als die Schulden allzu sehr drückten und die Wohnung aufgegeben werden musste, zelteten sie im Sommer 1952 bis November am Rhein oder auf einem Karlsruher Zeltplatz. Dennoch erschienen die fragmente und Bücher weiter, wuchsen freilich auch die Schulden. Zwar fand man wieder eine Wohnung, zwar bemühte Gerhardt sich im Frühjahr 1954 hektisch um verschiedene Tätigkeiten (etwa als Volontär am Berliner Ensemble) oder um die Auswanderung nach Amerika; doch der Lebenselan war aufgebraucht. Am 27. Juli 1954 wählte Gerhardt den Freitod. Es gab kaum Nachrufe, immerhin einen von Alfred Andersch in dieser Zeitung. Die Erschütterung unter den amerikanischen Freunden war groß. Charles Olson schrieb einen Monat nach Gerhardts Tod sein langes Begräbnisgedicht „The Death of Europe“. Er rühmt Gerhardt darin als den Ersten in Europa, mit dem er sprechen konnte, und bringt dessen Bedeutung auf den Punkt, wenn er feststellt, „wie sehr Du uns allen Gehör verschafftest / in Deutschland“.
Bedenkt man die damaligen Verhältnisse, ist das nicht zu viel gesagt. Gerhardt proklamierte nicht bloß Montagestil, Active writing und das Poème collectif, er brachte in den fragmenten bereits 1951 und 1952 die Amerikaner W.C. Williams, Creeley und Olson, aber auch Ezra Pound. Dazu Alberti, Cesaire, Michaux und Saint-John Perse – frühe Rezeptionen der internationalen Moderne. Zehn Jahre später war die Situation reif. Hans Magnus Enzensberger publizierte sein Museum der modernen Poesie und Walter Höllerer die Anthologie Junge amerikanische Lyrik. Höllerer eröffnete sie mit Olsons Requiem auf Gerhardt. Doch der Dichter Gerhardt, der noch in Höllerers Transit figurierte, verschwand aus den Anthologien. Von dem Übersetzer war überhaupt nicht mehr die Rede. Dessen Hauptprojekt, die Übertragung Ezra Pounds, war in Ansätzen steckengeblieben. Dabei war Gerhardt einer der Ersten in Deutschland, die Pounds Modernität erkannten. Autorisiert von Pound und unterstützt von seiner Frau Renate, hatte Gerhardt wichtige Einzelgedichte und Teile der Pisaner Gesänge übertragen.
Dass aus dem Projekt nichts wurde, ist eine lange, traurige Geschichte. Lieber anmaßend als bescheiden, belehrte Gerhardt seine Briefpartner, von denen er sich etwas erhoffte. Vor allem weigerte er sich, die Regeln des literarischen Marktes zu akzeptieren. Dabei waren zunächst alle Beteiligten guten Willens, allen voran Benns Verleger Max Niedermayer. Doch Gerhardts Agieren zwischen Belehrung und Unzuverlässigkeit ließ ihn resignieren. Streit um Vorschusszahlungen kam hinzu. Auch der anfangs freundlich geneigte Benn hatte für ihn zuletzt gar nichts mehr übrig – Gerhardt hatte es an der Zeit gefunden, „etwas am throne Benns zu rütteln“, und Benn, zusätzlich verärgert, weil man sich am Titel des eigenen Bandes Fragmente stieß, hatte in seiner berühmten Marburger Rede zurückgeschlagen.
So kam an ein Ende, was geradezu glorios begonnen hatte. Der Romanist Ernst Robert Curtius hatte 1951 in der Zürcher Tat seinen geradezu enthusiastischen Hinweis auf Gerhardts fragmente mit dem Lob gekrönt, seit der Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus sei ihm keine so erfrischende modernistische Manifestation vorgekommen.
Vielleicht war gerade dieser Vorschuss verderblich, denn Curtius hatte mit einem Nietzsche-Zitat die deutschen Literaturkritiker mit stillgestellten quakenden Fröschen verglichen. Das ließ Friedrich Sieburg, der damalige deutsche Literaturpapst, nicht auf sich sitzen, und auch Gerhardt bekam seine gallige Ironie zu spüren. Drei Jahre später, im Januar von Gerhardts letztem Jahr, kartete ein jüngerer Kritiker nach. Er sah in Gerhardts Gedichtband umkreisung einen „Avantgardismus nach rückwärts“, eine „Übung am Phantom“. Damit war ein Werk getroffen, das eben erst begonnen hatte. Zwei Lyrikbändchen, in Miniauflagen erschienen – das war allenfalls ein Versprechen. „immer noch dürsten in wäldern gestirne nach ihrer erlösung“, heißt es kosmisch-euphorisch in „der tod hamlets“. Selbst ein Freund und Förderer wie der Freiburger Buchhändler Fritz Werner meinte Epigonie konstatieren zu müssen: „Eliot + Perse + Pound + etwas französischer Surrealismus.“ Und Olson, dem Gerhardt ein im Stile Pounds geschriebenes Gedicht geschickt hatte, wusch dem „jüngst gekommenen Bärensohn“ den Kopf mit den Zeilen:
Die aufgabe, Gerhardt,
ist genau zu sein, gleich
von anfang an.
Diese Genauigkeit hat am ehesten der Übersetzer Gerhardt geleistet.
Uwe Pörksen, dem wir diese Werkausgabe verdanken, hat es verstanden, die Hemmnisse und Widerstände auf Seiten der Erben aufzulösen: „eine Endlosgeschichte“. Sein Nachwort zeichnet sympathetisch ein umfassendes Bild des Dichters und Übersetzers Gerhardt und resümiert:
Vielleicht ist er als poetologischer Programmatiker am bedeutendsten.
Die Ausgabe gibt uns Einblick in die Werkstatt eines genialischen jungen Mannes und in die literarische Situation der jungen Bundesrepublik. Auch die Verluste gehören zu unserem Erbe. Oder, mit einem Briefzitat von W.C. Williams:
Wir sehen die Teile, aber wir antizipieren das Ganze.
− Fünfzig Jahre nach Rainer Maria Gerhardts Tod erscheint eine Gesamtausgabe seiner Dichtungen. −
Er gehörte zu den leidenschaftlichen und kompromisslosen Dichtern, denen auf Erden nicht zu helfen war. „Dichtung ist heute ein lebensgefährliches Beginnen“, hatte er 1951 in einem seiner visionären Poesie-Manifeste verkündet. Dass dieser Satz wörtlich zu nehmen war, zeigte sich drei Jahre später. Der gerade 27-jährige Rainer Maria Gerhardt, der genialische Kopf einer jungen Künstlergruppe aus Freiburg im Breisgau, sah keinen Ausweg mehr und entschied sich am 27. Juli 1954 für den Freitod. Sechs Jahre lang hatte er für seine Utopie von moderner Dichtung seine ganze Existenz aufs Spiel gesetzt. Für den Traum einer Zeitschriften- und Verlagsgründung hatte er sich hoffnungslos verschuldet. Zuletzt lebte er mit seiner Familie, seiner Ehefrau Renate und seinen Söhnen Titus und Ezra, unterhalb der Armutsgrenze.
Auf Distanz zu Gottfried Benn
Sein Unternehmen war gewaltig: Im Alleingang wollte er die in idyllisierender Geschichtsferne verkrochene deutsche Nachkriegslyrik revitalisieren, indem er ihr die Energien der angloamerikanischen Moderne zuführte. Um 1950 regierten in der Nachkriegspoesie noch die „Bewisperer von Gräsern und Nüssen“, wie Gottfried Benn spottete, Dichter, die sich in eine heile, naturfromme Welt und in die Requisitenkammer der Mythologie flüchteten. Mit dieser harmlosen Poesie aus dem Blumentopf wollte Gerhardt nichts zu tun haben. Aber auch den damals so dominanten Gottfried Benn betrachtete er mit einigem Misstrauen. Zwar hatte Benn in seinem epochalen Essay „Doppelleben“, in dem er den „Stil der Zukunft“ skizzierte, noch voller Respekt die Bemühungen des „Freiburger Kreises“ um Gerhardt erwähnt. Zwar gab es auch gemeinsame ästhetische Obsessionen, etwa den „Montagestil“, den Benn wie Gerhardt gleichermassen enthusiastisch anpriesen. Aber bald kam es zu Animositäten, als sich Gerhardt eine Majestätsbeleidigung leistete, indem er Benn der „sentimentalen Rückgriffe“ bezichtigte.
Rainer Maria Gerhardt, 1927 in Karlsruhe geboren, stammte aus einer Künstlerfamilie. Im Januar 1948 trat er erstmals mit einer Gruppe junger Dichter, Maler und Musiker in einem Hörsaal der Freiburger Universität auf. Danach ging alles sehr schnell. Mit der Unbeirrbarkeit eines von seiner Mission überzeugten Propheten machte sich Gerhardt daran, die kulturell unterversorgten Nachkriegsdeutschen mit seinem kühnen poetischen Programm zu konfrontieren. Und dieses Programm hatte zwei Götter: Ezra Pound und Arno Schmidt. Gemeinsam mit seiner Frau Renate stürzte sich Rainer Maria Gerhardt als erster deutscher Pound-Übersetzer auf dessen Hauptwerk, die Cantos. In der Auseinandersetzung um diese eigenwillig-spröden Übertragungen, von Benn als „saumäßig“ disqualifiziert, kam es bald zum Zerwürfnis mit Benn und dem Limes-Verleger Max Niedermayer, dem Gerhardt die Übersetzungen angeboten hatte.
Zuvor hatte Gerhardt noch ein weiteres Tor zur lyrischen Moderne hin geöffnet. Im Dezember 1950 begann er seinen „transatlantischen Dialog“ mit den amerikanischen Poeten Charles Olson und Robert Creely – ein Projekt mit Langzeitwirkung. Die aus dieser freundschaftlichen Verbindung entstandenen Korrespondenzen haben tiefe Spuren in der amerikanischen Literaturgeschichte hinterlassen. Eine Zeitlang plante Gerhardt sogar, von Südfrankreich aus, dem damaligen Wohnsitz Creeleys, sein Projekt einer Modernisierung der Lyrik fortzuführen. Aber das scheiterte ebenso wie all seine Versuche, seine Zeitschrift Fragmente als neue „Revue für internationale Dichtung“ zu etablieren. Bereits 1952 mussten die Gerhardts ihre Wohnung aufgeben und waren über viele Monate auf ein Nomadendasein im Zelt angewiesen.
Nach seinem Tod im Juli 1954 geriet Gerhardts Werk in die Mühlen von Erbstreitigkeiten – und sank dann ins Vergessen. Sechsmal scheiterte der Versuch einer Werkausgabe, meist an der Zögerlichkeit der Erben. Als dann 1988 der Öko-Poet Helmut Salzinger gemeinsam mit Stefan Hyner eigenmächtig nicht nur einen Reprint von Gerhardts Werken vorlegte, sondern auch die Wirkungsgeschichte Gerhardts in Amerika dokumentierte, wurde die Ausgabe von den Gerhardt-Söhnen juristisch gestoppt. Es dauerte dann nochmal sechzehn Jahre, bis der Freiburger Sprachwissenschafter Uwe Pörksen die Gerhardt-Erben für sein Editionsvorhaben zu gewinnen vermochte.
Spektakuläre Ausgabe
Es sind aufregende Dokumente, die nun Uwe Pörksen in dieser kundig kommentierten Werkausgabe zusammengetragen hat. Zum ersten Mal werden nicht nur die Gedichte und Funk-Essays Gerhardts vollständig ediert, sondern auch die fordernden, zunehmend schroffen Briefe, mit denen der selbstbewusste Dichter den Rest der literarischen Welt von seiner Mission überzeugen wollte. Nach der Lektüre dieser Briefe ist kaum mehr von der Hand zu weisen, dass sich Benn den Titel für seinen 1951 publizierten Gedichtband Fragmente doch ziemlich unbekümmert von Gerhardts Zeitschrift geborgt hat. Die jetzt endlich vollendete Werkausgabe des tragischen Dichters Rainer Maria Gerhardt ist spektakulär: Denn es müssen einige Linien in der Literaturgeschichte der Nachkriegszeit neu gezogen werden.
Michael Braun: Dichtung – ein lebensgefährliches Beginnen
poetenladen.de, 24.10.2007
Reiner Niehoff: Hamlet / Artaud
literaturkritik.de, Juni 2007
Im Jahr 1952 lernte Enzensberger in Freiburg den Buchhändler Fritz Werner kennen, der seine Gedichte mit dem ersten Preis eines Lyrikwettbewerbs im Studium Generale auszeichnete und den Kontakt zu dem knapp drei Jahre älteren Dichter, Übersetzer und Verleger Rainer Maria Gerhardt herstellte.1 Gerhardt, der seit 1947 in Freiburg lebte und die Universität als Gasthörer besuchte, gab ab 1949 die Zeitschrift fragmente sowie eine gleichnamige Schriftenreihe heraus. In seiner Wohnung trafen sich regelmäßig Künstler und Schriftsteller wie Claus Bremer,2 der später als Vertreter der Konkreten Poesie bekannt werden sollte. Gottfried Benn sah in Gerhardts „Freiburger Kreis“ eine Hoffnung für die zukünftige Dichtung.3 Der einflussreiche Kritiker Hans Egon Holthusen diffamierte ihn hingegen als „Klub literarischer Sektierer“4 und positionierte sich damit ausdrücklich gegen jüngere Autoren, die sich in ein affirmatives Verhältnis zu den historischen Avantgarden setzten.
Gerhardt besaß hervorragende Kenntnisse der internationalen Moderne und Kontakte zu Dichtern wie Hans Arp und William Carlos Williams. Beeinflusst war er maßgeblich durch Benn, mit dem er in Briefkontakt stand. Benn hatte 1951 in seinem vielbeachteten Vortrag Probleme der Lyrik eine Genealogie der modernen Poesie formuliert und zentrale Dichter nicht nur aus dem germano-, sondern auch franko- und anglophonen Raum ins Gedächtnis gerufen.5 Gerhardt folgte dem Programm einer Revitalisierung der Moderne konsequent, indem er, wie Alfred Andersch formulierte, „die Dichtung, und zwar die anspruchsvollste und schwierigste Dichtung der Moderne aller Länder, ins Zentrum des geistigen Lebens“6 rücken wollte. Dem Dichter Ezra Pound stand Gerhardt so nahe, dass er seinen zweiten Sohn nach diesem benannte – und Pound die Patenschaft übernahm.7 Gerhardt verstand sich als Pounds offizieller deutscher Übersetzer, doch ein im Limes Verlag geplantes Pound-Buch scheiterte nach einem Konflikt mit Benn und dem Verleger Max Niedermayer. Auch sein eigenes, ambitioniertes, aber „zuletzt ganz unrealistisches“8 verlegerisches Planen konnte Gerhardt nicht umsetzen.
Auf Grund wirtschaftlichen Misserfolgs und persönlicher Probleme nahm er sich 1954, im Alter von 27 Jahren, das Leben.
Enzensberger traf sich nach Werners Vermittlung zunächst persönlich mit Gerhardt und Bremer, die sich „einander ihre Gedichte“9 vorlasen. Bald darauf – der hoch verschuldete Gerhardt war nach dem Verlust der Freiburger Wohnung inzwischen mit seiner Familie nach Karlsruhe gezogen und lebte dort später in einem Zelt10 – entwickelte sich eine Korrespondenz, die über hochfliegende Pläne Auskunft gibt. Enzensberger schickte Gerhardt eigene Texte, worauf dieser mit der Zusage, die Gedichte „landstützer“, „aschermitttwoch“ und „il finir“ in seiner Anthologie sechs neue deutsche dichter drucken zu wollen, antwortete.11 Er bat um weitere Manuskripte und äußerte den Wunsch, Texte in seine Zeitschrift fragmente sowie eine geplante dreisprachige „grosse anthologie neuer deutscher dichtung“12 aufzunehmen. Darüber hinaus teilte er Enzensberger mit, dass er in einem Artikel für die französische Zeitschrift Mercure de France auf ihn hingewiesen habe.
Ein umfassendes Lektorat bot Gerhardt nicht. Er machte aber einen weitreichenden Vorschlag, indem er die Gedichte in Minuskeln setzte und Enzensberger fragte, „ob Ihnen die kleinschreibung angenehm ist (nach grimm, nicht nach george)“.13 Diese konsequente Kleinschreibung, die Gerhardt anregte, behielt Enzensberger für viele Jahre bei und wurde geradezu zu seinem Markenzeichen.14
Mit größtem Einsatz entwickelte der junge Verleger gleich zu Beginn der Bekanntschaft gemeinsame Vorhaben. So kam es zur Vereinbarung einer Publikation mit Übersetzungen des chilenischen Dichters Pablo Neruda, die ca. 40 Seiten umfassen sollte.15 Und auch ein erster Gedichtband von Enzensberger selbst war vorgesehen:
Ich habe schon einen gedichtband angezeigt, ich hoffe auf keine enttäusch[un]g.16
Enzensberger wiederum schickte Gerhardt nicht nur eigene Texte, sondern brachte seinen französischen Freund Pillaudin als Autor ins Gespräch. Gerhardt reagierte darauf mit Interesse und bat um weitere Anregungen.17 Es waren große Erwartungen, die der junge Verleger im jungen Autor weckte. Doch schon bald sah sich Enzensberger zu Zweifeln über die tatsächliche Produktion des Verlags veranlasst. Gerhardt bemühte sich, die Dinge ins rechte Licht zu rücken:
ich weiss nicht, was herr[] Werner in Freiburg Ihnen von uns erzählte. aber ich wiederhole: mein verlag war kein geschäftsunternehmen und ist bis heute noch keines […] meine frau geht ins büro und ich arbeite für den funk: zum leben für meine kinder und familie das spärlichste, alles andere wird für druck, papier und klischees ausgegeben […] darum meine misere mit produktionsterminen, und darum mein versagen Ihrem hilferuf gegenüber.18
Trotz seiner schwierigen finanziellen Situation hielt Gerhardt an seinen Plänen fest und teilte Enzensberger mit, für die Neruda-Publikation einen günstigen Drucker in Leipzig gefunden zu haben. Bereits in rund vier Wochen, am 1. Februar 1954, könnten 5.000 Exemplare in der DDR und 1.000 Exemplare in der BRD erscheinen. Gleichzeitig räumte Gerhardt ein, dass Enzensberger ein besseres Angebot annehmen sollte, falls ihm ein solches vorläge. Er versprach, so schnell wie möglich Geld zu schicken und seine Rundfunkkontakte zu nutzen, um Manuskripte weiterzuleiten.19 Damit reagierte er auf die Skepsis gegenüber dem Kleinverlag. Enzensberger war auf der Suche nach einem Verlag, der ,richtige‘ Bücher und nicht nur Hefte herstellen konnte.
Für ihn sei der Buchdruck erfunden, meinte er.20
Bereits in seiner Studienzeit besaß er ein Gespür für das erfolgreiche bzw. misslingende Agieren eines Verlags.
Dennoch lief die Zusammenarbeit, die freundschaftliche Züge annahm, zunächst weiter. Noch am 15. Juli 1954 sicherte Gerhardt das Erscheinen des Gedichtbandes für den November zu und bat darum, ein Manuskript zusammenzustellen.21 Der Neruda-Band werde „in der nächsten woche in druck gehen, bis zur fertigstellung dauert es dann noch drei monate, aber es geschieht was“.footnote]Vgl. Rainer Maria Gerhardt an Hans Magnus Enzensberger, 15.7.1954, DLA, A: Enzensberger, Hans Magnus[/footnote]
Zwölf Tage später setzte Rainer Maria Gerhardt seinem Leben jedoch selbst ein Ende. Enzensberger korrespondierte weiter mit der Witwe Renate und diskutierte mit ihr die Frage, wie mit dem Erbe umzugehen sei und ob die Produktion an einen größeren Verlag verkauft werden könnte.22 In seinem Band verteidigung der wölfe setzte er dem Frühverstorbenen mit dem Gedicht „tod eines dichters“ ein literarisches Denkmal.23
Für Enzensbergers Eintritt in den Literaturbetrieb spielte Gerhardt eine zentrale Rolle, denn er machte ihn mit wichtigen Werken der internationalen literarischen Moderne vertraut. Wäre sein Lebensprojekt nicht auf so fatale Weise gescheitert, dann hätte sein Verlag womöglich zwei erste Enzensberger-Titel herausgebracht : das Lyrikdebüt und die Neruda-Übersetzung. Enzensberger wäre in Übersetzung gedruckt und damit sogleich einem französisch- und englischsprachigen Publikum zugänglich gemacht worden. Als Scout hätte er neue Autoren ins Verlagsprogramm einbringen können. In der nur wenige Monate umfassenden, dann abrupt endenden Korrespondenz, in diesem Konjunktiv, fächert sich bereits das Spektrum seiner späteren Verlagsautorschaft bei Suhrkamp auf. Dort sollte er fortführen, was hier seinen Anfang nahm: Bei Suhrkamp erschienen das Debüt und die internationale Anthologie Museum der modernen Poesie; seine Neruda-Übersetzungen bildeten den ersten Gegenstand der Verlagskorrespondenz. Aber noch war es nicht so weit.
Tobias Amslinger: Verlagsautorschaft – Enzensberger und Suhrkamp, Wallstein Verlag, 2018
Ich fühlte mich diesem Mann sehr nahe – auf eine egoistische Weise, weil er mir Wissen über eine Welt vermittelte, die ich sonst nicht hätte kennen lernen können. Wir waren gleich alt, aber das Leben, das ihm gegeben worden war, war weit entfernt von dem, das ich kannte. Wenn er von seinem Aufwachsen in der Hitler-Jugend sprach, von der schließlichen Verwirrung seiner Gefühle, nachdem er in die Armee eingezogen wurde, und dem erspürten Ausweg – dann von seiner Fahnenflucht, nach der er sich Titos Truppen in Jugoslawien anschloß – schließlich von der ganzen Welt des Chaos nach dem Krieg, von seiner Heirat und seinen zwei jungen Söhnen, die täglich durch Straßen mit zusammengestürzten Gebäuden gehen mußten, durch deren Schutt sich schon Büsche drängten, – von den Hoffnungen auf eine Zeitschrift, später auf kleine Bücher, von der ersten Ausgabe der fragmente, die Ernst Robert Curtius als das hoffnungsvollste Zeichen, das aus Nachkriegsdeutschland kam, bezeichnete – wenn man die Komplexität seines Lebens betrachtete, gab es keinen einfachen Weg, alles, was er tat, gut zuende zu bringen, in seiner eigenen Person, das mußte man sehen.
Ich erinnere mich sehr deutlich an ihn, nicht groß, etwas untersetzt, dunkelhaarig, seine Haut etwas schwer durch die ganze Stärke, aus der die alltägliche Kost bestand – oder noch deutlicher: die eigenartige Konzentration, hartnäckig, oftmals enthusiastisch, aber niemals nur eine Laune oder eine vorübergehende Aufgeregtheit. Er war so sorgfältig mit allem – so auch im Umgang mit mir, als ich ihn mit einem Freund, Ashley Bryan, besuchte. Sie wohnten in Freiburg in einem einzigen Zimmer, Rainer, seine Frau und die beiden Kinder. Sie überließen uns ihr Bett und schliefen auf dem Boden. Ich trug damals ein Paar alte, abgewetzte Armeestiefel, und am nächsten Morgen hatte Rainers Frau sie auf Hochglanz poliert. Danach kam Rainer mit mir und Ashley über Paris zurück nach Aix-en-Provence, wo wir in der Nähe in einer kleinen Stadt namens Fontrousse lebten. Er blieb dort für eine Woche bei uns, und er hatte die Hoffnung, daß er und seine Familie nach Frankreich emigrieren könnten. Sie haben es niemals geschafft. Ich erinnere mich an den Tag, bevor er uns verlassen sollte, ich war gerade herunter gekommen, es war Morgen, und er stand da, sah aus einem Fenster in der Tür auf die Längsseite des Mt. St. Victoire, der gegenüber von unserem Haus hinter den Feldern lag. Er weinte lautlos, man konnte die Tränen auf seinem Gesicht sehen.
Er sprach mit mir über das, was er als die Gemeinschaft wahrnahm, als den Verbund von Menschen, den irgendein Ort oder eine Stadt umfaßt. Er fühlte, daß ein Schriftsteller nicht von einer solchen Einheit ausgenommen war, sondern daß er ihr eher, im wahrsten Sinne des Wortes, zu ihrer Definition verhalf. Im Gegensatz dazu fühlte er eine Isolation bei den Amerikanern, die ihn befremdete.
Er hoffte so viel zu tun, was am einfachsten anhand einer unvollständigen Liste der Inhalte der ersten bei den Ausgaben der fragmente (1951-2) – das war alles, was er vor seinem Tod veröffentlichen konnte – veranschaulicht werden kann: Pound, Bunting, Michaux, Césaire, Lu Chi, Olson, Montanari, Perse, W.C. Williams, Artaud, Alberti. Er wollte dem deutschen Umfeld all die Schriften zurückgeben, die der Krieg seiner Meinung nach verhindert hatte, und gleichzeitig konnte er solche behelfsmäßigen „offiziellen“ Übersetzungen nicht akzeptieren, die elf Verse aus The Wasteland ausließen, mit der Begründung, „sie seien zu schwierig“. Er wollte es richtig machen, mit einer unermüdlichen Intensität.
Vom letzten Jahr seines Lebens habe ich zu wenig mitbekommen, so beschäftigt waren wir mit unserem unmittelbaren Lebensunterhalt. Ich wußte, daß Geld weiterhin ein großes Problem war, und daß seine Einkommensmöglichkeit durch Hörspielmanuskripte und ähnliche Arbeit von seiner sich verschlimmernden Depression beeinträchtigt wurde. Sie hatten das Zimmer verloren, in dem sie gelebt hatten, und waren für eine Zeit lang auf ein Zelt angewiesen. Ein Freund auf der Durchreise erzählte mir, daß er in Deutschland gewesen sei und Renate, Rainers Frau, getroffen hatte, die bei heftigem Regen am Straßenrand stand, um per Anhalter in die Stadt zu fahren, wo sie ein paar von Rainers Manuskripten zu verkaufen hoffte. Sie erzählte ihm, daß Rainer nun über längere Zeit hinweg gerade noch zum Sprechen fähig gewesen war, und daß er alleine im Park saß, wo sie sich dann für die Momente zu ihm setzte, in denen er sprechen konnte oder arbeiten, und versuchte, das weiterzuführen, was er sich vorgenommen hatte.
Über seine Gedichte zu schreiben, ist besonders schwierig für mich, weil ich sie nicht einfach in Deutsch lesen konnte, und darüber hinaus hatte ich (vor allem damals) nur ein eingeschränktes Verständnis der besonderen Schwierigkeiten und Möglichkeiten der deutschen Lyrik in ihrem Kontext. Er sagte einmal das Idyll ist unsere Schwäche. Trakl war ihm nahe, was seine eigene Vorstellungskraft betraf. Er respektierte Benns technische Fähigkeit und er fand auch eine Genauigkeit in der tiefgreifenden Ironie, mit der Benn die Welt schilderte. Aber ich wußte, daß in seinem letzten Buch umkreisung (1952) die Sorgfalt, mit der er Männer wie Pound, und Olson, und Williams übersetzte, schließlich in seinem eigenen Werk Halt zu finden begann.
Ich fühlte einen schmerzlichen Verlust, als ich von seinem Tod hörte. Immer noch fühle ich, daß er schlicht Opfer seiner eigenen Zeit und des eigenen Ortes war – und so unglaublich tapfer und einsam in seiner inneren Konfrontation mit dieser Tatsache. Es gab keine einfache Möglichkeit, sich von der Vergangenheit zu lösen, und es wird sie nie geben.
Robert Creeley
TOD EINES DICHTERS (für rainer m. gerhardt)
jeder tag ein geriesel von fahlen papieren,
ein spinnweb von einflüsterungen,
ohren voll kot deinem mund nah,
ein dunst von pfandleihen und spitälern,
von treppenhäusern, fleckig wie
das bett eines geilen flusses,
ein grauer schnee von paragraphen auf dem pflaster
der welt, und blutige schuhe, und streptokokken.
jede nacht die umarmung der neun wilden schwestern,
der vampire, schönzüngig,
ein beischlaf mit neun feuern, eine
verschwendung zum tode.
o eingeäscherter phönix!
zeugung unbezeugt! verkohltes gedicht!
zerbrochener flug! nichts, was bliebe,
nichts als ein brief, von den blauen tinten-
tränen eines gewitters bedeckt,
als ein tauber zorn über den dächern,
als blinde trauer, lahm in den lenden,
und dein name, auf blanker platte
sich langsam läuternd
zum oxyd der vergessenheit,
vergessen von deinen neun schönen geliebten,
die deines blutes satt
jubelnd auffahren in ihre unsterbliche wohnung.
Hans Magnus Enzensberger
Ich lernte Renate Gerhardt in den 70er Jahren auf der Frankfurter buchmesse kennen ueber eine gemeinsame Freundlin (Luitgard Haas). Ich moechte anfragen, ob Frau Gerhardt noch unter uns weilt.
Mit Dank und Gruss,
Helmut Schwarzer, Newbury, Nh – USA