Robert Gernhardt: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die gestundete Zeit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die gestundete Zeit“, aus Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit. –

 

 

 

 

INGEBORG BACHMANN

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

 

Die gestundete Zeit

Ein guter, vielversprechender Titel: Eigentlich stundet man ja Schulden, doch solcher Aufschub währt, wie schon das Wort verrät, immer nur kurz: Sie sind nicht vertagt, die Schulden, nicht gewocht, gemonatet, gar gejährt, sondern lediglich gestundet.
Diese kleine aufschiebende Zeiteinheit auf die Zeit selbst und in toto zu übertragen, ist ein Einfall, der Beifall verdient – doch gilt dies auch für das Gedicht?
Es ist seit seiner ersten Veröffentlichung im ersten Gedichtband der Bachmann, Die gestundete Zeit, 1953, häufig gerühmt worden – auch deswegen, weil das Gedicht im Umfeld der damaligen metaphernseligen, spätsurrealen, wenn nicht verspäteten, deutschen Lyrik ungewohnt deutlich, sogar zeitbezogen daherkam. Oder doch nur daherzukommen schien?
„Es kommen härtere Tage“ – ein guter Einstieg, unmißverständlich und unpoetisch! Doch die Poesie wird dadurch rasch nachgeliefert, daß „die auf Widerruf gestundete Zeit“ sich – ganz unzeitgemäß – materialisiert, indem sie am Horizont sichtbar wird. Was freilich zunächst wieder ganz handfeste Folgen zu haben scheint, zumindest gilt das für ein lyrisches „Du“, das da nicht zu bleiben vermag, wo es sich gerade befindet: „Bald mußt du den Schuh schnüren.“ „Den“ Schuh, nicht „die Schuhe“, ein pars pro toto, das noch keine Rätsel aufgibt. Doch gilt das auch für die Vorhersage, bewußtes „Du“ werde die Hunde in die Marschhöfe zurückjagen müssen?
Erstmals erfahren wir etwas über den Ort des Gedichts. Die Marschhöfe verweisen auf norddeutsches, seenahes Flachland, das sich in wenig fruchtbare Geest und ertragreiche Marsch teilt – dunkel freilich bleibt, welcher Tätigkeit das angesprochene Du des Gedichts in diesem ländlichen Zusammenhang nachgegangen ist. Auf den Marschhöfen kann er kaum tätig geworden sein – die Tatsache, er werde die Hunde in besagte Höfe zurückjagen müssen, läßt den Schluß zu, die Tiere seien ihm nachgelaufen. Weil das „Du“ möglicherweise ein Fischer ist?
Auf jeden Fall ist von „Fischen“ die Rede, wenig überraschend, da der Fisch geradezu als Wappentier der deutschen 50er-Jahre-Lyrik gelten kann, nie zuvor und nie hernach tauchte er in derart vielen Gedichten unterschiedlichster Dichterinnen und Dichter auf. Nun also auch bei Ingeborg Bachmann – soweit so überraschungsfrei, lieferten besagte Fische nicht eine weitere, erklärungsbedürftige Begründung dafür, warum das Du die Marschen samt ihren Hunden werde verlassen müssen:

Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.

Nun sind Fischeingeweide ohnehin keine allzu warme Angelegenheit, und daß sie an trüben und windigen Sommertagen nicht unbedingt wärmer werden, lehrt die Lebenserfahrung. Doch ist das Erkalten besagter Eingeweide bereits ein Grund, den Schuh zu schnüren? Müßte nicht – träfe die Begründung denn zu – die gesamte Weltbevölkerung ständig auf Achse sein? Die Dichterin freilich beläßt es nicht bei den Fischen. Sie reicht ein weiteres Indiz nach, das den Aufbruch unaufschiebbar macht: „Ärmlich brennt das Licht der Lupinen“ – eine Feststellung, die es erlaubt, nach dem Ort des Gedichts auch die Zeit genauer zu fixieren: Da Lupinen in diesen Monaten zu blühen pflegen, befinden wir uns im Frühsommer. Der freilich wenig Sommerliches zu bieten hat. „Dein Blick spurt im Nebel“ – eine ungewöhnlich verhangene Wettersituation, welche auch das ärmlich brennende Licht der Lupinen klären dürfte, während die erneut festgehaltene Tatsache, „die auf Widerruf gestundete Zeit“ werde trotz besagten Nebels „sichtbar am Horizont“, getrost unter dichterische Freiheit abgeheftet werden kann: Ein Gedicht folgt anderen Gesetzen als denen platter Logik, und wenn einem solch immateriellen Phänomen wie der Zeit das Attribut der Sichtbarkeit zugesprochen wird, dann gilt das überall und immer, auch bei Nacht und Nebel.
Daß ein Gedicht anderen Gesetzen folgt, ist eine Behauptung, welche die Frage aufwirft, wie denn die dem Gedicht eigenen Gesetze beschaffen seien. Die Antwort wird von Gedicht zu Gedicht verschieden ausfallen.
Wenn sie denn überhaupt möglich ist und nicht mangels erkennbarer poetischer Gesetzmäßigkeiten für unmöglich erklärt werden muß. Was für viele Gedichte der 50er Jahre zutrifft, da in diesem Jahrzehnt die bis dato weitgehend noch beachteten Regelsysteme über Bord geworfen wurden, nicht nur Metrum, Rhythmus und Reim, sondern auch Wortwahl, nachvollziehbare Metaphern und überprüfbare Feststellungen. „Der Satz geht in Splitter“, befindet Walter Höllerer, Herausgeber der Anthologie Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, und er begrüßt, ja feiert diesen Satzbruch: „Zugleich aber beginnt die Erhellungskraft der einzelnen Körner“ – gerade war er noch in Splitter gegangen, der Satz, nun geht er in Körner, um sogleich wieder zu splittern, egal, Karl, sind ja eh alles nur Worte:

Im Einzelnen steckt das Ungeheuerste, in den Splittern offenbart sich neue Gewalt. Die Worte […] entwickeln bei ihrer thematischen Zusammenhanglosigkeit eine Kohärenz im inhaltlich Fremden.

Und so, weil ausgerechnet durchgehende Zusammenhanglosigkeit wieder einen Zusammenhang stiftet, so vertraut ein Großteil der 50er-Jahre-Lyrik darauf, durchgehende Sinnfreiheit werde dem Gedicht schon irgendeinen Sinn verleihen, und bestünde der lediglich in der Einsicht:

Alles so schön sinnlos hier!

Wenn Franz Mon die Frage stellt „Was kannst du mir tun“, und er dem angeredeten lyrischen Du nacheinander bescheidet: „Ich bin stärker als die Tsetsefliege“ sowie „Ich bin demütiger als der Dienst der Wanderameise“, so läßt er spätestens nach dieser Mitteilung all jene Leser auflaufen, die da vermuten, der Dichter werde sich auch weiterhin Insekten und deren Tugenden vergleichen. Geschnitten!
„Ich bin die Holzkohle / Im Brot der Karawane“, trumpft Mon auf – und macht es dem Leser noch vergleichsweise einfach: Er hätte sich ja auch ungestraft als „die Karawane im Brot der Holzkohle“ outen können.
Eine Willkür, die vor dem Gedicht der Bachmann zuschanden würde. Nicht in zersplitterten Worten, in festgefugten Sätzen redet sie – das macht ihr Gedicht ebenso lesbar wie angreifbar.
Das Gedicht ist in drei Strophen und eine alleinstehende letzte Zeile gegliedert; die zweite Strophe wartet mit einer überraschenden, bisher in keiner Zeile erwähnten Information auf. Das lyrische Du war die ganze gestundete Zeit über nicht allein:

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand.

Hatte sich die Zeit zur Sichtbarkeit materialisiert, so wird der Sand personalisiert: Er kann ins Wort fallen, befehlen und befinden, während die Geliebte klaglos in ihm untergeht – ein düsteres, wirkungsvolles Bild, das freilich der auf Widerruf gestundeten Zeit ihre unheilschwangere, endgültige, alles Leben betreffende Dimension nimmt: Was da zu Ende geht, ist offenbar doch wieder nur eine Beziehungskiste. Muß die sich derart sinister im Sande verlaufen? Könnte das lyrische Du nicht wenigstens den Versuch machen, der Versinkenden zur Hilfe zu kommen?
Nichts da, befindet das lyrische Ich, das sich nach einer Verszeile mit weiteren Anweisungen zurückmeldet, Befehlssätzen, welche die Eingangsbefunde aufgreifen, zuspitzen und – leider, leider – durch angestrengte Poetisierung Schritt für Schritt entwerten.
Dabei beginnen die letzten fünf Zeilen noch einmal schön lakonisch und strikt prosaisch:

Sieh dich nicht um.

Pech für die Geliebte, aber der ist auf Erden wohl nicht zu helfen. Also nichts wie weg: 

Schnür deinen Schuh.

In Ordnung, wird gemacht. Und weiter? „Jage die Hunde zurück.“ Auch den munteren Foxl? Na ja, wenn es sein muß – den würden die Kinder von diesem Marschhof vermutlich vermissen – obwohl, wenn er es auf dem Marschhof gut gehabt hätte, wäre der Foxl vermutlich ebenso wenig hier am Meer wie die anderen Hunde. Und zurückjagen… Wie jagt man Hunde zurück? Marsch, marsch, zurück auf die Marschhöfe? Ein Vorgang, der vermutlich auf Versuch und Irrtum hinauslaufen wird. Er bewegt sich zumindest im Rahmen des Machbaren. Und weiter? „Wirf die Fische ins Meer.“ Im Ernst? Die Tatsache der kalten Eingeweide und unsommerlichen Temperaturen läßt auf unverdorbene Fische schließen – sollte man die nicht lieber mit auf die Wanderschaft nehmen? Der Mensch muß doch was essen, der Hund hat dauernd Hunger. Die Fische aber sind eh schon tot, da nützt ihnen die Rückkehr in ihr angestammtes Element auch nichts mehr. Ist der Befehl nicht reichlich unüberlegt, lyrisches Ich?
„Lösch die Lupinen!“ Dieser einzige Satz des Gedichts, den ein Ausrufezeichen beschließt, ist auch ein schönes, ein nachdenklich stimmendes, ein erkenntnisforderndes Beispiel dafür, wie ein einziger einzeiliger Satz ein ganzes, aus 18 Sätzen und 24 Zeilen bestehendes Gedicht derart ins Schlingern bringen kann, daß es kippt und mit Totalschaden liegenbleibt. „Lösch die Lupinen“ – da ist die Poetin mit der Dichterin Bachmann durchgegangen, da kann sie einem – wie sie vermutlich meinte – höchst originellen Einfall nicht widerstehen, der sich freilich als Allerweltseinfall entpuppt, den, eine Metapher wörtlich zu nehmen: Neues aus Kalau.
Hatte sie zuvor vom ärmlich brennenden „Licht der Lupinen“ gesprochen und mit dieser Metapher, die wegen der nebligen Witterung nur matt leuchtenden Lupinenblüten gemeint, so überträgt sie nun das, was im Zusammenhang mit elektrischem Licht oder Flammenschein sinnvoll und machbar wäre, das Löschen nämlich, auf eine Pflanze, bei der weder ein Schalter umgelegt werden kann noch eine Lichtverminderung durch Wassereinsatz zu erreichen wäre; im Gegenteil: die würde dann nur noch leuchtender aufblühen.
Nein, das sind keine philisterhaften Kritteleien, welche dem Gedicht eine Verständlichkeit und Plausibilität abverlangen, die poetischer Weltsicht und dichterischer Weltverarbeitung zutiefst widerstreben. Ingeborg Bachmanns Gedicht ist insofern ein bedenkenswertes Gedicht, weil es die Möglichkeit, es zu kritisieren, selber liefert, nach dem Gesetz, nach dem es angetreten, kann es be- und auch verurteilt werden, und in der vorletzten Zeile hat die Dichterin auf derart unbedachte Weise gegen das ihrem Gedicht innewohnende Gesetz metaphernarmen, wenn nicht metaphernfreien Sprechens verstoßen, daß das Urteil nicht anders lauten kann als „leider ungenügend“.
Als ob die Bachmann das geahnt hätte, schließt sie ihr auf der Schlußgeraden entgleistes Werk mit prophetischen Worten:

Es kommen härtere Tage.

Ja, die sind angebrochen.

Robert Gernhardt, aus Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik, S. Fischer Verlag, 2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00