Ralph Dutli: Zu Joseph Brodskys Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Joseph Brodskys Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“ aus dem Gedichtband Joseph Brodsky: Brief in die Oase. –

 

 

 

 

JOSEPH BRODSKY

Geh nicht aus dem Zimmer!

Geh nicht aus dem Zimmer! Ein Irrtum, verläßt du das Haus.
Wozu brauchst du Sonne, wenn du deine Blättchen rauchst?
Hinter der Tür ist alles sinnlos, besonders – Glücksgeschrei.
Nur rasch bloß aufs Klo und dann gleich wieder herein.

Oh, geh nicht aus dem Zimmer, ruf keinen Motor.
Weil der Raum ohnehin nur aus einem Korridor
besteht und mit dem Stromzähler endet. Und kommt eine
Milka mit offenem Mund: jag sie weg! ohne sie zu entkleiden.

Geh nicht aus dem Zimmer; betrachte dich als erkältet.
Die Wand, der Stuhl: gibts Interessanteres auf der Welt? Es
bringt nichts, warum rausgehen, ja was nützt es,
wenn du abends als der Alte wiederkommst, nur leider – verkrüppelt?

Oh, geh nicht aus dem Zimmer. Kapier doch, tanz Bossa Nova
nur im Mantel, ganz nackt, und in Schlappen die bloßen Sohlen.
Auf dem Flur riechts nach Kohl und nach Schmiere für die Skier.
Du hast viele Buchstaben geschrieben; noch einen – und es wären zu viele.

Geh nicht aus dem Zimmer. Als einziges soll so
das Zimmer erraten, wie du aussiehst. Und überhaupt: inkognito
ergo sum, sagte die Substanz zur Gestalt, zornig und zankig.
Geh nicht aus dem Zimmer! Draußen ist ohnehin nicht Frankreich.

Sei kein Idiot! Sei das, was die andern nie waren, nie im Leben.
Geh nicht aus dem Zimmer! Gib dich einzig den Möbeln
hin, verschmilz mit den Tapeten. Sperr dich ein, verbarrikadier dich zum Schluß
mit dem Schrank gegen Chronos, Kosmos, Eros, Rasse und Virus.

 

Bossa Nova, Breschnew und Horaz

– Ein vergessenes Gedicht von Joseph Brodsky. –

Joseph Brodsky hatte sein Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“ längst vergessen, als er im New Yorker Exil an seinem Gedichtband Landschaft mit Hochwasser arbeitete, der zu seinem letzten werden sollte. Der Band erschien postum in seinem Todesjahr 1996 in den Vereinigten Staaten. Als er über die Komposition seines Bandes nachdachte, waren plötzlich Gedichte aus einer anderen Lebensperiode aufgetaucht, aus seiner „früheren Inkarnation“, wie er halb scherzend zu sagen pflegte. Er stellte also vier verloren geglaubte und wiederaufgetauchte Gedichte von der Schwelle der sechziger, siebziger Jahre – als pure Anachronismen – an den Beginn der letzten, „Brief in die Oase“ betitelten Abteilung seines Bandes. Das Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“ datierte er ungefähr auf 1970. Somit war es wie ein Brief aus einer anderen, für ihn schwierigen Epoche.
Das Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“ entstand zwischen einem an Kafka gemahnenden Prozeß und einem Exil nach Danteschem Muster. In einem hanebüchenen Gerichtsverfahren wurde der vierundzwanzigjährige Dichter im März 1964 wegen „Nichtstuerei“ und „Parasitentums“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit im russischen Norden verurteilt. Sein wahres Vergehen war das unbestellte und unbeaufsichtigte, vom sowjetischen Schriftstellerverband nicht abgesegnete, die Jugend mit dem heimtückischen Virus der Freiheit gefährdende Gedichteschreiben. Brodsky mußte von seiner Strafe – dank internationaler Proteste – nur achtzehn Monate absitzen. Er kehrte aus Norinskaja nach Leningrad zurück, doch die Zwangsarbeit im eisigen Norden hatte ihn nicht gefügiger gemacht, nicht „sozial angepaßter“. Mit ungebrochenem Starrsinn widmete er sich wieder dem einzigen Beruf, der seine Berufung war.
Ausgesprochen politisch waren seine Gedichte nicht. Sie zeigten nur einen unerhört freien Ton und beschworen – als leiser und beharrlicher Gegengesang gegen propagandistische Jubeltöne – menschliche Tragik und Desillusion. Nur im Untergrund des Samisdat zirkulierten sie, wanderten durch fiebrige Hände und geduldige Schreibmaschinen und verbreiteten so ihr – in den Augen der Aufpasser – „schädliches Gift“. Unter massiven Drohungen wurde Brodsky am 4. Juni 1972 zur Ausreise aus der Sowjetunion gezwungen. Das New Yorker Exil war endgültig: Er kehrte nie mehr nach Rußland zurück, auch dann nicht, als der Eiserne Vorhang aufgehoben war.
Brodsky war der eigentümliche Fall eines sowjetischen Aussteigers und Verweigerers. Mit fünfzehn war er mutwillig, vor der gesetzlichen Frist, von der Schule abgegangen, arbeitete als Fräser in einer Fabrik, als Helfer des Prosektors in der Leichenhalle des Krankenhauses beim Leningrader Kresty-Gefängnis, als Gehilfe auf geologischen Expeditionen, die ihn in asiatische Weiten führten. In einem Interview bekannte er später, der frühzeitige Austritt aus der Schule sei ein Glück gewesen, weil der Jugendliche so der staatlichen Lüge, der permanenten Indoktrinierung früher entkommen sei.
Was Brodsky in den Augen der Kulturfunktionäre so gefährlich machte, war seine geistige Autonomie und – im kulturell abgeschotteten Entwicklungsland des Sozialistischen Realismus – das Beharren auf Weltkultur, wie sein Vorbild Ossip Mandelstam seine Poesie einst definiert hatte: als „Sehnsucht nach Weltkultur“. Brodsky las sich als Autodidakt durch den luftigen Wirrwarr der Weltliteratur. Zur Zeit der „Stagnation“, der offiziellen Wüste der Breschnew-Zeit, zog sich die wirkliche Kultur in die Nischen-Oasen, Küchen und Kellerräume zurück.

Weltverweigerung oder Autarkie der Poesie?
Die Weltkultur pries Brodsky auf eigene Weise, verwob antike Sujets (von Odysseus bis zum verbannten Ovid) mit der Nervosität der anglo-amerikanischen Dichtung und den besten Mustern der russischen Moderne – zu einem zuweilen schnoddrigen Mix aus Alltagsslang und stupender Klassizität.
Sein Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“ ist ein großes Nein zur Breschnew-Zeit, zum real existierenden Sumpf der Sowjetunion, die sich in der Propaganda noch immer als „Hort des historischen Fortschritts“ selber feierte. Ich habe es satt, sagt dieses Gedicht. Aber es sagt noch viel mehr. Das „Glücksgeschrei“ draußen (in Losungen, in der gleichgeschalteten Presse) ist dem Einsiedler, der es besser weiß, nichts als Ekel. Im Gedicht spricht ein moderner Höhlenbewohner, der sich weigert, fortan in die Eiszeit der parteilich dressierten Mammuts hinauszutreten. Der Boykott von Breschnews Paradies wird zur (vorläufigen) Verweigerung der Welt.
Doch die renitente Haltung ist nur das eine. Hier, in der Abgeschlossenheit des Zimmers, entsteht ein Manifest der Autarkie der Poesie, die die Welt nicht mehr zu brauchen scheint. Es ist ein Manifest radikaler Selbstgenügsamkeit, das sich nicht scheut, die Descartessche Losung „Cogito, ergo sum“ in der fünften Strophe zu verballhornen zu einem „Inkognito ergo sum“ und mithin das von dem griechischen Philosophen Epikur proklamierte Ideal des „Lebe im Verborgenen“ zu einem eigenen frechen Wahlspruch des Selbstdenkers umzugießen.
Überhaupt adaptiert Brodsky gerne mit Trotz und Ironie antike Lebensideale in einer öden Sowjetära. Der von Kaiser Augustus im Jahre 8 n.Chr. ans Schwarze Meer verbannte Ovid war für den frühen Brodsky der wichtigste römische Autor, genau wie für seine Vorgänger Puschkin und Mandelstam. Er sollte mit ihm die prägende Erfahrung des Exils teilen. Aber eine allmähliche Hinwendung zu Horaz ist in Brodskys Werk unübersehbar. Sein letzter großer Essay von 1995 hieß „Brief an Horaz“ und war eine vertrauliche, respektlos-innige Ansprache:

Jede Deiner Zeilen ist überraschend… Ein kleines Wunder pro Strophe… Bei Dir ist eigentlich jede Zeile ein Abenteuer… Da ja alles, was ich geschrieben habe, genaugenommen an Dich gerichtet ist: an Dich persönlich und alle übrigen. Denn wenn man Verse schreibt, findet man sein unmittelbarstes Publikum nicht bei seinen Zeitgenossen, schon gar nicht in der Nachwelt, sondern bei seinen Vorgängern. Bei denen, die einem Sprache und Formen gaben.

Horaz, der Sympathisant des epikureischen Lebensideals, schreibt im 18. Brief des ersten Buches seiner Epistulae:

Möge mir zuteil werden, was ich jetzt habe, oder auch weniger; möge ich für mich selbst leben können, was noch von meinem Leben übrig ist, wenn es die Götter wollen, daß noch etwas übrig ist; möge ich einen guten Vorrat an Büchern zur Hand haben und an Nahrung ausreichend für das Jahr; möge ich nicht schwanken und wanken in der Erwartung der nächsten ungewissen Stunde!

Lob des Starrsinns
Doch Horaz, der Dichter der Selbstgenügsamkeit und des epikureischen „Lebens im Verborgenen“, war eben auch der Dichter der Selbstironie und bezeichnet sich im berühmten Brief an Tibull (Epistulae I,4) als ein „Schweinchen aus Epikurs Herde“, Brodsky, der 1964 wie Ovid „an den Rand der Welt“ Verbannte, der „von zu Hause an den Polarkreis gejagte junge Hund“ (so Brodskys Selbstcharakteristik im „Brief an Horaz“), neigte dagegen auch zum Stoizismus, zur stolzen Beharrlichkeit, bitteren Sturheit. In einem Filmdokument von Lawrence Pitkethly von 1993 betont er Wert und Würde des Starrsinns: Für das große Nein zur Wirklichkeit wie zu jedem Schund brauche es ganz einfach Sturheit. Brodskys philosophische Hausmischung ist eine Synthese von Epikurismus und Stoizismus.
Der Ort der Verborgenheit im Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“ ist nicht wie bei Horaz ein von Maecenas geschenktes Landgütchen in den Sabinerbergen mit seinen frugalen Schätzen aus Oliven und Ziegenkäse, sondern ein simples Zimmer in einer Kommunalwohnung der Breschnew-Zeit. Schon das geteilte Klo ist feindliches Territorium. Draußen riecht es nach Kohl und Skiwachs, doch die harmlosen Gerüche sollten nicht auf die Harmlosigkeit der Zeit schließen lassen.
Daß der Zimmerbewohner bei Austritt aus dem Refugium riskiert, „verkrüppelt“ wiederzukommen, ist nicht bloß eine Metapher für die mögliche Beschädigung eines Mimosenseelchens durch eine unerbittliche Außenwelt, sondern die Realität der psychischen Bedrohung und brutalen „physischen Einwirkung“ durch die Herrschaften des KGB. Brodsky war schon vor seinem Prozeß wiederholt inhaftiert, zur „Abklärung“ in psychiatrische Kliniken eingewiesen worden. Er wurde auch mehrmals auf der Straße „zufällig“ verprügelt. Das Niederprügeln durch angeblich alkoholisierte Zeitgenossen war nur eine der perversen Methoden der Repression in der Breschnew-Ära, die schon Ende der sechziger Jahre zunehmend zur „Behandlung“ von Dissidenten in psychiatrischen Kliniken überging. Das Risiko, beim Auftauchen aus dem Kellerloch verkrüppelt oder gar nicht mehr wiederzukehren, war durchaus real.
Brodsky entwirft ein tragisches Ideal der Autarkie der Poesie. Sogar den Anfechtungen des Eros soll sie widerstehen. Die „Milka“ (eine „Liebste“; im russischen Slang ein „Flittchen“ oder „Hürchen“), die den Eremiten vom Schlage des Hieronymus verführen will, wird ebenso verscheucht wie andere Versuchungen. In meiner deutschen Übertragung ließ ich das Wort Milka mit ironischer Absicht gern so stehen, weil es hierzulande sofort mit einer lila Schokolademarke assoziiert wird, mit der „zarten Versuchung“ eines Werbespots. Die milchigen und süßen Anfechtungen der Außenwelt will der grimmige Eremit der Poesie ja gerade von sich weisen, ohne sie aus dem Silberpapier oder sonstigen Hüllen zu schälen.
Der Höhlenbewohner gibt sich verhalten autoerotischen Vergnügungen hin, tanzt nackt nur im Mantel mit sich selber. Das epikureische „Lebe im Verborgenem“ kennt seine eigenen legeren Rituale. Der südamerikanische Modetanz Bossa Nova gibt dem rebellischen Moment den frivolen Rhythmus an. „Sonne“ war eine bulgarische Zigarettenmarke. Der renitente Einsiedler zieht ihr seine eigene Billigsorte vor. Daß er damit aber auch das Zentralgestirn der irdischen Welt zurückweist, ist wie alles in diesem sarkastisch-ironischen Manifest eine zweideutige, radikal traurige Protestgeste.

Ruf keinen Motor!

Noch eine Polemik mit dem Zentralorgan der Welt versteckt sich in den Versen zu Beginn der zweiten Strophe:

Oh, geh nicht aus dem Zimmer, ruf keinen Motor.
Weil der Raum ohnehin nur aus einem Korridor
besteht und mit dem Stromzähler endet…

„Ne vyzyvaj motora“ („ruf keinen Motor“) heißt in der russischen Umgangssprache „ruf kein Taxi“. Aber es geht in Gedichten oft um anderes als um den platten alltäglichen Wortsinn. Brodsky spielt nicht selten mit der Zweideutigkeit von Alltags- und Slangausdrücken. An der zitierten Stelle findet eine ironisch-sarkastische Reflexion über Gott, Zeit und Raum statt. Eine Polemik des Agnostikers und modernen Skeptikers Brodsky mit Dantes Divina Commedia ist dort verschlüsselt, mit Dante, der am Schluß des „Paradiso“ den Vers setzte:

L’amor que MOVE il sole e l’altre stelle (Die Liebe, die die Sonne und die anderen Gestirne bewegt).

Gott ist bei Dante der All-Beweger, der Motor von allem. Wenn Brodsky schreibt „ruf keinen Motor“, so bedeutet das hier:

Wende dich in deinem Elend nicht an Gott, es wird eh keine Antwort kommen.

Ein Gedanke, der bei Brodsky öfter auftaucht, etwa in seinem sarkastischen „Gespräch mit dem Himmelsbewohner“ aus demselben Jahr 1970:

Wer wird aus der Weite
Antwort geben? Gibts ein Echo? oder
wird er auch dort auf null Hindernis stoßen
wie auf der Erde leider?

Noch im späteren „Wiegenlied von Cape Cod“ (1975), nach der Ausweisung aus der Sowjetunion, wird sein einsamer Exilant eine magere Rede „nach oben schicken / in Richtung der altherkömmlich stummen Gebiete“.
Doch der polemische Dialog mit Dante geht noch weiter, wenn es um das Wesen des Raumes geht:

Weil der Raum ohnehin nur aus einem Korridor
besteht und mit dem Stromzähler endet.

Hier gibt es keinen Aufstieg durch die hierarchisierten Räume und Himmelssphären zum Lichtstrom des Empyreums wie bei Dante – hin zu Gott –, sondern einzig und grotesk den „Stromzähler“ (ebenfalls eine Maske für Gott) am Ende des Flurs in einer sowjetischen Kommunalwohnung. Wem die Aufdeckung dieser verschlüsselten Polemik zu ausgetüftelt scheint, der lese den Schluß von Brodskys Gedicht „Bobos Begräbnis“ (Januar-März 1972) mit den beiden vielsagenden Versen eines in die Moderne katapultierten Dante:

Ein neuer Dante beugt sich übers Blatt
und setzt ins Leere bloß ein Wort wie dieses.

Hätte ich in meine deutsche Übertragung für „ne vyzyvaj motora“ ein simples „ruf kein Taxi“ gesetzt, hätte ich Brodskys sarkastischen Dialog mit Dante zerstört, ein feines Gewebe zerrissen.

Ein nur vorläufiges Selbstbegräbnis
Blaise Pascal schrieb in einer seiner „Pensées“, das ganze Unglück des Menschen bestehe darin, daß er unfähig sei, in Ruhe allein in einem Zimmer zu bleiben. Bei Brodsky findet sich dagegen ein Lob der Zimmer-Existenz:

Die Wand, der Stuhl: gibts Interessanteres auf der Welt?

Tragisch wird die prekäre Idylle am Schluß, als sich der Eremit geradezu vor der Welt verbarrikadiert, gegen Chronos, Kosmos, Eros. Die griechischen Wörter für Zeit, Welt und Liebe besagen alles, was der Fall ist. Das Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“ ist nicht nur eine Zurückweisung der matschigen Breschnewschen Paradieswelt und ihrer Zumutungen, sondern eine radikale Absage an die Welt im Geiste der späten Zwetajewa. Die Welt ist – Sowjetunion.
Eines der letzten Gedichte Marina Zwetajewas, das kurz vor ihrem Selbstmord (1941) entstand, machte die provokative Geste vor: Die Dichterin gab Gott ihr Eintrittsbillett zurück. Es beeindruckte Brodsky durch seine unerbittlich harte syntaktische Fügung besonders:

Ich weigre mich, zu leben
Im Tollhaus, unter Vieh.
Ich weigre mich, ich heule
Mit den Wölfen nie…
Ablehn ich, daß ich höre,
Ablehn ich, daß ich seh.
Auf diese Welt des Irrsinns
Gibt es nur eins: ich geh.

Aus der verbarrikadierten Autarkie der Poesie ist eine Gefängnisexistenz geworden, ein wahres Selbstbegräbnis. Misanthropie liegt auch in dem Wort „Rasse“ als einem Ersatz für die menschliche Gattung. Der Schutz vor dem „Virus“ (im allerletzten Wort) hat heute eine neue, 1970 noch nicht mögliche aktuelle Assoziation bekommen. Damals war sie nur Metapher für die Krankheit der Welt. Der Rückzug ins „asoziale“ Höhlendasein sorgte aber bei Brodsky immer wieder für erstaunliche Energien des Widerstands und der Schaffenslust. Stolze Individualität war eine bewußte Provokation der immerzu vom Kollektiv faselnden Sowjetordnung.
Daß der Rückzug in die Zelle lebensfeindlich und befremdend wirkt, riskiert der Poet provokativ. Es war nicht Brodskys letztes Wort. Schließlich wird er jenes großartige Werk schaffen, das die Stockholmer Königliche Akademie veranlassen wird, dem einst als „Nichtstuer“ und „Parasit“ verurteilten Brodsky 1987 den Literaturnobelpreis zu verleihen.
In seiner Stockholmer Rede bezeichnete er die Poesie als „kolossalen Beschleuniger des Bewußtseins, des Denkens, der Wahrnehmung der Welt“. Sein Werk besticht durch eine Fülle von Wahrnehmungen, Bildern, Orten, durch Verdichtung und gesteigerte Weltwahrnehmung. Brodskys Reisen, nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion, füllten die poetischen Schatztruhen mit Zyklen wie „Venezianische Strophen“ und „Römische Elegien“ und Zeugnissen der amerikanischen Einsamkeit und Verlorenheit wie dem „Wiegenlied von Cape Cod“.
Im Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“ wird die Verweigerung der Welt als Gegenmittel dargestellt, als kapitales Antidot. Litaneihaft erscheint siebenmal die Aufforderung „Geh nicht aus dem Zimmer“, bewußt monoton, mit betont reduzierter Wahrnehmung, dafür mit frechen, unreinen Reimen. Es ist folgerichtig, daß nicht nur die Welt verneint wird, sondern auch das Werk, das eigene Werk. Der Eremit ruft sogar zum Abbruch des Schreibens auf:

Du hast viele Buchstaben geschrieben; noch einen – und es wären zu viele.

Ein Glück für die russische Dichtung wie für die Weltpoesie, daß sich der starrsinnige Eremit, Höhlenbewohner und begnadete Ironiker Brodsky später nie daran gehalten hat.

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Nichts als Wunder, Ammann Verlag, 2007

 

1 Antwort : Ralph Dutli: Zu Joseph Brodskys Gedicht „Geh nicht aus dem Zimmer!“”

  1. Danke für den gesamten Text von Ralph Dutli.
    Das zitierte Gedicht von Marina Tsvetaeva ist wie ein schwimmender Eisberg.
    Vielen Dank.
    Hoffentlich baut diese Horror-Geschichtsvergangenheit eine Brücke
    zur geistigen Kooperation und zur Freiheit in Ost und West für die Zukunft
    der Weltmenschheit ! Hoffentlich !
    Gruss Wolfgang Püschel
    Grevenburg 1 / Germany
    Ostwestfalen-Lippe
    9.11.2021

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