Raymond Carver: Ein neuer Pfad zum Wasserfall

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Raymond Carver: Ein neuer Pfad zum Wasserfall

Carver-Ein neuer Pfad zum Wasserfall

GEDICHTE

Diesen Monat sind sie jeden Tag gekommen.
Einmal habe ich gesagt, ich schreibe sie, weil
ich nicht die Zeit habe für etwas
anderes. Ich meinte, natürlich, für etwas
Besseres – etwas anderes als nur
Gedichte und Verse. Jetzt schreibe ich
sie, weil ich es möchte.
Und überdies weil
jetzt Februar ist,
wo gewöhnlich nicht viel
passiert. Aber in diesem Februar
haben die Lärchen geblüht
und die Sonne kam zum Vorschein,
jeden Tag. Stimmt, meine Lungen
haben sich aufgeheizt wie Öfen.
Und – was macht’s, wenn manche Leute nun
drauf warten, dass, was mich betrifft,
der andre Schuh fällt.
Na gut, hier ist er schon. Nur zu.
Zieh ihn an. Ich hoffe, er sitzt wie ein Schuh.
Fest genug, ja, aber schmiegsam,
so, dass der Fuß Platz hat und ein bisschen
atmen kann. Steh auf. Geh hin
und her. Spürst du’s? Er geht da hin,
wo du hingehst, und wird da sein,
bei dir, am Ende deiner Reise.
Aber für den Moment bleib barfuß.
Geh eine Weile raus und spiel.

 

EIN BISSCHEN PROSA ÜBER GEDICHTE

Vor Jahren – es muss 1956 oder 1957 gewesen sein, ich war noch keine zwanzig, verheiratet, und verdiente meinen Lebensunterhalt als Botenjunge für eine Apotheke in Yakima, einer kleinen Stadt im östlichen Teil des Staates Washington – fuhr ich eines Tages mit einem bestellten Medikament zu einem Haus im reichen Teil der Stadt. Ich wurde von einem munteren, aber recht alten Mann, der eine Strickjacke trug, eingeladen hereinzukommen. Er bat mich höflich, in seinem Wohnzimmer zu warten, während er sein Scheckbuch suchte.
In dem Wohnzimmer gab es eine Menge Bücher. Tatsächlich waren überall Bücher, auf dem Sofatisch und auf den Tischchen am Sofaende, auf dem Fußboden neben dem Sofa – jede freie Oberfläche diente als Ablage für Bücher. Es gab sogar eine kleine Bibliothek an der einen Wand des Zimmers. (Ich hatte noch nie eine private Bibliothek gesehen: Reihe um Reihe von Büchern, die geordnet in eingebauten Regalen in jemandes Wohnhaus standen.) Während ich wartete und meine Augen umherschweifen ließ, entdeckte ich auf seinem Sofatisch eine Zeitschrift mit einem einzigartigen, für mich verblüffenden Titel auf dem Umschlag: Poetry. Ich war erstaunt und nahm die Zeitschrift zur Hand. Es war das erste Mal, dass ich eine „kleine Zeitschrift“, ja, und dann noch eine Lyrik-Zeitschrift erblickte, und es verschlug mir die Sprache. Vielleicht war ich gierig: ich nahm auch noch ein Buch in die Hand, eines, das The Little Review Anthology hieß, herausgegeben von Margaret Anderson. (Ich sollte hinzufügen, dass es damals ein Rätsel für mich war, was „herausgegeben von“ bedeutete.) Ich fächerte die Seiten der Zeitschrift auf und nahm mir nun auch noch die Freiheit, die Seiten des Buches durchzublättern. Es waren viele Gedichte in dem Buch, aber auch Prosastücke und etwas, das wie Bemerkungen oder gar seitenlange Kommentare zu jedem der Texte aussah. Was um alles in der Welt war das? überlegte ich. Ich hatte noch nie ein Buch wie dieses gesehen – und natürlich auch noch nie eine Zeitschrift wie Poetry. Ich sah vom einen zum andern, und insgeheim hätte ich gern beide für mich gehabt.
Als der alte Herr seinen Scheck ausgeschrieben hatte, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen:

Nimm das Buch mit, mein Junge. Du findest vielleicht etwas darin, was dir gefällt. Interessierst du dich für Gedichte? Dann nimm doch auch die Zeitschrift mit. Vielleicht schreibst du eines Tages selbst etwas. Dann musst du wissen, wohin du es schicken kannst.

Wohin du es schicken kannst. Irgend etwas – ich wusste nicht genau, was es war, aber ich spürte, dass etwas Bedeutsames geschah. Ich war achtzehn oder neunzehn Jahre alt, besessen von dem Bedürfnis, „etwas zu schreiben“, und ich hatte damals auch schon ein paar unbeholfene Versuche gemacht, Gedichte zu schreiben. Aber es war mir nie in den Sinn gekommen, dass es irgendwo einen Ort gab, wohin man solche Versuche wirklich schicken konnte in der Hoffnung, dass sie gelesen und womöglich sogar – unglaublich, so schien es mir wenigstens – veröffentlicht wurden. Doch nun hielt ich den sichtbaren Beweis in der Hand dass es irgendwo draußen in der großen weiten Welt verantwortungsvolle Menschen gab, die – mein Gott! – jeden Monat eine Zeitschrift mit Gedichten herausbrachten. Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte, wie gesagt, das Gefühl einer Offenbarung. Ich dankte dem alten Herrn viele Male und verließ sein Haus. Ich brachte seinen Scheck meinem Chef dem Apotheker, und nahm die Zeitschrift Poetry und das Buch The Little Review Anthology mit nach Hause. Und so begann eine Ausbildung.
Natürlich erinnere ich mich nicht an die Namen der Beiträger zu diesem Heft der Zeitschrift. Wahrscheinlich waren es ein paar würdige ältere Dichter, und daneben neue, „unbekannte“ Lyriker, weitgehend so, wie es heute in der Zeitschrift üblich ist. Natürlich hatte ich damals von keinem je gehört – oder gar etwas gelesen, egal, ob es moderne, zeitgenössische oder andere Dichter waren. Ich bemerkte, wie ich mich erinnere, dass die Zeitschrift 1912 von einer Frau, die Harriet Monroe hieß, gegründet worden war. Ich erinnere mich an das Jahr, weil da auch mein Vater geboren wurde. Später an diesem Abend, benommen vom Lesen, hatte ich das deutliche Gefühl, mein Leben sei dabei, sich auf bedeutsame und, man vergebe mir, sogar großartige Weise zu verändern.
In der Anthologie wurde, soweit ich mich erinnere, ernsthaft über „Modernismus“ in der Literatur gesprochen und über die Rolle, die bei der Förderung des Modernismus von einem Mann mit dem seltsamen Namen Ezra Pound gespielt wurde. Einige seiner Gedichte, Briefe und Regeln – was man beim Schreiben tun und nicht tun sollte – waren in der Anthologie abgedruckt. Ich erfuhr, dass in den frühen Jahren von Poetry eben dieser Ezra Pound als Redakteur für ausländische Literatur für die Zeitschrift gearbeitet hatte – die Zeitschrift, die an diesem Tag in meine Hände geraten war. Überdies hatte Pound entscheidend dazu beigetragen, dass das Werk einer großen Anzahl neuer Dichter in Monroes Zeitschrift wie natürlich auch in der Anthologie vorgestellt wurde; er war, wie jeder weiß, ein unermüdlicher Redakteur und Förderer – von Dichtern mit Namen wie H. D. [Hilda Doolittle], T.S. Eliot, James Joyce, Richard Aldington, um nur eine Handvoll zu nennen. Strömungen der Lyrik wurden diskutiert und analysiert – der Imagismus war, wie ich mich erinnere, eine dieser Strömungen. Ich lernte, dass neben The Little Review, auch Poetry zu den Zeitschriften gehörte, in denen Imagisten willkommen waren. Mir schwirrte der Kopf. Ich glaube nicht, dass ich in jener Nacht viel geschlafen habe.
Das war, wie ich sagte, 1956 oder 1957. Was gibt es also für eine Erklärung dafür, dass ich achtundzwanzig Jahre oder länger brauchte, bis ich schließlich ein paar Arbeiten an Poetry abschickte? Keine. Das Verwunderliche, das Entscheidende ist, dass, als ich 1984 etwas schickte, die Zeitschrift noch existierte, immer noch lebendig und gesund, und, wie immer, herausgegeben wurde von verantwortungsvollen Menschen, deren Ziel es war, dieses einzigartige Unternehmen in Gang und in gutem Zustand zu erhalten. Und einer von ihnen schrieb mir in seiner Eigenschaft als Redakteur, lobte meine Gedichte und teilte mir mit, die Zeitschrift werde zu gegebener Zeit sechs davon veröffentlichen.
War ich stolz darauf, war es ein gutes Gefühl? Ja, natürlich. Und ich glaube, mein Dank gebührt zu einem Teil dem namenlosen liebenswürdigen alten Herrn, der mir sein Exemplar der Zeitschrift schenkte. Wer war er? Inzwischen dürfte er lange tot sein, und seine kleine Bibliothek war da gelandet, wo kleine, exzentrische, aber am Ende wahrscheinlich nicht sehr wertvolle Sammlungen landen – in Antiquariaten. Ich hatte ihm damals gesagt, ich würde seine Zeitschrift lesen und auch das Buch lesen, und ich käme wieder, um ihm zu erzählen, was ich darüber dachte. Das hatte ich natürlich nicht getan. Zu viel anderes kam dazwischen; es war ein leichtherzig gegebenes Versprechen – und schon gebrochen, als sich die Tür hinter mir schloss. Ich sah ihn nie wieder, und ich weiß seinen Namen nicht. Ich kann nur sagen, dass diese Begegnung wirklich stattgefunden hat, und ziemlich genau so, wie ich sie beschrieben habe. Ich war damals ein unreifer junger Mann, aber nichts kann einen solchen Augenblick erklären oder wegerklären: den Augenblick, in dem mir genau das was ich in meinem Leben mehr als alles andere brauchte – nennen wie es einen Polarstern –, zufällig, großmütig geschenkt wurde. Nichts, was diesem Augenblick entfernt gleichkäme, ist seither geschehen.

 

 

 

Zu einer deutschen Ausgabe des Gedichtbands

Ein neuer Pfad zum Wasserfall von Raymond Carver

Dies ist der letzte, posthum veröffentlichte Gedichtband von Raymond Carver. Es ist ohne Zweifel seine eigenwilligste und eindringlichste Sammlung von Gedichten.
Er stellte den Band mit seiner zweiten Ehefrau, Tess Gallagher, zusammen: Gedichte, die in seinem letzten Lebensjahr entstanden waren, und vor allem viele ungeheuer eindrucksvolle, oft überwältigende Gedichte, die er im Angesicht des Todes schrieb. [„A unique book… These agonizingly naked, direct last verses address the most universal of all themes, the inexorable encroachment of mortality“, San Francisco Chronicle] Raymond Carver starb am 2. August 1988 mit 50 Jahren.
Es gibt eine weitere, aus allen Rahmen fallende Besonderheit dieser Sammlung von letzten Gedichten: Carver hat – zwischen seine eigenen Gedichte -Texte und Gedichte von anderen Schriftstellern (seinen Lieblingsschriftstellern) eingestreut: James Chetham, Robert Lowell, Czesław Miłosz, Stephen Oliver, Jaroslav Seifert, Tomas Tranströmer, Anton Tschechow, Charles Wright. (Carver folgte dabei einem Beispiel von Czesław Miłosz, der einen Gedichtband mit Fremdzitaten ergänzt hatte.)
Diese „fremden“ Texte und Gedichte fügen sich sehr schön in den Band ein, sie sind manchmal wie Motti der sechs Abschnitte, in die Carvers Gedichte eingeteilt sind. Man könnte mit Tess Gallagher sagen, diese Zitate anderer Schriftsteller „sprechen“ zu Carvers Gedichten – das Verfahren hat einen eigenartigen Reiz, der sich erst beim Lesen des Bandes entfaltet.
Tess Gallagher hat für die Originalausgabe eine „Introduction“ geschrieben, die als Nachwort in der deutschen Ausgabe erscheint. Tatsächlich ist es ein recht ausführlicher Text über die Entstehung dieses Gedichtbands und, natürlich, auch über ihren Anteil daran, ein Text, der dem Leser aber auch sehr klar und „anschaulich“ das letzte Lebensjahr Carvers und seinen sich verändernden Gesundheitszustand, gemeinsame Reisen, darunter die Hochzeitsreise nach Reno, die allerletzte Reise nach Alaska vor Augen führt – Ereignisse, die sich allesamt in Carvers Gedichten widerspiegeln. Der Text hat auch insofern eine besondere Qualität oder Bedeutung, als er ein Augenzeugenbericht ist, den niemand anders hätte schreiben können.
Ich habe in den letzten Jahren immer wieder an freien Tagen Gedichte aus dem Band übersetzt und habe im vergangenen halben Jahr, seit ich selbst schwer krank bin, aber noch bei klarem Verstand, Carvers Gedichte und dann anschließend Tess Gallaghers Augenzeugen- und Arbeitsbericht fertig übersetzt und so die Übersetzung des ganzen Bandes zum Abschluss gebracht. Ich fühlte mich aufgrund meines eigenen Zustands in gewisser Weise sogar besonders qualifiziert für die Übersetzung dieses Buches.
Ich denke und hoffe, wer sich mit dem Band und seinen vielen überraschenden Aspekten beschäftigt, wird meine Begeisterung für das Buch teilen.

Helmut Frielinghaus, 24. Juli 2011, Vorwort

Nachwort

Dies ist ein letztes Buch, und letzte Dinge haben, wie wir lernen, ihre eigenen Rechte. Sie brauchen uns nicht, aber da wir ihrer bedürfen, erinnern wir uns und denken umso realer an die Endlichkeit, die uns umschließt und uns wieder hineinzieht in die zentrale Frage, vor die jeder Tod uns stellt: Wozu ist das Leben da? Raymond Carver lebte seine Antwort und schrieb sie nieder: „Ich bin immer ein Verschwender gewesen“, sagte er einem Interviewer – zweifellos steuerte er radikal weg von allem Erhabenen und Noblen. Es war fast ein Gesetz, Carvers Gesetz, die Dinge nicht für eine ersehnte Zukunft aufzusparen, sondern das Beste, das ihm jeden Tag gegeben war, aufzubrauchen und darauf zu vertrauen, dass weiteres kommen würde. Selbst die Packung der Zigaretten, die er rauchte, trug als Aufdruck seinen Imperativ: NOW.
Dies war ein Gebot, das sich uns mit zunehmender Intensität bei unseren Bemühungen aufdrängte, dieses Buch zu Ende zu bringen. In einer Episode, die gespenstisch an die erinnerte, die dem Tod Tschechows vorausgegangen war – Carver hatte ihm kurz zuvor mit seiner Erzählung „Botengang“ gehuldigt –, hatte man bei Carver, nachdem er im September 1987 Blut gespuckt hatte, Lungenkrebs diagnostiziert. Es folgten zehn Monate des Kampfes, in denen der Krebs Anfang März als Gehirntumor wiederkehrte. Nachdem er zweimal Empfehlungen mehrerer Ärzte, eine Gehirnoperation vornehmen zu lassen, nicht gefolgt war, unterzog er sich sieben Wochen lang einer intensiven Bestrahlung des gesamten Gehirns. Es folgte eine kurze Atempause, doch Anfang Juni wurden wieder Tumore in seiner Lunge gefunden.
So weit die Ereignisse jener Zeit; sie hätten gereicht, Realisten aus uns zu machen, wenn wir nicht schon Realisten gewesen wären. Dennoch, ähnlich wie Tschechow immer wieder die Fahrpläne für Züge weg aus der Stadt, in der er sterben sollte, studiert hatte, so arbeitete und plante Ray weiter und vertraute auf die Zeit, die ihm noch blieb, und er glaubte, er könnte sich vielleicht sogar dem Schicksal durch irgendeine Lücke entziehen. Auf einer Einkaufsliste, die ich später in seiner Hemdtasche fand, hieß es: „Eier, Erdnussbutter, Kakaopulver“, und dann, nach einem Zwischenraum:

Australien? Antarktis?

Die Beharrlichkeit, mit der Ray an seine eigene Fähigkeit glaubte, sich von Rückschlägen im Verlauf seiner Krankheit zu erholen, gab uns beiden Kraft. In seinem Tagebuch schrieb er:

Wenn die Hoffnung schwindet, bleibt dem gesunden Menschenverstand noch der Griff nach Strohhalmen.

Auf diese Art lebte er Hoffnung als eine Geste, ein Greifen nach etwas oder zu etwas hin, während der Gegenstand des Versprochenen eine Illusion blieb. Die andere Möglichkeit war, den Tod zu akzeptieren, was ihm mit seinen fünfzig Jahren unmöglich war. Ein anderer Tagebucheintrag offenbarte sein Kümmernis, als der Gang der Krankheit sich beschleunigte:

Ich wünschte, mir bliebe ein bisschen Zeit. Nicht fünf Jahre – nicht einmal drei Jahre –, das könnte ich nicht verlangen, aber wenn ich wüsste, dass ich noch ein Jahr hätte. Wenn ich wüsste, dass ich noch ein Jahr hätte.

Im Januar 1988 hatte Ray unter dem Eindruck der Tagebücher von Stephen Spender, Journals 1939–1983, angefangen, Tagebuch zu führen, aber bei der Entdeckung seines Gehirntumors im März brach es plötzlich ab; allerdings sollte er später, in einem anderen Notizbuch, erneut damit anfangen. Unsere Aufmerksamkeit konzentrierte sich stattdessen auf die Aufgabe, einen kurzen Essay für die Broschüre zur Graduiertenfeier der University of Hartford zu verfassen, bei der Ray im Mai ein Ehrendoktortitel für Literaturwissenschaften verliehen werden sollte.
In dieser Zeit hatte ich mich an die Erzählungen von Tschechow geklammert. Ich las alle bei Ecco Press veröffentlichten Bände, einen nach dem andern, und nun schlug ich Ray zwei Passagen aus „Krankensaal Nr. 6“ vor zur Illustration des Epigraphs von Santa Teresa („Worte führen zu Taten… sie bereiten die Seele vor, machen sie bereit und bewegen sie zu Zärtlichkeit“), das er meinem Gedichtband entnommen hatte, um damit seinen Essay zu beginnen. Ray fügte die Passagen von Tschechow in seinen Text ein, und das war der Beginn einer wichtigen geistigen Begleitung, die sich von nun an durch unsere Tage zog und schließlich beim Zusammenstellen dieses Buches eine bedeutsame Rolle spielen sollte.
Der Eifer, mit dem wir beide von diesen besonderen Momenten in „Krankensaal Nr. 6“ Besitz ergriffen, rührte, so vermute ich, direkt von den schweren Erfahrungen her, die Rays Gesundheitszustand für uns mit sich brachte, und das galt insbesondere für die zweite Passage, in der zwei Personen, ein missvergnügter Arzt und ein etwas älterer herrischer Postmeister, sich plötzlich mitten in einem Gespräch über die Seele des Menschen wiederfinden:

„Und Sie glauben nicht an die Unsterblichkeit der Seele?“,
fragt plötzlich der Postmeister.
„Nein, verehrter Michail Awerjanytsch, ich glaube nicht
daran und habe auch keinen Grund dazu.“
„Ich gestehe, auch ich zweifle. Obgleich ich doch so ein Gefühl habe,
als ob ich niemals sterben würde. Oh weh, denke ich bei mir,
alter Knochen, es ist Zeit zu sterben! Doch in meinem Inneren sagt mir
ein Stimmchen: Glaub’s nicht, du wirst nicht sterben.“

In dem Textstück, in das diese Passage eingebettet ist, hob Ray die Kraft der Wörter hervor, „die als Taten Bestand haben“ und aus denen „eine kleine Stimme in der Seele“ hervorgeht. Er schien geradezu dankbar dafür, beobachten zu können, wie in Tschechows Geschichte „die Art und Weise, wie wir bestimmte Leben und Tod betreffende Konzepte fallen lassen, plötzlich zu einem unerwarteten Glauben an eine zugegebenermaßen schwache, aber beharrliche Natur übergeht“.
Ich brachte auch weiterhin Tschechow in unsere Tage hinein, indem ich morgens als Erstes eine Geschichte las und sie, wenn ich zum Frühstück runterkam, Ray erzählte. Ich gab die Geschichte so getreu wie möglich wieder, und Ray ließ sich unausweichlich davon einfangen und musste sie am Nachmittag selbst lesen. Am Abend konnten wir dann darüber sprechen.
Andere Einflüsse bezog Ray aus einem Buch, das er Anfang des Jahres gelesen hatte, Czesław Miłosz’ Essayband Unattainable Earth (Unfassbare Erde), und das sich nun auf sein Konzept von der Gestaltung und Weite seines eigenen Buches auswirkte. Im Interesse dessen, was er „eine raumgreifendere Form“ nannte, hatte Miłosz Prosazitate aus Casanovas Memoiren, Schnipsel von Baudelaire, von seinem Onkel Oscar Miłosz, Pascal, Goethe und anderen Denkern und Dichtern eingefügt, die ihn, während er seine Gedichte schrieb, berührt hatten. Miłosz schließt auch seine eigenen Überlegungen ein, die die Form von Bekenntnissen, Fragen und Einsichten annehmen. Ray fühlte sich von Miłosz’ umfassendem Ansatz sehr angesprochen. Er selbst las zu jener Zeit Federico García Lorca, Jaroslav Seifert, Tomas Tranströmer, Robert Lowell, Gedichte von Miłosz und, zum zweiten Mal, Tolstois Der Tod des Ivan Iljitsch. Von diesen Autoren wählte er vollständige Gedichte aus, die wir später den einzelnen Abschnitten des Buches voranstellten.
Aber als uns dann Anfang Juni die verheerende Nachricht von erneuten Lungentumoren mitgeteilt wurde, kehrten wir unwillkürlich zu Tschechow zurück, um unsere Standfestigkeit wiederzugewinnen. Eines Abends, als ich mir bestimmte, von mir markierte Passagen ansah, erkannte ich, dass sie zu bestimmten Gedichten von Ray zu sprechen schienen, Gedichten, die ich mit ihm durchgesehen und in den Computer getippt hatte. Spontan ging ich an die Schreibmaschine und setzte einige dieser Auszüge in Verszeilen und gab ihnen Titel. Als ich Ray das Ergebnis zeigte, war es, als hätten wir einen anderen Tschechow innerhalb von Tschechow entdeckt. Aber weil ich diese Passagen mit Rays Gedichten im Kopf betrachtet hatte, stellte sich das Gefühl ein, dass er einige Schritte auf uns zu gekommen war und dass er, obwohl er in seiner Zeit blieb, zugleich unser Zeitgenosse geworden war. Die Welt stürmischer Schlittenfahrten und Heringskopfsuppen, eines aus Ochsenaugen zubereiteten Gerichts, von Köchen, die für Gemüsesuppe Sauerampfer pflückten, von Bauernkindern, die erzogen waren, angesichts der kruden Sprache ihrer betrunkenen Eltern keine Miene zu verziehen – diese Welt war sehr nahe an Raymond Carvers Welt, in der ein Mann bei einer Schlossbesichtigung den Kopf auf den Richtblock legt und die Hand seiner Gefährtin wie eine Axt auf seinen Nacken niederfährt, eine Welt, in der ein betrunkener Vater in der Küche von seinem Sohn mit einer fremden Frau in einer eindeutig sexuellen Situation ertappt wird und in der wir beobachten, wie ein ertrunkenes Kind im Zangengriff eines Helikopters über die Bäume hinweggetragen wird.
Nachdem wir den Poeten in Tschechow entdeckt hatten, begann Ray Passagen anzustreichen, die er einfügen wollte, und sie selbst abzutippen. Das Ergebnis war etwas, das zwischen Gedicht und Prosa lag, und das gefiel uns, weil manche von Rays neuen Gedichten die Grenzen zwischen Gedicht und Prosa verwischten, so wie seine Erzählungen oft eine besondere Stärke aus dramatischen und poetischen Stilmitteln bezogen. Ray hatte die Distanz zwischen seiner Sprache und seinen Gedanken so weit schrumpfen lassen, dass die sich daraus ergebende Transparenz des Verfahrens es erlaubte, dass Unterschiede zwischen Gattungen sich aufhoben, ohne dass es gewaltsam oder wie eine Grenzverletzung wirkte.
Die als Gedicht wiedergegebene Erzählung konnte sich entfalten, ohne dass eine Intensität des Ausdrucks oder der Sprache vorgetäuscht werden musste, die vielleicht die Stärke der Erzählung selbst beeinträchtigt hätte; andererseits konnte die Erzählung die Aufmerksamkeit des Lesers ganz anders fesseln, weil sie als Gedicht konzipiert worden war.
Um überhaupt in dieser für uns so verstörenden Zeit an dem Buch arbeiten zu können, beschlossen wir, niemandem von dem erneuten Auftauchen der Lungentumoren zu erzählen. Statt uns Besuchern und einer Parade von kummervollen Abschieden zu überlassen, wollten wir uns auf das konzentrieren, was wir vorhatten. Und dazu gehörte auch die Entscheidung, unser elfjähriges Zusammensein zu feiern, indem wir am 17. Juni in Reno, Nevada, heirateten. Die Heiratszeremonie war, wie Ray sagte, eine „ziemlich kitschige Angelegenheit“, und fand gegenüber vom Gerichtsgebäude in der Heart of Reno Chapel statt – im Fenster befand sich ein mit kleinen, golden leuchtenden Glühbirnen besetztes Herz, dazu ein Schild, auf dem stand:

SE HAB LA ESPAÑOL.

Danach gingen wir in die Spielkasinos, wo ich mich in eine phänomenale dreitägige Glückssträhne beim Roulette stürzte.
Als wir zurückkamen, schrieb Ray das Gedicht „Antrag“, das die Dringlichkeit jener Zeit transportiert, den nackten Sinn eines ohne Falsch gelebten Lebens, auch ohne den Puffer von Hoffnung, auf den wir uns gewöhnlich verlassen, um das Leben über das Provisorische hinaus auszudehnen. Dass wir geheiratet hatten, verankerte uns neu, und es war so, als hätten wir diese Gelegenheit wissentlich aufgespart, damit sie uns tröstete und vielleicht auch erlaubte, noch einmal die Köpfe zurückzuwerfen in perlendem kosmischem Gelächter, wie bei der fröhlichen, bedeutungslosen Reise, von der Kafka schreibt.
Dies war auch die Zeit, in der Ray das Gedicht „Glücksfall“ schrieb. Die Idee zu dem Gedicht war bei einem Gespräch aufgekommen, das wir hatten, als wir auf der Veranda saßen, mit Blick auf die Meerenge von Juan Fuca, und Bestandsaufnahme machten. „Weißt du noch, wie du mir erzählt hast, du wärst beinahe gestorben, bevor wir uns kennenlernten?“, fragte ich ihn.

Es hätte damals das Ende sein können, und wir wären uns nie begegnet. Und all das wäre nicht geschehen.

Wir saßen friedlich da und staunten einfach nur über das, was uns gegeben worden war. „Es war alles ein Glücksfall“, sagte Ray.

Ein reiner Glücksfall.

Viele der Gedichte, die Ray für das Buch angehäuft hatte, waren im Juli und im späten August des vorangegangenen Sommers geschrieben worden. Fast ein Jahr später, im Juli, hatten sich genügend fertige Gedichte angesammelt, und so beschlossen wir, dass ich damit anfangen sollte, sie in Abschnitte einzuteilen und dem Buch eine Gestalt zu geben. Das hatte ich bei allen von Rays Gedichtsammlungen getan und auch bei den meisten seiner Prosasammlungen. Ich hatte eine möglicherweise etwas simple Art, ein Manuskript zu ordnen, indem ich die Seiten im Wohnzimmer auf dem Fußboden verteilte und auf Händen und Knien dazwischen herumkroch, dabei las und meinem Gespür folgte, was als Nächstes kommen sollte, und mich von Intuition, Inhalt und meinen Gefühlen leiten ließ.
Wir wollten versuchen, die Passagen von Tschechow einzufügen. Die Erzählungen hatten so wesentlich zu unserem geistigen überleben beigetragen, dass – ähnlich wie Whitman in Miłosz’ Buch – Tschechow ein Seelengefährte zu sein schien, als hätte Ray irgendwie, durch lebenslange Bewunderung, die Erlaubnis erworben, sich dessen Werk mit der Kühnheit der Liebe zu eigen zu machen.
Ich erinnere mich, wie Ray und ich eines Abends im Fernsehen ein Interview mit einem Komponisten sahen und der Komponist ausrief, Tschaikowsky habe ganze Passagen von Beethoven übernommen und sie als seine eigenen ausgegeben. Als jemand ihn zur Rede stellte, habe er nur gesagt:

Ich habe ein Recht darauf. Ich liebe ihn.

Ray hatte sich diese Bemerkung notiert, und ich glaube, dieses „Liebesrecht“ spielte eine gewichtige Rolle bei seinem Entschluss, Tschechow so kühn in Verbindung mit seiner eigenen Arbeit zu stellen. Die Tschechow-Passagen verbanden überdies Rays Gedichte mit seinen Erzählungen – seine letzte Sammlung hatte er mit der Hommage „Botengang“ beendet. Die ausgewählten Stellen von Tschechow fanden ganz natürlich ihren Platz in dem Manuskript, als eine Entsprechung und Verstärkung von Ton und Emotionen der Gedichte, die Ray geschrieben hatte. Manchmal vermochte Ray, dank Tschechow, sich selbst und anderen Anleitungen zu geben für die schwere Aufgabe, mit der Gewissheit des Verlusts weiterzumachen („Nächtliche Feuchtigkeit“), oder er konnte Ängste zugeben, die er vielleicht unterdrückt hätte, um die Oberhand zu behalten bei seinem Spiel auf Zeit mit der Krebskrankheit („Vorahnung“ und „Sperlingsnächte“).
Als wir die von mir vorbereitete Einteilung für das Buch endgültig festlegten, ergaben sich sechs Abschnitte. Es begann mit Gedichten aus früheren Publikationen, Gedichten, die aus diesem oder jenem Grund nicht mit jüngeren Arbeiten vereinigt worden waren. Ray brachte also, während er die Zeit Tschechows auf seine Arbeit einwirken ließ, Gedichte aus seinem früheren Leben in die Gegenwart und prägte so vielleicht beider Leben in ihrer imaginativen Komposition. In diesem Zusammenhang glaube ich, dass eine Passage, die er in Miłosz’ Unattainable Earth angestrichen hatte, die eigentlichen Ziele Rays beleuchten kann:

Jeanne, eine Schülerin von Karl Jaspers, lehrte mich die Philosophie der Freiheit, die in dem Wissen besteht, dass eine jetzt, heute getroffene Wahl sich auf Früheres projiziert und unser vergangenes Handeln verändert.

In Rays Arbeiten, in den Gedichten wie den Geschichten, war ein Drang, zu bestimmten evokativen Szenen und Gestalten in seinem Leben zurückzukehren, nicht unbedingt, um von ihnen freigelassen zu werden, aber doch, um ihnen eine aufschlussreiche Struktur der Situation abzuringen. In diesem Buch deuten die frühen Liebesgedichte auf ein dunkles Element hin, das umfassender in jüngeren Gedichten zum Ausdruck kommt – so in „Wunder“, „Der Ärgernis erregende Aal“ und „Wach auf“. Der Sohn als tyrannische Gestalt in früheren Gedichten und in Geschichten wie „Elefant“ und „Das Abteil“ kehrt wieder in dem Gedicht „Über eine alte Photographie meines Sohnes“, und obwohl der Schmerz gegenwärtig ist und wie neu, steht am Ende des Gedichts das befreiende Wissen:

Wir alle machen’s in Zukunft besser.

Das Thema des toten Kindes, so ergreifend in der Erzählung „Eine kleine gute Sache“ behandelt, kehrt wieder in dem Gedicht „Limonade“, in dem ein Kind, vom Vater geschickt, eine Thermosflasche mit Limonade zu holen, im Fluss ertrinkt.
Der zweite Abschnitt enthält eine Reihe von Gedichten, deren Territorium in Tomas Tranströmers Gedicht „Der Name“ über den Verlust von Identität angedeutet wird. Am besten lassen sich diese Gedichte vielleicht durch das ihnen gemeinsame Un-Behagen charakterisieren und die Art und Weise, wie Wildheit, Fremdheit ausbrechen und uns in Bereiche des Unverstands tragen können, ohne eine Möglichkeit der Umkehr. Hier findet die verbal ausfällig werdende Frau seiner Geschichte „Vertrautheit“ eine Entsprechung in der physisch ausfällig werdenden Frau in „Wunder“. Das Trinken motivierte immer wieder die Rituale des Zerfalls in den Gedichten über seine erste Ehe, und er beschrieb die Details der dadurch angerichteten Verwüstung, als wäre es erst gestern gewesen.
Kindliche Unschuld wird in der dritten Abteilung in dem Gedicht „Die Küche“ abrupt durchschnitten – das ruft die Erzählung „Keiner hat etwas gesagt“ ins Gedächtnis. In anderen Gedichten wird das Unbekannte ganz unangetastet gelassen, so in „Der Stör“ und „Noch ein Geheimnis“. Die Gewalttätigkeit des Lebens der Arbeiterfamilie in „Hosenträger“ ist ein Pendant zu einem Text von Tschechow über das Leben der Bauern und ihren rohen Umgang mit der Sensibilität der Kinder.
Die schwierige Frage, die Miłosz in „Rückkehr nach Krakau, im Jahr 1880“ zu Beginn des vierten Abschnitts stellt – „Gewinnen? Verlieren? / Wozu denn, wenn die Welt uns ohnehin vergisst“ – stellt des Dichters Gefühl für die Erinnerung als etwas Anvertrautes in Frage. Und für Ray war im Angesicht des Todes natürlich auch der Gedanke gegenwärtig, ob die Erinnerung in dem Überleben des Geschriebenen auf bedeutsame Weise fortbestehen würde. Seine Gedichte legen nahe, dass die Obsessionen und Zeichen eines Künstlers, wie fragmentarisch und temporär sie auch sein mögen, in einer Welt der Notwendigkeit existieren, die das Bedürfnis aller anderen transzendiert. Zugleich offenbaren Gedichte wie „Eins mehr“ oder „Seine Bademanteltaschen vollgestopft mit Zetteln“ auf humorvolle Weise die zufällige Natur des Schöpferischen und, mehr noch, die Verwunderung darüber, dass aus einem solch zersplitterten Prozess sich etwas Lohnenswertes anhäufen kann. In diesem Abschnitt findet sich auch ein Prosabericht über Rays erste Begegnungen mit dem literarischen Leben, als ihm von einem älteren Mann, dessen Haus er als Lieferjunge betritt, eine Ausgabe der Zeitschrift Poetry geschenkt wird. Hier ist es – wie in „Botengang“ – der gewöhnliche Moment, der auf die außergewöhnlichsten Dinge ein Licht wirft. Eine Zeitschrift wechselt von einer Hand in die andere, und der junge künftige Schreiber entdeckt zu seiner Überraschung eine Welt, in der das Schreiben und Lesen von Gedichten als achtbare Beschäftigung gilt.
Das Nebeneinander von Gegenwart und der Zeit der Knechte und Ritter in „Der Ärgernis erregende Aal“ haben wir zuvor schon in der Erzählung „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ gesehen, und ebenso in der jüngeren Erzählung „Schwarzdrossel-Auflauf“. Solche Gegenüberstellungen verleihen offenbar dem Stoff der Jetztzeit einen frischen barbarischen Anstrich. Im Licht des Lowell-Zitats, das den fünften Abschnitt einleitet, „Doch warum nicht sagen, was geschah“, blicken wir mit fluoreszierender Direktheit in die unnachgiebige, obsessive Faszination des „Realen“ mit seinen Fallen und seinen Formen der Gewalt.
Das Gedicht „Sommernebel“ in demselben Abschnitt bekam für mich durch das, was Ray sagte, als er mir das Gedicht zu lesen gab, etwas Außergewöhnliches. Er sagte, es tue ihm leid, dass er nicht da sein werde, um das für mich zu tun, was ich für ihn tat. „Ich habe hier etwas versucht“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob es funktioniert.“ Er hatte versucht, einen Sprung voraus in die Zeit meines Todes zu tun und sich seine Trauer um mich vorzustellen – ein Geschenk für mich angesichts meines herannahenden Alleinseins. Es kommt mir umso bewegender vor, weil er dies schrieb, als sein eigener Tod – um es mit den Worten des Gedichts zu sagen – die abgrundtiefe Trauer war, die wir gemeinsam empfanden.
Der letzte Abschnitt handelt von den Stadien seines Bewusstseins, als sein Gesundheitszustand sich verschlechterte und er dem Tod entgegenging. In „Glücksfall“ verschiebt er die verheerende Bedeutung des nahenden Todes, indem er die Erinnerung an einen früheren, knapp vermiedenen Tod hervorholt, als er 1976/77 beinahe an Alkoholismus gestorben wäre. So nutzt er seinen bevorstehenden Tod als Beweis für ein früheres Entkommen, und der Tod, so erkannte er, hinausgeschoben durch einen solchen Exzess an Leben, wie es ihm zehn produktive Jahre lang vergönnt worden war, konnte niemals mehr das Gleiche sein. Trotzdem gestehen die einführenden Passagen von Tschechow („Vorahnung“ und „Sperlingsnächte“) eine innere Panik ein. Neben der Nüchternheit des Gedichts „Was der Doktor gesagt hat“ und dem „Üben“ des Sterbens in „Wach auf“ finden wir hier den Trotz des Gedichts „Antrag“ und die beiden Gedichte, die den endgültigen Abschied proben – „Nicht nötig“ und „Durch die Zweige“. Mir war erst drei Wochen nach Rays Tod, als ich Korrekturen in das Manuskript eintrug, die Ray vor unserer letzten Reise nach Alaska vorgenommen hatte, klargeworden, dass ich ganz genau, wenn auch unwissentlich, am Abend vor seinem Tod die in „Nicht nötig“ gegebenen Instruktionen befolgt hatte. Die drei Küsse, die immer „Gute Nacht“ bedeutet hatten, schlossen zu der Zeit die Möglichkeit ein, dass Ray nicht wieder aufwachen würde. „Hab keine Angst“, sagte ich. „Jetzt finde deinen Schlaf“, und schließlich: „Ich liebe dich“, worauf er antwortete:

Ich liebe dich auch. Sieh jetzt zu, dass du schlafen kannst.

Er öffnete nie wieder die Augen, und um zwanzig nach sechs am nächsten Morgen hörte er auf zu atmen.
Die „lässig“ schräg im Mundwinkel hängende Zigarette in dem Selbstporträt „Abendrot“ leugnet die nachfolgenden Ereignisse, die dies zu einem letzten Blick gemacht haben. Vielleicht ist Ray hier der Ironie so nahegekommen, wie er es zuließ – zu einer Zeit, in der ein geringerer Schriftsteller vielleicht ein trauriges, scharf konturiertes Monument daraus gemeißelt hätte. In dem letzten Gedicht, „Spätes Fragment“, erlangt die Stimme den erhöhten Ton einer Koda. Es entsteht das Gefühl, dass in den Anstrengungen des Lebens, des Schreibens immer zentral das Bedürfnis stand, geliebt zu werden, und dass die Bereitschaft, das für die eigene Person zuzulassen – „sagen können, dass ich geliebt werde“, und, darüber hinaus, „mich geliebt fühlen auf dieser Erde“ –, doch erreicht worden ist. Für jemanden, der vom Alkoholismus losgekommen war, ist diese Selbsterkenntnis und das allgemeinere Gefühl der Liebe, das er sich zugestand, keine kleine Errungenschaft. Ray wusste, dass er begnadet und gesegnet war und dass sein Schreiben ihn dazu befähigt hatte, die oft so beengenden Umstände, aus denen er ebenso kam wie diejenigen, über die er schrieb, weit hinter sich zu lassen, und dass durch sein Schreiben das Leben der Menschen aus der Arbeiterschicht ein Teil der Literatur geworden war. Auf einen Zettel bei seiner Schreibmaschine hatte er geschrieben:

Verzeih, dass ich die Idee so aufregend finde, aber gerade eben denke ich, dass jedes Gedicht, das ich schreibe, „Glück“ heißen sollte.

Und obwohl er mit einem so frühen Tod nicht einverstanden war, bewahrte er sich, wenn wir an diesen langen Sommerabenden über unser gemeinsames Leben als Schriftsteller, Geliebte und Gehilfen sprachen, einen dankbaren Gleichmut.
Mitte Juli war sein letztes Buch fertig, und ich hatte einen Titel dafür gefunden, den er von einem frühen Gedicht nahm: Suche nach Arbeit. Wir haben über den Titel nicht gesprochen, wir wussten, dass er richtig war. Kurz nach unserer Hochzeit hatten wir ein unglaubliches Geschenk erhalten, und das war, glaube ich, mitbestimmend bei unserer Entscheidung. Unser Freund, der Maler Alfredo Arreguin, hatte lange an einem großen Gemälde gearbeitet, und seine Frau Susan Lytle, auch sie Malerin, hatte gelegentlich mysteriöse und unsere Neugier weckende Andeutungen gemacht. Am Tag vor unserem Hochzeitsempfang kamen Alfredo und Susan mit dem Bild, das sie oben auf dem Autodach festgebunden hatten. Auf dem Bild, das nun in unserem Wohnzimmer hing, waren Lachse mitten im Sprung durch die Luft, hin zu einem kräftigen, stilisierten Wasserfall, zu sehen. Am Himmel waren die, wie Ray sie nannte, „Geisterfische“ auf ihrem Weg in die entgegengesetzte Richtung in die Wolken hineinskizziert. Auch die Felsen im Hintergrund waren bewohnt und mit prähistorischen Augen übersät.
Jeden Morgen tranken wir unseren Kaffee vor diesem Gemälde, und manchmal war Ray dort am Tage allein beim Meditieren anzutreffen. Wenn ich mir das Bild jetzt ansehe, scheint mir Rays besondere Lebendigkeit dort eingebettet, in dem prachtvollen Schauspiel eines Kreislaufs, das wir jahrein, jahraus in dem Fluss unterhalb unseres Hauses beobachten konnten. Auf dem Bild sind die Fische stromaufwärts unterwegs, auf ewig sich vor dem Licht verneigend, in ihrem kraftvollen, entschlossenen Flug über das Wasser, und darüber schweben die Geisterfische unbeschwert in einer entgegengesetzten Strömung, von ihrem Kampf befreit.
In Alaska, bei einem letzten Angelausflug, hoben wir unser Glas mit Perrier, um einen Toast auf das Buch auszubringen, und auf uns, weil wir es gegen so viele Widrigkeiten fertiggestellt hatten. In den entscheidenden letzten Tagen unserer Arbeit waren Gäste zu einem mehrtägigen Besuch eingetroffen, und Rays Sohn war aus Deutschland gekommen. Wir machten weiter und unterteilten den Tag, bis die Arbeit fertig war. „Sag ihnen nicht, dass wir fertig sind“, sagte er zu mir – mit „ihnen“ meinte er den Besuch.

Ich möchte, dass du hier bei mir bist.

Das Buch gab uns also die Entschuldigung, noch ein paar kostbare Vormittage miteinander zu verbringen, bevor die, wie sich erwies, letzte Phase seiner Krankheit begann. Nachdem unsere Gäste abgereist waren, machten wir Anrufe hier und da, in dem verzweifelten Versuch, eine Reise nach Russland zu arrangieren, wo wir Tschechows Grab und die Häuser von Dostojewski und Tolstoi besuchen wollten. Bestimmte Orte, die mit Achmatowa assoziiert waren, wollte ich gern aufsuchen. Obwohl die Reise nicht stattfinden sollte, waren unsere Planungen in diesen letzten Tagen wie eine Art Traumbesuch, und er hob unsere Stimmung. Später, als Ray im Krankenhaus lag, sprachen wir darüber, was für eine großartige Reise es gewesen wäre. „ Ich mache die Reise“, sagte ich. „Ich reise für uns beide.“ „Ich bin vor dir da“, sagte er und lächelte.

Ich reise schneller.

Nach Rays Tod am 2. August zu Hause in Port Angeles kamen viele Wochen lang große Mengen von Post – Briefe und Karten von Menschen in aller Welt, die über seinen Tod trauerten – mit oft sehr bewegenden Berichten über eine manchmal nur kurze Begegnung mit ihm, über Dinge, die er gesagt hatte, über eine freundliche Geste, über Geschichten aus seinem Leben, als ich ihn noch nicht kannte. Auch Kopien der Nachrufe aus den Zeitungen im ganzen Land trafen ein, und eines Tages machte ich ein Paket aus London auf, das den Nachruf aus der Sunday Times enthielt. Die Titelzeile über einem Foto von Ray mit Händen in den Jackentaschen lautete:

Der amerikanische Tschechow.

Der Guardian formulierte besitzzuweisend:

Amerikas Tschechow.

Es kam mir so vor, als läse ich diese Nachrufe zusammen mit Ray und trüge sein Wissen davon bei mir. Eine der beiden Überschriften hätte als Ehrung ausgereicht, um ihn demütig und zutiefst glücklich zu machen.
Zum Schluss scheint es mir wichtig zu sagen, dass Lyrik für Ray nicht ein Hobby war oder eine Freizeitbeschäftigung, der er sich zuwandte, wenn er eine Pause von seinen Geschichten suchte. Lyrik war eine spirituelle Notwendigkeit. Die Wahrheiten, zu denen er über seine Gedichte gelangte, setzten ein Niederreißen von Künstlichkeit in einem Ausmaß voraus, wie das selbst William Carlos Williams, den er von früh an bewunderte, nicht hatte vorwegnehmen können. Ray hatte die folgenden Zeilen aus Miłosz’ Ars Poetica? gelesen, und sie sprachen ihn an:

Immer wünschte ich mir eine umfassendere Form,
die weder zu sehr Poesie noch zu sehr Prosa sei
und die Verständigung erlaubte, ohne irgendwen,
Autor oder Leser, dem Druck von oben auszusetzen.

Im Wesen der Poesie liegt etwas Unanständiges:
in uns entsteht etwas, um das wir nicht wussten,
und wir blinzeln, als spränge ein Tiger aus uns heraus,
der nun im Licht steht und mit dem Schweif schlägt.

Ray benutzte seine Gedichte, um den Tiger aus seinem Versteck aufzuscheuchen. Zudem betrachtete er sein Leben und Schreiben nicht als ein Angebot von Produkten an seine Leser, und er widersetzte sich absichtlich, wenn Druck auf ihn ausgeübt wurde, weitere Storys zu produzieren, weil darauf sein Ruf basierte und weil dort der größte Gewinn lag, was Veröffentlichungen und Leser betraf. Ihm war das gleichgültig. Als er den Mildred and Harold Strauss Living Award erhielt, der nur an Prosaschriftsteller verliehen wird, machte er sich unverzüglich daran, zwei Gedichtbände zu schreiben. Ihm war nicht daran gelegen, eine Karriere aufzubauen – er folgte seinem Ruf als Schriftsteller, und das bedeutete, dass sein Schreiben, ob Lyrik oder Prosa, an innere Mandate gebunden war, die mehr und mehr darauf bestanden, sich den Gegenständen möglichst unvermittelt zu nähern, und Lyrik war die Form, die das am besten zuließ.
Ich kann mir vorstellen, dass manche, die Rays Geschichten liebten, weniger aber seine Gedichte, glaubten, er sei von seinem Weg abgewichen, weil er in seinen letzten Jahren der Lyrik so viel Zeit gewidmet hatte. Damit aber würden sie sich das Geschenk des Unverbrauchten versagen, das seine Gedichte in dieser leidenschaftslosen Zeit bieten. Die Würdigung moderner Lyrik bleibt bei uns weit hinter dem zurück, was Prosaschriftstellern zuteil wird, und es wird noch eine Weile dauern, bis Rays Bedeutung als Lyriker angemessen erfasst wird. Bisher ist der klügste Essay über seine Lyrik der von Greg Kuzma, veröffentlicht im Michigan Quarterly Review (Frühling 1988). Es ist möglich, dass Ray auf seine eigene Art die Vorstellung von dem, was Lyrik zu bewerkstelligen vermag, ebenso auf die Probe gestellt hat, wie er der Kunst der Short Story neue Kraft gegeben hat. Gewiss ist, dass er sein Leben und Schreiben in seinen letzten zehn Jahren nach seinen eigenen Vorstellungen gestaltete, und als seine Begleiterin in diesem Leben bin ich froh, dass ich ihm dabei helfen konnte, seine Lyrik auf dieser Reise lebendig zu halten – für den Trost und den Seelenfrieden, den er angesichts seines allzu frühen Todes so wesentlich daraus bezog.

Tess Gallagher, Nachwort

 

Niemand hat die Kunst der Short Story

in den letzten fünfzig Jahren so sehr geprägt wie Raymond Carver: Seine Bücher wie das berühmte Wovon wir reden, wenn wir von der Liebe reden stehen im Regal gleich neben Hemingway und Tschechow. Und doch begann sein Schreiben mit Gedichten. Zu ihnen kehrte er zurück, als der Arzt ihm eröffnete, er hätte nur noch ein Jahr zu leben.
Wie in seinem Testament finden wir in den Gedichten alles, was seine Geschichten so unverwechselbar macht: die Zurückgenommenheit der Stimme, die Lakonie der Worte, die aufmerksame Zugewandtheit, mit der die sinnliche Präsenz der Dinge und Personen gegen die eigene Endlichkeit abgewogen wird. Mit zärtlichem Gleichmut hat in diesen Texten jemand jede Unentschiedenheit abgelegt, weil er sich über den Lauf der Welt keine Illusionen mehr macht. Seine Gedichte teilen sich mit seinen Geschichten ein Herz.

S. Fischer Verlag, Klappentext, 2013

 

Polarstern des Lebens

– Der für seine Storys bekannte Raymond Carver als Lyriker. –

Das Wort Liebe ist ein tückisches Ding. Obwohl ein allgemeiner Begriff, versucht es etwas ganz und gar Flüchtiges und Besonderes zu fassen. Der 1988 verstorbene amerikanische Schriftsteller Raymond Carver ließ sich von diesem Paradox nicht schrecken. Bei ihm füllt sich das Wort im Nu mit Sinnlichkeit, wird dunkel, schwer – schüttelt sich sogar. Und fängt an zu wachsen und zu zittern, bis es loskriecht und sich „zuckend / durch diese Seiten bewegt“.
Gedichte waren für Raymond Carver ständige Begleiter. Ihnen verdankte er die Berührung mit der Literatur, seinen „Polarstern“ für das eigene Leben, wie er es in einem kleinen Essay genannt hat. Und Verse las er an beinahe jedem Tag. Gedichte standen aber auch, bei aller Liebe zur Form der Erzählung, am Anfang seines eigenen Schreibens. Winter Insomnia heißt einer der ersten Bände, der schon etwas von Carvers Faible für die Erlebniswelten zwischen Wachen und Schlaf andeutet. Als im Jahr 1987 eine schwere Krebserkrankung ausbrach, tauchte er noch einmal ein in die „Sommernebel“ der Lyrik. So entstand eine Sammlung von intensiven Stücken, die an die frühen Verse anschließt und in der es Carver doch gelingt, das Gedicht mit seiner Idee vom Erzählen anzureichern.
Immer wieder sucht er Momente oder Erscheinungen auf, die das kaum Greifbare spürbar werden lassen. Und in denen die Welt durchlässig wird für das, was er die „andere Seite“ nennt. Es ist jene eigenartige Sphäre, die den Raum der Imagination ebenso meinen kann wie das Jenseits des Lebens. Ein bloßer Schimmer in der Abendluft, Dinge, kurz vor dem Verschwinden – oder die Liebste im Schlaf, wie sie sich „regt und atmet und / wieder schläft, // Teil dieser Welt, und doch / Teil jener“.
Bei so viel Lust an der Kraft von „zwei Welten“ mag es kaum verwundern, dass sich Carver nicht mit den eigenen Texten begnügt. Er mischt sie mit Gedichten von Czesław Miłosz, Jaroslav Seifert oder Tomas Tranströmer – und vor allem: mit kurzen Stellen aus Erzählungen von Anton Tschechow. Diese fremden Stimmen bilden Echos und Kommentare zu Carvers Zeilen, manchmal erscheinen sie auch wie die fehlenden Teile in einem Zyklus. Wenn Tranströmer die „fünfzehn Sekunden Kampf in der Hölle“ beschreibt, als er beim Aufwachen nicht mehr wusste, wer er war, oder Tschechow von all den „Einzelheiten dieses seltsamen, stürmischen Tages“ spricht, leuchten Momente von Carvers eigener Poetik auf.
Es ist kein Zufall, dass Carver ausgerechnet einen Erzähler am häufigsten in seine Sammlung holt. Einen solchen zudem, der schimmernde Bilder entwirft und mit den Lücken zwischen diesen Bildern spielt. Carver selbst spinnt oft lange Erzählgedichte, die in freien Rhythmen Kindheitsszenen oder Liebesgeschichten auffalten. All dieses „Durcheinander aus den Tiefen der Erinnerung“ gewinnt seine imaginative Kraft aber nicht nur aus den erzählten Details, sondern auch aus Dingen, Zusammenhängen, Resten von Geschichten, die das Gedicht nur aufscheinen lässt. So gleichen die Verse nicht selten jenem Köder, von dem es heißt:

Er tauchte auf, dann
verschwand er, dann war er noch einmal zu sehen,
glitt an der Oberfläche dahin, tauchte wieder unter

Überhaupt sind es Motive wie das Angeln, der Fisch oder das Boot, die sich durch den ganzen Band ziehen, hier in einem Vers über die Liebe, dort in einem Dinggedicht. Dabei gelingt es Carver, den nahenden Tod zwischen den Zeilen auftauchen zu lassen, ohne in Rührseligkeit zu enden. Es hat seine traurige Ironie, dass Helmut Frielinghaus, Carvers langjähriger Übersetzer, während der Arbeit an den Gedichten selber schwer erkrankte und nur ein halbes Jahr nach Abschluss seiner Übertragung starb. Bisweilen wünschte man sich, der Verlag hätte den deutschen Gedichten die englischen an die Seite gestellt, um als Leser vergleichen zu können. Doch auch ohne den Blick auf die Originale wird klar, wie gut es Frielinghaus geschafft hat, Carvers ganz eigenen Rhythmus oder seinen gekonnt flapsigen Ton ins Deutsche zu überführen.
„Die Zeit ist ein Silberlöwe“, heißt es einmal nicht ohne melancholischen Beiklang. In der wenigen Zeit, die ihm bis zu seinem Tod im August 1988 noch blieb, vermochte es Carver, aus beinahe allem ein Gedicht zu machen, aus „zerrupft / aussehenden Vögeln“, aus Fensterblicken, ja sogar aus den Notizzetteln, die er in den Taschen des Bademantels fand. Eines der schönsten Gedichte erzählt von einem Paar, das zwei Kammerjäger kommen lässt, um in ihrem Haus all die Bienen, Hornissen und Wespen zu töten, die gleichermaßen zur „Plage“ und zum Schrecken geworden sind. Wie es Carver dabei gelingt, noch im Rascheln und Schaben der Insektenflügel hinter der Wand den Akt des Tötens fühlbar zu machen, ist eine Kunst für sich. Als Leser bleibt man ebenso staunend zurück wie jener Junge aus Carvers Erinnerung, der den Vater gerade mit einer fremden Frau überrascht hat:

verwundert über
die gestotterten Silben, die Wörter, die haften blieben

Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 16.7.2013

Kafka beim Tennisspielen

– Der letzte Gedichtband des 1988 verstorbenen US-Autors Raymond Carver strahlt von schlichter Eleganz. Seinen eigenen Texten hat er darin Arbeiten von Kollegen gegenübergestellt, die er schätzte. –

Ein Mann träumt davon, angeln zu gehen und sich eine Bachforelle zum Frühstück zu fangen. Dann wacht er auf, und vor der Tür steht keine Angel, dort stehen die Schuhe, die er sich gekauft hat, um endlich einen neuen Job zu finden. „Suche nach Arbeit“ heißt das Gedicht von Raymond Carver. In wenigen Zeilen wird alles verhandelt, was den Carver-Kosmos so faszinierend macht: einfache Geschichten von einfachen Leuten, die von ihren bescheidenen Sehnsüchten und Träumen erzählen. Und von ihren Schwierigkeiten, denn meist sind sie zutiefst verzweifelt vom zermürbenden Alltag.
Seine Kurzgeschichten haben Raymond Carver, Jahrgang 1938, zu einem der berühmtesten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts gemacht. Er war fünfzig Jahre alt, als ein Arzt ihm mitteilte, dass er Krebs habe und nur noch wenige Monate zu leben haben. Carver beschloss, nur noch Gedichte zu schreiben. Weil sie schneller gehen, weil sie kürzer und präziser sind. So versammelt Ein neuer Pfad zum Wasserfall die letzten, literarischen Arbeiten dieses Autors – von ihm selbst zusammengestellt. Und diese Arbeiten sind sehr unterschiedlich: Da gibt es Beschreibungen seiner späten Reisen, da gibt es Gedichte über die Liebe und über die Angst, die Liebe zu verlieren. Nicht zuletzt sind es auch die Erinnerungen an die Vergangenheit, die Carver in seinen Gedichten beschreibt. „Die Küche“ ist eine Variante auf eine klassische Carver-Short-Story: Ein Junge sitzt am Fluss und angelt fast den Fisch seines Lebens. Aufgeregt rennt er nach Hause, um seinem Vater davon zu erzählen – aber der ist beschäftigt:

Mein Vater war betrunken
und saß in der Küche mit einer Frau, die nicht seine Frau war und auch nicht
meine Mutter.

Die Sprache der Gedichte ist von schlichter Eleganz: Man versteht diese Lyrik, die sich auf keine intellektuellen Spiele einlassen muss, die oftmals wunderbar leicht und von bitterer Komik ist: Während einer Zugfahrt sitzt ein Mann im Speisewagen. Plötzlich weist der Schaffner auf einen Tennisplatz vor dem Fenster hin. Da spielt Franz Kafka gerade, sagt er. Die Leute sehen hinaus, und der Reisende bemerkt:

Kafka selbst war Vegetarier und Abstinenzler,
aber das braucht keinen zu kratzen.

Das Außergewöhnliche an diesem Band: Raymond Carver hat seinen eigenen Gedichten thematisch passende Texte von ihm verehrter Autoren zur Seite gestellt. Von Tomas Tranströmer oder von Anton Tschechow beispielsweise. So entsteht ein reizvoller Dialog. Hinzu kommt die herausragende Übersetzung von Helmut Frielinghaus. Und die bringt eine weitere traurige Geschichte mit sich: Auch für Frielinghaus waren Carvers Gedichte das letzte Projekt; nach der Übersetzung starb er. Immer wieder ist man zu Tränen gerührt von diesem einmaligen Buch – erst recht beim letzten Gedicht, das den einfachen Titel „Spätes Fragment“ trägt:

Und – hast du bekommen, was
du haben wolltest von diesem Leben, trotz allem?
Ja, hab ich.
Und was wolltest du?
Sagen können, dass ich geliebt werde, mich geliebt
fühlen auf dieser Erde.

Martin Becker, Deutschlandfunk Kultur, 2.5.2013

Weint nicht um mich

– Der amerikanische Autor Raymond Carver (1938–1988) ist vor allem als Verfasser von minimalistisch verdichteten Short Storys bekannt. Daneben hat er jedoch zeitlebens auch Gedichte verfasst; sein letzter, in den Monaten vor dem Krebstod des Schriftstellers entstandener Lyrikband liegt jetzt auf Deutsch vor. –

Vor einiger Zeit wurde in der New York Times eine literarische Debütantin wegen stilistischer Mängel ziemlich gnadenlos gedroschen; etwa, weil sie Herzen gelegentlich „singen“ oder „sinken“ liess. Kann man das nicht genauer sagen, bitte? Etwa so?

Sein Herz, das ein paar Minuten vor dieser Nachricht
erfüllt und voll Leidenschaft gewesen war und, ein paar Minuten lang wenigstens,
unbekümmert und sorglos, schrumpfte in seiner kleinen Kammer,
bis es nur ein faustgrosser Muskel war, der freudlos
seine Pflicht versah.

Das ist zwar nicht ganz die sehnige Lakonie, die man zuallererst mit Raymond Carvers Stil assoziiert; doch fasst der Hohlspiegel dieser Worte präzis die seltsame Doppelnatur des Organs, in dem wir unsere Gefühle lokalisieren.
Carver ist vor allem als Erzähler bekannt, dessen eben erwähntes, prägendes Stilmerkmal sich nicht zuletzt den energischen Ein- oder Übergriffen seines Lektors Gordon Lish verdankte. Neben der Kurzprosa hat er jedoch zeitlebens auch Gedichte geschrieben; und sein nun bei Fischer erschienener Lyrikband Ein neuer Pfad zum Wasserfall ist gleich zum doppelten Vermächtnis geworden. Er versammelt Texte, die Carver, der 1988 fünfzigjährig verstarb, im Schatten des nahenden Krebstods verfasste; und die deutsche Fassung ist zur letzten Arbeit des Übersetzers Helmut Frielinghaus geworden, der seine Kunst mit der ihm eigenen Kompetenz und Zurückhaltung zuvor schon in den Dienst von Carvers Prosawerken gestellt hatte.
Eingefasst wird das Buch von einem kurzen Vorwort des Übersetzers und einem längeren Text der Lyrikerin Tess Gallagher, mit der Carver seine letzten Lebensjahre verbrachte. Während dieses späte Zeugnis die Entstehung des Gedichtbandes beleuchtet, blendet der sozusagen als Herzstück in dessen Mitte gebettete, von Carver selbst verfasste Text „Ein bisschen Prosa über Gedichte“ auf einen Schlüsselmoment in der literarischen Biografie des Autors zurück. Noch nicht zwanzigjährig, betrat der aus zerrütteten und wenig privilegierten Verhältnissen stammende junge Mann, der im Stillen schon um eine eigene Sprache rang, auf einem Botengang ein Haus, wie er es nie gesehen hatte: Eine ganze Wand des Wohnzimmers war mit Bücherregalen bestückt, auf dem Sofatisch reizten eine literarische Zeitschrift und eine kommentierte Lyrikanthologie seine Neugier:

Was um alles in der Welt war das? überlegte ich. Ich hatte noch nie ein Buch wie dieses gesehen – und natürlich auch noch nie eine Zeitschrift wie Poetry. Ich sah vom einen zum andern, und insgeheim hätte ich gern beide für mich gehabt.

Der betagte Hausbesitzer spürte, was da vor sich ging, trennte sich von den begehrten Schätzen: „Nichts, was diesem Augenblick entfernt gleichkäme, ist seither geschehen“, schreibt Carver am Ende des kurzen Prosastücks. Und die Lyrik wird ihm dann auch Begleiterin in der rasch schwindenden Lebenszeit: „Diesen Monat sind sie jeden Tag gekommen“, heisst es von den Gedichten in einem, das mit wunderbarer Gelassenheit und Bescheidenheit diesen letzten schöpferischen Freiraum umreisst.
Gemeinsam mit dem Schriftsteller hat Tess Gallagher die Konzeption des in sechs Sektionen aufgeteilten Bandes erarbeitet, dessen Besonderheit nicht zuletzt darin besteht, dass Carver – dem Beispiel von Czesław Miłosz folgend – Texte von anderen Autoren in die Gedichtfolge einarbeitete, die Thema, Motivik und Atmosphäre der einzelnen Sektionen reflektieren und kondensieren. Meist sind es Passagen aus Tschechows Erzählungen, mit denen sich Carver in jenen letzten Monaten intensiv befasste und die, von ihm in lyrischen Zeilenfall gebracht und mit Titeln versehen, den Dialog mit den eigenen Gedichten aufnehmen. Dem sorgfältig durchkomponierten und mit den erwähnten Prosatexten sinnfällig ergänzten Band eignet damit eine Dichte und Aussagekraft, die ihn zu einer schlüssigen Summe von Carvers Schaffen macht.
Das erste Segment versammelt frühe, zuvor unpublizierte Gedichte, an denen – vor dem Hintergrund eines so fest in amerikanischen Milieus und Befindlichkeiten wurzelnden Œuvres – die häufigen mediterranen Bezüge auffallen. Sie scheinen auf in der Reminiszenz an Ereignisse und Figuren aus Antike und Renaissance, in Momenten, da – in einer griechisch-orthodoxen Kirche oder unterwegs im Heiligen Land – die Religion, versöhnlich oder erschreckend, den „Ungläubigen“ einholt; oder in der „Zitronensonne“ und im „Olivenschwarz“ des nächtlichen Meers. Das die Sektion abschliessende Liebesgedicht, das einen der – raren – Momente reinen Glücks festhält, schreibt diesem, kursiv hervorgehoben, schon die Frage ein, die im Blick auf die Entstehungszeit des Buches reale und finale Dringlichkeit gewinnt: „Wie lange haben wir?“
Zeit genug – das wird das Folgende zeigen –, um nochmals den Lebens- und Schaffenshorizont des Autors auszuschreiten. Ein neuer Pfad zum Wasserfall versammelt zahlreiche Gedichte, die den Erzähler Carver sozusagen „at his shortest“ zeigen und wie auf zwei, drei Seiten komprimierte Storys anmuten. Da gerät, nach einem aus der verbissenen Stummheit zwischen entfremdeten Ehepartnern hervorbrechenden Moment physischer Gewalt, schon die Erinnerung ans Glück des Hochzeitstags ins Zwielicht – allein durch die Nahaufnahme, die zeigt, wie „ihre Hände gemeinsam das Messer führten und sie / den ersten Schnitt tief in die Hochzeitstorte machten. / Dann den nächsten.“ „Beinahe“ zeigt ein kultiviertes Paar, das seinen ganz alltäglichen Sündenfall – ein im Dachstuhl eingezogenes Bienenvolk soll vernichtet werden – nur totzuschweigen, aber nicht zu verdrängen vermag; und im Gedicht mit dem harmlosen Titel „Limonade“ dürfte sich die dramatische Bergung eines ertrunkenen Jugendlichen, die dessen Vater in den Wahnsinn treibt, dem Leser ebenso einprägen wie die komprimierte, unterschwellige Wucht von „Noch ein Geheimnis“, das aus einem denkbar nebensächlichen Motiv – ein Anzug wird aus der Reinigung abgeholt – eine drei Generationen übergreifende Meditation über das Sterben entwickelt.
Führt man sich die Heimsuchungen von Carvers letzter Lebenszeit vor Augen – der Krebs griff von der Lunge aufs Gehirn über –, dann beeindruckt umso mehr, mit welcher Zurückhaltung und Genauigkeit hier von letzten Dingen gesprochen wird. Wie lange haben wir? Nicht Zeit genug zum Hadern und Umsichschlagen. Zeit, stattdessen das bittere Destillat des eigenen Lebens in kristalline Gefässe zu giessen und zwischendurch einmal zu lächeln – so in dem bezaubernden Gedicht, das die Zehen zum Pars pro Toto des um seine jugendliche Spannkraft und Vitalität gebrachten Leibes erhebt. Zeit, die letzte Liebe zu besiegeln, im Gedicht und durch die Tat: Carver hat Tess Gallagher sechs Wochen vor seinem Tod geheiratet. Zeit auch, in „Glücksfall“ das Stundenglas des Todes souverän umzudrehen: Elf Jahre zuvor, berichtet das Gedicht, sei der schwer alkoholkranke Carver schon einmal am Scheideweg zwischen Tod und Leben gestanden.

Danach war alles Glück, jede Minute,
bis ihm gesagt wurde, und auch dann noch
nun ja, dass manches in ihm zerbrach und sich
anderes in seinem Kopf aufbaute. „Weint nicht um mich“,
sagte er zu seinen Freunden. „Ich bin ein glücklicher Mensch.
Ich habe zehn Jahre mehr gehabt, als ich oder irgendwer sonst
erwartet hätte.“

Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 4.6.2013

Carvers letzte Gedichte: ein Glücksfall, eine Botschaft,

ein Abschied

Mach was aus allem, das dich umgibt.
Dem sanften Regen
Draußen vorm Fenster, um damit anzufangen.
Der Zigarette zwischen meinen Fingern,
Den Füßen auf der Couch.
Dem leisen Sound von Rock-and-Roll,
Dem roten Ferrari in meinem Kopf.
Der Frau, die betrunken
In der Küche rumpoltert…
Mix alles zusammen,
Mach was draus.

„Mach was draus“ – ein Ende, wie gemacht für ein Gedicht, welches Eingang und Ausgang immer auf engstem Raum enthält und doch dazwischen ganze Welten beherbergt. Der Eingang in diese Welt ist oft ein Augenblick, der Ausgang oft der nahste und zugleich fernste Punkt, eine Art „letztendlich“.
Letztendlich – dieses Wort und die Stimmung, die es ausdrückt – teils Ablassen, teils Halten – passt auch sehr gut zu den Geschichten und Gedichten des Autors Raymond Carver. Wenn ein bestimmtes Wort einen Autor ausmacht, ihn einfangen & definieren kann, wenn es ein Wort gibt, das all seine Werke flüstern und tragen, dann ist es bei Carver dieses „letztendlich“, dieses Sonnenuntergangsdunkeln, diese Auslassung mit Nachklang.
Präzision und Reduktion machten seine Kurzgeschichten in den 70ern und 80ern berühmt, wobei bis heute ein Tam-Tam um deren zwiespältige künstlerische Urheberschaft gemacht wird, da Carvers Lektor Gordon Lish bei vielen der bekanntesten Erzählungen vorher einen recht locker sitzenden Rotstift ansetzte und so die bekannten Versionen jene sind, die von Lish um 40 bis 70% auf das Minimalistische gekürzt wurden – eine Form, welche lange als Carvers Markenzeichen galt. Auf Deutsch zuletzt (wie die meisten anderen Erzählbände Carvers, auch die späteren, von Lish gelösten Erzählungen aus Kathedrale) im Berlin Verlag erschienen, brachte der S. Fischer Verlag vor kurzem neben der klassischen auch die unlektorierte (Beginners: Uncut – Die Originalfassung) Fassung von Cavers bekanntestem Erzählband, Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden heraus, womit dieses Kapitel also neu besprochen werden kann.
In dem letzten Jahr seines Lebens (er starb 1988) schrieb Carver hauptsächlich Gedichte und in diesem Band findet man nicht mehr und nicht weniger als diese letzten Texte, aufbereitet mit einem Nachwort von seiner großen Liebe und Lebensgefährtin Tess Gallagher und durchzogen von einigen seiner Lieblingstexte anderer Autoren (hauptsächlich Tschechow, aber auch Tranströmer, Miłosz und Seifert), die zwischen seinen eigenen hier und da eingefügt sind.
Meine Beschäftigung mit Carver reicht bis in die Zeit meiner ersten Lektüreerfahrungen zurück und beim Lesen dieses Buches konnte ich mich erneut schwer der Faszination für diesen Autor entziehen. Letztlich vermutlich wie viele andere (amerik.) Autoren an seinem übermäßigen Genuss von Alkohol und Zigaretten gestorben, hat Carver doch gegen Ende seines Leben, mit seiner Liebe zu Tess Gallagher und seinem Schreiben etwas erlangt, was sich auch in seinen Texten (Erzählungen und Gedichten) sehr stark niederschlägt, als Gewissheit hinter all den heruntergekommenen Fassaden von Beziehungen, Hoffnungen, Lebensentwürfen und Geschehnissen. Schon immer schimmerte diese eigensinnige Gewissheit durch und gab seinen Texten neben ihren realistischen und unverstellten Schilderungen einen Hauch von lebensechter Symmetrie, in der weder Glück noch Unglück je den Sieg davontragen, wenn sie auch die ein oder andere entscheidende Schlacht zu gewinnen scheinen. In diesen letzten Gedichten hat Carver dieser Gewissheit mehr als sonst nachgegeben, hat sie, dem Tod nahe, zu seiner Gewissheit werden lassen.

Am Naches-River. Gleich unter den Fällen.
Zwanzig Meilen von jeder Ortschaft entfernt. Ein Tag
dichten Sonnenlichts,
schwer von Liebesgerüchen.
[…]
Die Zeit ist ein Silberlöwe.
Wir lachen über alles und nichts,
und als ich deine Brüste berühre
sind sogar die Erdhörnchen
geblendet.

Was erzählen diese Gedichte? Zuerst mal: Ja, diese Gedichte haben zumeist eine erzählerische Art und Struktur – das Lyrische entsteht aus dem langsamen Gewahrwerden einer (übergeordneten/darstellenden/transzendenten/) Gestalt, die die Zeilen Stück für Stück mit der Geschichte formen und selten aus einem poetischen Blitz, obwohl Carver auch dies beherrscht. Daneben ist es als ein Werk des Abschieds natürlich von sehr viel Persönlichem erfüllt; sogar ein kurzer Prosatext, der die Geschichte von Carvers eigener Erweckung zur Literatur beschreibt, ist enthalten. Ansonsten überwiegt nichts, inhaltlich, und beinahe jedes Gedicht hat eine neue Perspektive zu bieten – Gedicht reiht sich an Gedicht und doch steht jedes für sich allein, weil ein Carver-Gedicht einen gegen Ende meist mit einer seltenen Form von zusammengeführter Kontemplation entlässt, die Summe seiner Zeilen genau zu der Stelle führt, an der wir aus den Versen heraus direkt in das komplette Abbild des Textes gehen können, wo wir seine Geschichten fast berühren können, wie eine Wasseroberfläche, unter der wir etwas Beeindruckendes beobachtet haben.
Dichtung ist ein Wagnis und doch ist Dichtung auch leicht; ein Gedicht: eine einzelne, kleine Ansage, auf die es keine richtige Reaktion gibt, außer den Gedanken und Gefühlen, die sich ergeben, während wir es lesen – das, was einfach seine Flügel ausbreitet und fliegt und kreist, wenn wir ihm auch nicht folgen können. Aber wir können sehen, betrachten, nachempfinden, erkennen, erfahren.
Ein Gedicht ist immer eine Geschichte, die zu viele Kanten hat, als dass man sie zu einem glatten Prosatext pressen könnte. Und doch, ganz zuletzt, ist es eine genauere Botschaft als eine lange Auslassung in Prosa. Botschaften – auch das sind Carvers Gedichte im hohen Maß und allein als diese sind sie schon sehr lesenswert, in ihrer unverstellten Art, die ihre tieferen Gründe sehr gleichmäßig über den Text verteilt. Als Botschaften über das, wovon wir reden, wenn wir von „Leben“ reden.

Zu spät höre ich den Film laufen,
der alles aufzeichnet.
Ich blicke in die Kamera.
Mein Lächeln gerinnt zu Salz. Salz,
wo ich stehe.

Timo, amazon.de, 12.5.2013

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: Carvers Universum
signaturen-magazin.de

Dominik Dombrowski: Als spränge ein Tiger aus uns heraus
fixpoetry.com, 11.7.2013

Peter Henning: Wir haben nur Worte
faustkultur.de, 13.3.2014

Sarah Reul: Ein neuer Pfad zum Wasserfall – Raymond Carver
pinkfisch.net, 25.4.2016

 

Ein neuer Pfad zum Wasserfall. Über Raymond Carver und seinen Übersetzer Helmut Frielinghaus. Lesung und Gespräch mit Jürgen Balmes, Judith Hermann und Susanne Höbel am 21.11.2013 im Literarischen Colloqium Berlin.

Gespräch I
Hans Jürgen Balmes spricht über Helmut Frielinghaus als Lektoren und Übersetzer und befragt Susanne Höbel zu ihrer Zusammenarbeit mit ihm.

 

Lesung I
Judith Hermann liest aus Ein neuer Pfad zum Wasserfall

 

Gespräch II
Gespräch über Carvers Lyrik und die Schreib- und Kompositionsprozesse bei seinen Romanen

 

Lesung II
Judith Hermann und Susanne Höbel lesen aus Ein neuer Pfad zum Wasserfall

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + Facebook
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Das Leben von Raymond Carver – Dokumentation aus dem Jahr 1989.

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