Das wächserne Lied in die krummen Tage.
Eine sehr laute Selbstschußanlage.
Die letzte Nadel im Krater. Die Triebe.
Die bestens gewürdigte Zelle der Liebe.
Eine Frau aus der Büchse, zinnern & fein.
Der rostige Windstoß bricht lachend herein.
Die Zunge auf Kohlen. Das scharfe Gefecht.
Das Brennesselblatt sitzt auf meinem Geschlecht.
Die Flaschenwarze. Frag mich nicht wie.
Die Waage der geltenden Anatomie.
Keine Topoi können mich diesmal retten.
Und nicht die riskanten Metaphernketten.
Hör die Stimmen im Strumpf. Nur Lug und Trug.
Der gefährliche überstaatliche Zug.
Der Funktionär mit der weißen Gabel.
Dem Tod abgelauscht ist das Leben der Fabel.
Ein Künstchen. Wies jeder Tag eines ist.
Das Aus. Es lebe der künftige Mist.
Dieser erste Band einer Rolf-Bossert-Ausgabe versammelt rund 260 Texte des Lyrikers. Es handelt sich dabei weder um eine streng nach Qualitätskriterien getroffene Auswahl noch um eine Gesamtausgabe, die keinen verstreuten Vers auslässt. Dafür wird der Weg des Dichters von den ersten poetischen Späßen, Sprachspielen, Gedichtparodien, Satiren u.a. bis zu den letzten hochkomplexen Bildkonzentraten Schritt für Schritt nachvollziehbar gemacht. Soweit genaue Entstehungsdaten vom Autor vermerkt waren, finden sich diese im alphabetischen Inhaltsverzeichnis.
Die Anordnung folgt grundsätzlich der Chronologie der Entwicklung über drei Etappen: 1972–1979, mit den Gedichten des Erstlingsbandes siebensachen und weiteren zwanzig aus derselben Zeit stammenden Texten, die größtenteils in Zeitschriften und Zeitungen verstreut erschienen sind, aber auch einigen unveröffentlichten;
1979-1984, mit den Gedichten des folgenden Bandes (neuntöter), einschließlich der von der rumänischen Zensur zurückgewiesenen und etwa dreißig zusätzlichen Texten aus dieser Zeit;
1984-85, mit den Gedichten aus der Zeit nach dem Ausreiseantrag, der den Verlust der Arbeitsstelle, des Veröffentlichungsrechts und jeglicher Sicherheit als Bürger des Staates Rumänien zur Folge hatte.
Die Gedichte für große und kleine Kinder, vom Autor in der Kategorie „Pseudokindergedichte“ zusammengefasst und im Einzelnen nicht genauer datiert, stammen aus dem Jahr 1982; die meisten davon sind im Juniheft 1982 der Bukarester deutschen Literaturzeitschrift Neue Literatur veröffentlicht worden.
Die Kleinschreibung galt dem jungen Autor als wichtiges Abgrenzungsmittel gegenüber dem Konventionalismus der Älteren, später wurden andere Gesichtspunkte zunehmend wichtiger, so dass er für den zweiten Band der Rückkehr zur klassischen Orthographie zustimmte. Auch sonstige orthographische Eigenheiten sind in dieser Ausgabe gewahrt.
Als der Rotbuch Verlag im Herbst des Jahres 1986 Rolf Bossert den Lesern in der Bundesrepublik mit einer Textauswahl von rund 80 Gedichten vorstellte, war der Name dieses Autors zwar schon einmal durch die deutsche Presse gegangen, doch bekannt war er in Deutschland nicht auch nicht in den vagen, schemenhaften Umrissen, wie man diesen oder jenen „bekannten Dichter“ kennt (den man nur eben nicht gelesen hat). Rolf Bossert war Weihnachten 1985 als so genannter Spätaussiedler aus Rumänien angekommen und hatte seinem Leben knapp zwei Monate danach ein Ende gesetzt. Auf der Milchstraße wieder kein Licht hieß der Rotbuch-Band – war Rolf Bossert ein Außerirdischer, lag „Rumänien“ vielleicht auf dem Mond? Was für Menschen sind das, die „Spätaussiedler“, was ist ihre Kultur, ihre Kunst? In höherem Maße noch als sonst bei Dichtern fremder Kulturen fehlte hier der stützende, Aufklärung verheißende Kontext, das einigermaßen sichere Bezugsfeld. Mehr als sonst ruhte die ganze Ausweislast auf den Texten selbst, auf dem Werk des Dichters.
Heute, zwanzig Jahre nach seinem Tod, hat sich daran im Grunde nichts geändert, obwohl im Gefolge der Veröffentlichungen einiger Schriftstellerkollegen aus demselben „Biotop“ – Herta Müller, Richard Wagner, Franz Hodjak, Klaus Hensel, Werner Söllner, Johann Lippet – jenes erforderliche Vorwissen um die prägenden Verhältnisse und Zusammenhänge, das eine „normale“, spontan zumindest vermeintlich verstehende Lektüre ermöglicht, vielleicht etwas zugenommen hat. Zugleich aber ist jene ganze real existierende Horrorwelt des „Kommunismus“, die den festen Rahmen der lebensweltlichen Folie abgab, mit der Entwicklung der letzten Jahre dermaßen weit ins Historische geglitten, dass es heute entweder gar nicht mehr gelingt, ihre menschlich-dramatische Dimension nachvollziehbar und spannend zu vermitteln – oder paradoxerweise ein unmittelbares Verständnis eben nur auf der Ebene der menschlichen Dramatik zustande kommt, ohne dass die höheren Schrecken des politisch-moralisch Abgründigen damit verbunden wären wie im Falle des Naziregimes/Holocausts. (Imre Kertész, der sich nach seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis immer wieder dagegen verwahrte, als Autor von „Holocaust-Literatur“ wahrgenommen zu werden, statt den direkten Bezug zu den Erfahrungen im kommunistischen Ungarn zu sehen, bringt es auf die prägnante Formel: „Eine Diktatur geht immer Richtung Auschwitz.“) Eine Literatur aber, die ganz ohne jeden Hinweis auf Auschwitz genau diesen Horizont aufreißt, die in ihren Bildern die drohende Unrettbarkeit spürbar macht, in die wir mit unseren diversen totalitären Systemen hineinsteuern, sollte heute überall verstanden werden, ganz gleich, wie nah oder wie fern einem die konkrete Erfahrungswelt des Autors ist. Eine gewisse Sensibilität für den enormen Formenreichtum der Unfreiheit, aber auch des Widerstandes dagegen darf vorausgesetzt werden. Dennoch sei hier auf einige Eigenheiten hingewiesen, deren Kenntnis den Zugang erleichtern mag.
Bosserts poetische Anfänge standen im Zeichen eines doppelten Achtundsechziger-Nachhalls: Zum einen hatte der spätere Conducator sich 1968 offen gegen Moskau, auf die Seite Dubčeks gestellt und damit Prager Frühlingshoffnungen auch in Bukarest geweckt (man erinnere sich an den Slogan: „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“), zum anderen waren die angehenden jungen Literaten und Intellektuellen der deutsch besiedelten Provinzen Rumäniens relativ gut versorgt mit Zeitgeistprodukten der westlichen/bundesrepublikanischen Achtundsechzigerjahre, so dass offizielle Reformversprechungen und jugendlicher „linker“ Aktivismus zusammenwirkten beim Entstehen jener ungebärdigen, vielfach als Anti-Poesie daherkommenden Literatur, die dem Autorenkreis, dem auch Rolf Bossert angehörte, den Namen Aktionsgruppe Banat eintrug.
Nicht das eigene Gefühlsleben oder die erhabene Natur oder ein artig gereimter Nachvollzug großer Visionen standen für diese Anfänger im Mittelpunkt, sondern das klare Bedürfnis, möglichst effektiv mitzureden, „kritisches Bewußtsein“ zu artikulieren, erstarrte Konventionen aufzubrechen. Obwohl natürlich auch dieses Muster nicht originell, sondern nur selbstgestrickt war, hielt es die Mitglieder der Gruppe vergleichsweise erfolgreich von jenem epigonalen Dilettantismus fern, der so vielen Möchtegernpoeten fatal anhaftet. Rolf Bossert, der in den 12/13 Jahren seines poetischen Wirkens von solchen Anfängen bis zu den späteren Höhepunkten seiner Lyrik einen weiten Weg zurückgelegt hat, beschreibt einmal in einer Notiz, wie die Bruchstücke moderner Weltlyrik, die er als junger Schreibender ehrfurchtsvoll-verständnislos zur Kenntnis nahm, geradezu ein wildes Schuldgefühl und lähmende Angst in ihm erzeugten, da er dachte, all diese ihm sich verschließenden Geistesgrößen müssten „für jede kleinste sprachgewordene Regung, an jedem Punkt ihrer bizarren Gebilde“ eine Übersetzung in eine ihm zugängliche Sprache parat haben. Und angesichts solch unerreichbarer Höhen und abgründiger Tiefen des Dichterischen ergriff ihn die Angst, vor sich selbst als „mickriger Hochstapler“ dazustehen, wenn er mal einen Vers gebar, der sich nicht ohne weiteres in Klartext übertragen ließ. So wandte er sich denn lieber dem aphoristisch-pointierten Gedicht und dem Wortspiel zu:
Ich illustrierte Allerweltsweisheiten auf gefällige, leidlich kluge Art und ließ mir einreden, dass ich neue Zusammenhänge entdeckt habe, die bisher – schau, schau! – der Menschheit vorenthalten geblieben waren. Da fühlte ich sicheren Boden unter den Füßen, das Spiel war durchschau- und somit erklärbar. Schritte in Richtung konkrete Poesie boten sich von selbst an. Ebenso selbstverständlich: die Hinwendung zum brechtepigonalen Krinolinengedicht (d.h. die These als Reifengeflecht, die den bunten Fetzen Text trägt). Die Einbindung in die Gruppe von Gleichgesinnten war vollzogen, uns verbanden gemeinsame soziale und politische Vorstellungen. Doch ich könnte Ideale, die mich geprägt haben auf Lebzeiten, heute schwer benennen. (Unveröffentlichtes Ms.)
Getragen werden die flotten Spreng-Sätze jener frühen Zeit, als er sich die Formel seines Temeswarer Mitstreiters Richard Wagner vom Dichter als dem „sanften Guerillero“ zu Eigen machte, von einem ungemein treffsicheren Sprachwitz, angereichert mit feiner bis hochgradig ätzender Ironie/Selbstironie. Und der Knalleffekt war naturgemäß stets umso sicherer, je dicker die Luft, d.h. je gewagter die Eulenspiegelei war. Politisch harmlose Scherze lohnten das Aufschreiben nicht, die Übertölpelung der Zensur gehörte zu den Grundübungen engagierter junger Schriftsteller. So wird etwa aus der relativ schlichten, logischen Konsequenz, dass auf die Spieleröffnung mit A der nächste Schritt B folgen muss, nur dann eine irgendwie überraschende, also poetisch relevante Aussage, wenn man erstens das Wort „schreibe“ analytisch so zerlegt, dass „schrei B“ daraus wird, und man sich zweitens klar macht, dass das Schreiben (die Arbeit der Literaten) vom totalitären Staat mit Argusaugen überwacht wurde, um eventuelle Unmutsäußerungen, mehr oder weniger versteckte Kritik, potenziell illoyales Verhalten zu unterbinden. Dann liest sich Bosserts Argument – rein inhaltlich gesprochen – wie die trotzige Behauptung, dass (in diesem Staat) keiner einen ersten Schritt tun könne, ohne beim zweiten schreien zu müssen. Und eine solche Aussage hätte kein Zensor passieren lassen dürfen. (Ließ er aber doch.) Ähnlich gewinnt in Gebot das Spiel mit der Wendung, man dürfe den Tag nicht vor dem Abend (der Nacht) loben, sowie dem bildhaften Tag und Nacht (für fortwährend) allein vor dem Hintergrund Gewicht, dass das Regime nicht nur Kritik untersagt, sondern Lobpreisung zur ständigen Pflichtübung gemacht hatte. Und das wiederum durfte man so natürlich nicht laut sagen. Oder: Ausnahme. Wenn unter außergewöhnlichen Umständen außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden, mag man das hinnehmen, wo der Staat aber unter gewöhnlichen Umständen zu außergewöhnlichen Maßnahmen greift, ist der Ausnahmezustand womöglich zum Alltag geworden und Staatsterror der Fall.
Man hat derlei literarische Tricks und Mittel auch schon mal der Kategorie „Sklavensprache“ zuzuordnen versucht oder aber den Standpunkt vertreten, die kommunistischen Zensurbedingungen hätten die Literatur eher positiv herausgefordert, zu größerem sprachlichem Einfallsreichtum genötigt. Für Bossert waren diese Sprachscharmützel, wie seine oben zitierte Notiz bezeugt, jedenfalls das leichtere Spiel – vor dem eigentlichen, weitaus schwierigeren Einsatz. Bereits mit seinem zweiten Band, Neuntöter (1984), verlässt er die Spielwiese konsens gestützter politisch unkorrekter Öffentlichkeitsarbeit, wagt sich hinaus auf ungesichertes Terrain, dahin, wo es existenziell wird. Dennoch mag man es im Rückblick erstaunlich finden, wie viel politisch Brisantes dieser Band enthält – und das heißt auch: was die Zensur alles passieren ließ. Sicher auch ein Ergebnis des großen Geschicks, mit dem der damalige Verlagslektor Franz Hodjak den Zensor ins (passende) Bild zu setzen verstand. Nur sechs konkret auf politische Missstände gemünzte Texte konnten aus Zensurgründen nicht in den Band aufgenommen werden. Indes war ja selbst das Privateste, Intimste ohnehin längst vom Bannkreis des Politischen erfasst, da konnte man sagen oder dichten, was man wollte und hatte doch stets die Zensur am Hals. „Es ist, wie von Pest, / dahingerafft worden Vertrauen. / Weiß strahlen die Brüste“, heißt es in einer frühen, noch recht kruden Variante des Gedichts, das später den Titel Märchen bekam und in Schwindel erregender Kühnheit Zeitungslüge und die Enttäuschung elementar menschlicher Vertrauenserwartung poetisch so in eins setzt, dass mit dem Fazit „Liebe, auch ein Versuch“ das lakonische illusionslose Urteil über alles gesprochen ist, was Hoffnung auf Menschlichkeit macht. Rolf Bossert hat diesen Schmerz der Ernüchterung mit allen Fasern seiner poetischen Sprachkraft durchlitten und im Leben konsequent den Schlusspunkt gesetzt.
Die Sehnsucht nach einem „Leben in der Anatomie“ (s. Tradition, Generationen vom November 1982), in dem der Schrei als Reaktion auf den Schmerz noch seinen natürlichen Platz hat, oder andernorts der Wunsch, „die Polizei unsres letzten Gefühls“ mit Wollust brennen zu sehen (s. Die erste, die zweite Instanz), der selbst als Wunsch gar nicht wirklich denkbar ist, denn: „Wer / mit der Schere / im Kopf lebt, stirbt / gern.“ Solche Chiffren der Zustandsbeschreibung werfen ein dunkles Licht voraus auf die dramatische Zuspitzung der Situation nach dem Entschluss der Familie, den Ausreiseantrag zu stellen. Dies tat sie am 14. Juli 1984. Kurz darauf, im August, wurde Rolf Bossert von der Securitate verhört und gezwungen, ein „Verwarnungsprotokoll“ zu unterschreiben, das ihn unter den Verdacht stellte, mit seinen Texten eine staatsfeindliche Haltung zu propagieren. Im Oktober verlor er seine Anstellung beim Verlag, und veröffentlichen durfte er auch nicht mehr. Das darauf folgende Jahr des langen ungewissen Wartens muss sehr hart gewesen sein. In den Gedichten dieser Zeit weitet sich der Horizont der Enttäuschung und Bitterkeit zunehmend vom aktuellen, politisch ungenießbar gemachten Leben auf das Leben als solches. Allerdings dürften schon dem Entschluss selbst, das Land zu verlassen, längere schwarze Krisenzeiten vorausgegangen sein. Bereits in den Wintermonaten 83/84 signalisieren die entstehenden Gedichte einen ungewöhnlich tiefen Riss, eine Entfremdung der radikalen Art, die gewiss nicht von heute auf morgen zustande gekommen ist, nur lassen sich eben kaum bestimmte äußere Ereignisse als Auslöser dafür haftbar machen. Ein Vorkommnis aus dem Frühjahr des Jahres 1981 ließe sich immerhin anführen, das in diesem Zusammenhang ein Stichdatum liefern könnte: Da sind nämlich Rolf Bossert und sein Freund Klaus Hensel aus heiterem Himmel beim Verlassen des Schriftstellerlokals zusammengeschlagen worden (Bossert erlitt einen doppelten Kieferbruch), und weil einer der Angreifer von einem geistesgegenwärtigen Zeugen gestellt und festgehalten wurde, kam es danach sogar zu einer Art „Ermittlungen“, allerdings mit dem erwartungsgemäß ergebnislosen Ausgang. Der Verdacht, die Securitate sei nicht unbeteiligt gewesen, lag nahe und verdichtete sich aufgrund gewisser Indizien, doch ließ er sich weder erhärten noch entkräften, so dass die Geschichte nur auf der symbolisch-poetischen Ebene ein Element beisteuerte zur allmählichen Verfestigung paranoider Strukturen des Urteilens und Verhaltens.
Bezeichnenderweise liest sich das Klaus Hensel gewidmete Gedicht „Der Taubenmörder“, das im Mai 1981 entstand, also in großer zeitlicher Nähe zum gemeinsamen Schockerlebnis, nicht im Entferntesten wie ein chiffrierter Versuch der Aufarbeitung, und man sollte auch gar nicht versuchen, in dem dramatischen Vorfall eine Art Initialzündung zu sehen und anhand der Gedichte, die im Zeitraum bis zur faktischen Aussiedlung entstanden sind, eine kontinuierliche Entwicklung hin zur völligen Hoffnungslosigkeit und zum bekannten Finale nachzeichnen, denn das bliebe ein weithin prekäres Konstrukt. So einfach und direkt hängen die Dinge eben nicht zusammen: Gerade weil Bossert ab einer bestimmten Zeit in der Regel das Entstehungsdatum unter die Reinschrift seiner Gedichte setzte, lässt sich leicht feststellen, dass er kein „lyrisches Tagebuch“ im Sinne einer unmittelbaren Verwertung dessen, was der Tag jeweils an Erfahrungen gebracht hat, führte, sondern dass viel Zeit vergehen musste, bis sich Erlebtes in den außerordentlichen Bildkonzentraten niederschlug, die ihn selbst rätselhaft anmuteten und worin er doch präzise die Summe all seiner Erfahrungen wiederfand. Nicht zufällig zeigte er sich fasziniert von den japanischen Haikus und Utas sowie den chinesischen Vierzeilern, einige wunderbare Beispiele echt Bossertscher Haiku-„Klone“ sind mit Frühherbst 1982 datiert. „Dezember 1982“ steht unter dem Dreizeiler „Lied“, der für mich den Bogen zurück zu den Ereignissen des Frühjahrs 1981 schlägt („Wer noch ein Lied hat / greift sich an den Kehlkopf: ohne / ersichtlichen Grund“), und erst Juni 1983 schrieb er das „Verletzte Lied“, worin die Bildprägungen konkret darauf verweisen, „Schlag“, „Kiefer“, „Pflaster“ usw., und die beiden furiosen/grandiosen Schlussverse dann doch wieder mit dem „Auge“ (eine komplexe Grundmetapher bei Bossert) ohne Punkt dahinter zum Anfang zurückführen und auf das eigentliche, allgemeine Problem: den „Mitternachtstag“.
Ende 1984 kündigen sich dann Müdigkeit und Abschiedsgedanke deutlicher an: In einem als poetologisches zu lesenden schönen Gedicht („Der Maler“) werden die Dinge des Lebens und jene der Kunst aber noch einmal klar auseinander sortiert: Der Maler malt ganz einfach, während „andere Wesen“ sich noch „im Schrei ergehn“. Und die Zeit „schaut vorbei“.
Zwei Wochen vor seinem Tod, am 2. Februar 1986, teilt Bossert Adam Seide seine „literarischen Projekte“ mit:
1. Eine Auswahl lyrischer Texte, „die im letzten Jahr meines Rumänien-Aufenthalts entstanden sind (und die von der Problematik her ein einheitliches Ganzes bilden)“, in einem Gedichtband zusammenzufassen. Als Titelgedicht wählt er Schweigeminute für Eulenspiegel.
2. Mehrere „Kurzprosastücke (gattungsmäßig etwa zwischen Anekdote und Kalendergeschichte angesiedelt)“ zu einem Buchmanuskript mit dem provisorischen Titel 100 europäische Miniaturen zu bündeln. Davon sind 15 bis 20 fertig, die anderen müssen noch aus Notizen erarbeitet werden. „Ich beabsichtige, ein Spannungsverhältnis herzustellen zwischen scheinbar kunstlos berichteten Vorfällen in Ost (Rumänien) und West (Bundesrepublik), systemspezifische Absurditäten sollen zur Sprache kommen und einander kommentieren. Dabei soll implizit eine Antwort auf die Frage versucht werden, ob und wie der geographisch-historische Begriff ,Europa‘ noch verwendbar ist angesichts der gegenwärtigen politischen Teilung in ,Erste‘ und ,Zweite‘ Welt.“
Die Frage ist in den zwanzig Jahren seither nicht unaktuell geworden. Da kann einer, der auf den Treppen des Winds zu Hause ist, sich zu beiden Welten zugehörig fühlen, wenn auch entsprechend distanziert.
Gerhardt Csejka, Nachwort
SELBSTPORTRÄT
Ich schreib mir das Leben
her, schreib mir das Leben weg.
Es sind dramatische Umstände, unter denen der Lyriker Rolf Bossert im Dezember 1985 die bundesdeutsche Literaturbühne betreten und nur kurz darauf wieder verlassen hat: Zum Kreis der rumäniendeutschen Schriftsteller um Herta Müller, Franz Hodjak und Richard Wagner zählend, geriet er Anfang der 80er Jahre in immer heftigere Konflikte mit dem rumänischen Regime. 1984 stellte er einen Ausreiseantrag, der nach der politischen Zensur das Publikationsverbot zur Folge hatte. Im Dezember 1985 schließlich konnte er nach Frankfurt am Main ausreisen, wo er sich nur zwei Monate später das Leben nahm.
Die Gedichte Rolf Bosserts spiegeln die schwierigen Umstände seiner Biographie wider: Sie sind radikal, ironisch wie selbstironisch, sarkastisch, streng, von erbarmungsloser Schönheit. Aber immer scharf beobachtet und von beeindruckender Wucht: „In Bosserts Gedichten stehen die Bilder erst richtig, wenn sie umgestoßen sind. Er fährt durch die Ordnung der Sprache, bis die Scherben funkeln. In diesem Funkeln sitzen Angst und Lust beisammen.“ Herta Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ich steh auf den Treppen des Winds zeigt erstmals in großer Vollständigkeit das lyrische Werk Rolf Bosserts, das in seiner Unbändigkeit noch zu entdecken ist.
Schöffling & Co Verlagsbuchhandlung, Ankündigung
– Rolf Bossert kombiniert in seinen Versen auf den ersten Blick unvereinbar scheinende Bilder miteinander. Aus dem Bewusstsein, dass es keine neuartigen Bilder mehr gibt, bettet er das traditionelle „schöne“ Bild in einen neuen, ungewohnten Kontext. Der Sammelband Ich steh auf den Treppen des Windes zeigt jetzt erstmals in großer Vollständigkeit das lyrische Werk Bosserts. –
„(Echte) Radikalität ist immer banal“, schreibt Rolf Bossert in einem poetologischen Essay über die Entstehung eines seiner Gedichte. Was aber ist banal? Das Alltägliche, das Unbedeutende, Dinge und Ereignisse ohne jeden Eigenwert? Belanglosigkeiten, denkbar ungeeignet zur Darstellung von Radikalität. Trivialitäten, zu uninteressant für Poesie. So scheint es zumindest. Tatsächlich aber ist „banal“ im ursprünglichen Wortsinn radikal. Sowohl politisch als auch gesellschaftlich. Banalität bedeutete „gemeinnützig hinsichtlich der Sachen, die in einem Gerichtsbezirk allen gehören“. In diesem Sinne betrifft Banales jeden, ist Banalität existenziell. Das macht ihre Radikalität aus.
Genau deshalb wählt Rolf Bossert gerade die banalen Ereignisse zum Gegenstand seiner Lyrik. Eben in der Verbindung von Banalem und Poetischem liegt ihr Sprengstoff. Nicht zufällig mischen sich auch Haikus in seine Gedichte. Die japanischen Dreizeiler gelten als höchste Verdichtung von Einfachheit und Poesie. „meine schuhe“, „die kakerlaken“, „die nase“ oder „wochenendreinemachen“ heißen Bosserts Gedichte. Scheinbar oberflächliche Dinge wie ein „Montagmorgen“, eine „Mauer“ oder einfach nur das „Kauen“ sind Thema seiner Lyrik. Tatsächlich verbirgt sich dahinter Existenzielles. Wie hinter dem Gedicht „Gewitter“. Hier es geht um mehr als die Angst vor Donner und Blitz, wenn Schreiben und Weinen in eins fallen.
Sprecher:
Gewitter
von dort schlägt
steil runter
die blaue Axt,
im Trommelfell
bellt auch mir
galaktisches Backblech.
Klammer dich, Kind,
ans verklebte Bonbon:
Ich schreibe ich weine
mit. Weiter, weit.
Die „blaue Axt“, ein „bellendes galaktisches Backblech“, das „verklebte Kinderbonbon“ – Rolf Bossert kombiniert in seinen Versen auf den ersten Blick unvereinbar scheinende Bilder miteinander. Aus dem Bewusstsein, dass es keine neuartigen Bilder mehr gibt, bettet er das traditionelle „schöne“ Bild – hier die „blaue Axt“ – in einen neuen, ungewohnten Kontext. Ihm geht es, so Bossert, um „eine Konfrontation des Metaphorisch-Bildhaften mit anderen Sagweisen“. Oft schiebt sich in seinen Versen das Körperliche zwischen Bild und Text. In Wortgruppen wie: die „schwarzen Hoden der Nacht“, „die lange Wolke / unter der Achsel“ oder „Palmen im Kopf, / geballte Fäuste im / Unterleib“. Mit der Einbettung des Körperlichen bricht Bossert die Metapher auf. Eine bewusste Zerstörung des „schönen“ Bildes, die sich auch in einer Sprachauflösung spiegelt.
Ganz in der Tradition der Konkreten Poesie mit Sprachmontagen, Entgrammatisierung, systematischer Kleinschreibung und dem Verzicht auf Interpunktion. Aber bei Bossert ist die Dekonstruktion nie Selbstzweck. Seine Lyrik führt, so ein anderes Bild des Autors, in die „Innentreppe der Seele“. Eine Seelentreppe, die für Rolf Bossert immer weiter abwärts führt. Nach dem ’84 gestellten Ausreiseantrag wurde der Autor vom Ceaucescu-Regime mit Berufs- und Publikationsverbot belegt. Noch in Rumänien schreibt er im Januar ’85 das Gedicht „Lemming, müdkalte Maus“. Kaum ein Jahr später, kurz nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik, stürzt Rolf Bossert aus dem Fenster eines Aussiedlerheims in Frankfurt. Die Zeilen klingen wie ein vorweggenommener Abschied:
Sprecher:
Lemming, müdkalte Maus
Gern wär ich weiter
Gegangen Schlägt das
Die Gedanken auch tot
: Wegverwaltet, wegverwaltet
sind meine Füße:
& wacker fall ich dem
lüsternen grauen Netz
durch die Augen – Irgendwo
schlägt das
lila Herz – Der Aufprall
(der reisende Schuh sagt ein Freund
ist ein abgetretener Spiegel am End)
ich spürs
wiegt mich nicht auf
„Gern wär ich weiter / Gegangen“ – die Zeilen weisen wie ein Leitsatz Rolf Bosserts über das Gedicht hinaus. Und spiegeln in wehmütigem Doppelsinn: sein unerfüllbares poetisches Programm und das abrupt abgebrochene Leben des rumäniendeutschen Autors.
Rolf Bosserts gesammelte Gedichte umfassen nur knapp dreihundert Druckseiten. Zu wenig Verse aus einem viel zu kurzen Leben. Darunter aber genügend eindrückliche Bildkompositionen, die hängen bleiben. Bossert beschreibt grundlegende Gefühle unseres Daseins: mal satirisch und provokativ, häufig melancholisch und zärtlich, oft humorvoll und ironisch. Gedichte zu Alltäglichkeiten, die nicht nur die rumäniendeutsche Minderheit betreffen. Bossert beschränkt sich nicht auf die persönliche Identitätssuche zwischen byzantinisch-kommunistischer Heimat und deutscher Herkunft. Ihm geht es um mehr als die omnipräsenten Repressionen der Ceaucescu-Diktatur. Bossert entwirft Verse mit bewegend einfachen Zeilen zu radikal banalen Themen. Banale Anlässe, die im ursprünglichsten Wortsinn, alle betreffen. In seinen Gedichten nimmt sich der Autor selbst beim Wort: denn auch und gerade poetische „Radikalität ist immer banal“.
− Dem Vergessen entrissen: Rolf Bosserts Gedichte. −
An den Abend im Literarischen Colloquium Berlin Anfang Februar 1986 erinnere ich mich recht gut. Auf dieser Veranstaltung im Rahmen des Schriftstellertreffens „Die Uneinigkeit der Einzelgänger“ las auch ein noch fast unbekannter Banater Lyriker seine Gedichte. Er las engagiert und vibrierend vor Leben. Es war der dreiunddreißigjährige Rolf Bossert, der erst kurz vor Weihnachten in die Bundesrepublik gekommen war. Das Ceausescu-Regime hatte ihm unter traumatisierenden Schikanen die Ausreise bewilligt. Bossert waren die Strapazen nicht anzumerken. Er genoß den Beifall von Kollegen und Publikum und schien voller Pläne und Hoffnungen. Auf eine Postkarte nach Bukarest schrieb er, Berlin erinnere ihn an Reschitza (seine Geburtsstadt), er fühle sich hier geborgen. Eine Woche später kam die schockierende Nachricht. Bossert war aus dem Flurfenster des Übergangsheims in Frankfurt-Griesheim, in dem er mit seiner Familie untergekommen war, in den Tod gesprungen.
Noch im Jahr seines Todes erschien der Band Auf der Milchstraße wieder kein Licht, Gedichte aus den in Rumänien erschienenen Bänden Siebensachen und Neuntöter sowie nachgelassene Texte. Gerhardt Csejka, der Empfänger der erwähnten Postkarte, hatte ihn herausgegeben. Man las Verse, die sich wie ein Versprechen auf Künftiges ausnahmen, aber auch Zeilen von Pessimismus und Verzweiflung, die gerade wegen ihrer Prägnanz wie Schlüssel zum Suizid wirkten. Ein „Selbstporträt“ beschränkte sich auf diese zwei Zeilen: „Ich schreib mir das Leben / her, schreib mir das Leben weg.“ Das war mehr als ein Stück Poetologie: existentieller Ernst.
Heute, zwanzig Jahre nach Bosserts Tod, gibt eine neue, wesentlich erweiterte Ausgabe seiner Lyrik die Möglichkeit, Leben und Werk des jungen Dichters von damals zu würdigen. Ich steh auf den Treppen des Winds ist ihr Titel, und wiederum ist Gerhardt Csejka der Herausgeber. Er liefert im Nachwort die nötigen Informationen zu Bosserts Biographie und dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem er schrieb; und die Datierungen der Gedichte zeigen die Schübe und Verzögerungen der lyrischen Produktion.
Bossert begann im Biotop der Aktionsgruppe Banat, der auch Herta Müller, Richard Wagner, Klaus Hensel und Werner Söllner angehörten. Auch er suchte zwischen Poesie und Antipoesie, zwischen Aufbegehren und Sklavensprache seinen Weg. Die Zensur ließ für einige Jahre manches passieren. Ja, es gab so etwas wie eine staatlich geduldete Literaturblüte, über die man spotten konnte:
Wir sitzen in Städten im Osten.
Man macht Poesie.
Und während die Schreibfedern rosten
Erklärt sich der Krug zum Genie.
Bosserts Erstling siebensachen von 1979 erhielt den Literaturpreis des Kommunistischen Jugendverbandes. Zwei weitere Preise folgten: für ein Kinderbuch und für eine Übersetzung von Gellu Naum. Dann aber folgte 1981 der Schock eines anonymen Überfalls, Rolf Bossert und Klaus Hensel wurden nach einem Restaurantbesuch durch gedungene Schläger brutal niedergeschlagen. Auch sonst nahmen die Repressionen durch die Staatsorgane zu. Der Dichter spürte den „Arbeitstag in der Aktenmappe, wie eine / Bombe“. Und das im Dezember 1982 geschriebene „Lied“ befindet lapidar:
Wer noch ein Lied hat,
greift sich an den Kehlkopf: ohne
ersichtlichen Grund.
Zwar erschien 1984 noch der Gedichtband Neuntöter mit relativ wenigen Eingriffen der Zensur, doch Bossert hatte schon kurz davor den Ausreiseantrag gestellt. Die Ausreise erfolgte unter traumatisierenden Schikanen der Securitate.
Man begreift, daß Bosserts abgebrochenes Werk nicht allein nach artistischen Gesichtspunkten zu rezensieren ist. Doch noch heute erstaunt die Vieltönigkeit seiner Arbeiten. Sie reicht von konkretistischen Texten über Balladen und Chansons bis zu allegorischen Chiffrierungen. In der schwierigen Wartezeit vor der Ausreise scheint Bossert von Politik und Geschichte so ermüdet gewesen zu sein, daß er sich in das Bild eines Malers flüchtete, der im Abseits arbeitet:
Die Zeit schaut
Vorbei. Du malst.
Das war ein Traum. Wie weit trug er ihn? Noch zwei Wochen vor seinem Tod sprach Bossert von einem neuen Gedichtband, der den Titel Schweigeminute für Eulenspiegel tragen sollte. Ein wunderschöner, doch im Innersten trauriger Titel, wie das gleichnamige Gedicht zeigt.
Und die Toten wolln nicht
mehr, im Takt ihrer Lider,
unsere Stummheit begleiten.
Der Doppelsinn der „Lider“ erinnert an Rilkes Grabspruch, an Niemandes Schlaf unter „soviel Lidern“. Eine Gedenkminute für den Dichter, der gern ein Eulenspiegel gewesen wäre! Er verdient eine erneute Lektüre.
− Luft und Meer, Land und Wort: Die gesammelten Gedichte des rumäniendeutschen Dichters Rolf Bossert als Auftakt der großen Werkausgabe. −
Wohin, fragt man sich, hätte sich das Werk des rumäniendeutschen Lyrikers Rolf Bossert (1952–1986) entwickelt, wenn er nicht so früh gestorben wäre? Seine Gedichte, die nun als erster Band der Gesammelten Werke im Schöffling Verlag vorliegen, tragen die Züge eines work-in-progress. Herausfordernd, aufmüpfig die frühen Gedichte des frühen Zwanzigjährigen:
wer aber ist die realität?
(…) gibt sie sich hin für ein paar gute Worte,
in schönen zeilen?
wer ist sie?
Da macht sich ein Kraftprotz auf den Weg, ein derber Verbalerotiker, legt Lunte an das Leben und zündelt, was das Zeug hält:
denn bomben und gedichte
wir fänden was daran.
Man merkt, wie der werdende Autor die Tradition durchpflügt, wie er das eine annimmt, das andere verwirft, lieber argumentiert als poetisiert, und dann rutschen ihm doch ein paar Wörter heraus, die das Zeug zur poetischen Verdichtung haben:
eichsche vögel
und bachmannsche fische
haben sich gegenseitig
aufgefressen
was bleibt ist
luft und meer
dazwischen
ein land
ein wort
Luft und Meer, ein Land, ein Wort – auf diese paar Vokabeln könnte man den Sehnsuchtsakkord bringen, der Bosserts Gedichte begleitet, so sehr er sich auch bemüht, den raubeinigen Trommler und triebgesteuerten Macho zu geben. In der Art, wie sich diese Wörter im Lauf des Werks verwandeln, steckt das Bewegungsgesetz eines Lebenswerks, das mit großem Schwung und raumgreifender Geste beginnt, für eine kurze Dauer auf dem Plateau eines über die eigenen Mittel souverän verfügenden Sprechens ausruht, um dann immer mehr in die Enge getrieben zu werden. Das geht über das Nachlassen jugendlichen Elans, das jeder kennt, hinaus. Vermutlich kam da eine Menge zusammen: eine gewisse Empfindlichkeit, biographische Erlebnisse und nicht zuletzt die politische Entwicklung des Landes, das er anfangs nur „Land“ nennen konnte, das am Beginn der Ceaucescu-Ära den Prager Frühling begrüßte, dessen Abgrenzung von Moskau aber nicht zu mehr Freiheit, sondern zu einer der brutalsten Diktaturen des Ostblocks führte.
Das Rumänien, das Rolf Bossert mit seiner Frau und den beiden Söhnen nach bangem Warten auf die Genehmigung des Ausreiseantrags schließlich im Dezember 1985 verlassen durfte, war ein gut bewachtes Gefängnis. Rolf Bossert stand unter Beobachtung der Securitate. Bilder klaustrophobischer Enge verfolgen den Autor bis in den Schlaf. In den Gedichten des letzten Lebensjahres, von „späten“ Gedichten möchte man bei einem mit dreiunddreißig Jahren gestorbenen Autor nicht sprechen, finden sich wiederholt Fügungen wie „der enge Traum“ oder der „Schlaf“ als „enger Raum“. Die Schlussstrophe eines mit „Der Traum“ überschriebenen Gedichtes heißt:
Wem habe ich mich, hat mein Wort sich hingegeben?
Ich lebe uns geschlossen aus dem Leben.
In der Nacht des 17. Februar 1986 stürzte Rolf Bossert aus dem Fenster des Übergangsheims in Frankfurt-Griesheim, in dem er als Spätaussiedler mit seiner Familie untergebracht war. Auf der Milchstraße wieder kein Licht hieß der Gedichtband, der kurz nach seinem Tod bei Rotbuch erschienen ist. Anfang Februar hatte der Autor noch an einer Tagung im Literarischen Colloquium Berlin teilgenommen. Ihr sprichwörtlich gewordenes Motto, „Die Uneinigkeit der Einzelgänger”, erklärt, warum die Mitglieder der Aktionsgruppe Banat, zu denen Bossert wie u.a. auch William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner gehörte, im Westen so willkommen waren: als nostalgisches Gegenbild zur saturierten Vereinzelung.
Bei Rolf Bossert lässt sich lernen, dass beides wahr sein kann: das Gefühl der Verzweiflung und das Spiel, ja sogar der Handel mit ihm. Einige seiner besten Gedichte erzählen davon, z.B. „Rundschreiben an meine Freunde“:
Die prosaische Hilflosigkeit, steckt sie
in unseren Texten, ist ein Magnet
für eisernes Mitgefühl. Und gleitet
das Wort Angst ins Gedicht, wir
hörn es mit Wollust. In Rezensionen
beschreiben wir die Verzweiflung
der Schreibenden.
Und auch vom „Warencharakter der Seele“ wusste er und übersetzte ihn gleich noch ins Englische: „second-hand soul“.
Wie er wohl heute schreiben würde? Man kann es nicht wissen. Seinen rumäniendeutschen Kollegen ist, allen Unkenrufen zum Trotz, auch im wiedervereinigten Deutschland der Stoff nicht ausgegangen. Wahrscheinlich hätte er sich irgendwo am Rand situiert.
Ich schlage mein Himmelszelt auf,
Einen Steinwurf vom Weltall entfernt.
Meike Feßmann, Süddeutsche Zeitung, 2.9.2006
− Zur Wiederentdeckung des rumäniendeutschen Dichters Rolf Bossert. −
Vor ihrem großen Exodus versammelten sich die Dichter noch einmal in ihrem privaten Refugium. Ein Hauch von Bohème und utopischem Hochgefühl lag über der kleinen Schar der rumäniendeutschen Schriftsteller, die da in den späten Siebzigern in einem improvisierten literarischen Salon zusammentrafen. Von diesen Augenblicken einer kühnen Zuversicht berichtet ein Gedicht Rolf Bosserts, der suggestivsten poetischen Stimme aus diesem Lyriker-Kreis.
gerhardt hatte uns kaffee versprochen, er
hielt ihn auch
So beginnt das Gedicht, ein Text in sehr kolloquialem Ton, der das gesellige Gespräch der Dichter ästhetisch fortsetzen will.
Hinter Gerhardt, dem Gastgeber des Salons, verbirgt sich offenbar der Kritiker und Lektor Gerhardt Csejka, der seine rumäniendeutschen Dichterfreunde mit einem in der Mangelgesellschaft seltenen Getränk versorgt. Nicht nur der Kaffee, auch die neuesten Pläne werden herumgereicht: Übersetzungs-Projekte, Dichter-Anekdoten, Märchen, Jazz-Musik weht heran. Schließlich verlässt einer die Dichterrunde, um Wein zu organisieren. Die Schlusszeile des Gedichts lautet:
Später tranken wir auf die Zukunft in Bukarest.
Diese Zukunft, die hier einem Trinkspruch anvertraut wird, konnte dann nicht mehr stattfinden. Das Kollektiv literarischer Dissidenten, das den Autoren der so genannten Aktionsgruppe Banat für ein paar Jahre Zuflucht und Perspektive geboten hatte, zerfiel, die Reste wurden durch staatliche Intervention gesprengt. Der Traum vom Dichter als „sanftem Guerillero“, wie ihn Bosserts Kollege Richard Wagner in Umlauf gebracht hatte, war zu Ende. Was blieb, waren demütigende Ausreiseprozeduren. Herta Müller, Richard Wagner, Werner Söllner, Johann Lippet verließen als „Reisende auf einem Bein“ (Herta Müller) ihr Land und gingen in die Bundesrepublik. Rolf Bossert trat die lange Reise im Dezember 1985 an. Ein Foto aus diesen Tagen zeigt ihn in fröhlicher Ausgelassenheit auf einem Schriftsteller-Colloquium in Berlin, an dem er im Februar 1986 teilnahm. Wenige Tage später sprang er, gerade mal 33 Jahre alt, in Frankfurt aus dem Fenster eines Aussiedlerheims.
Als die Namen der so genannten rumäniendeutschen Schriftsteller Anfang der achtziger Jahre in westdeutschen Feuilletons auftauchten, lag die deutsche Minderheitenkultur in Südosteuropa schon in tiefer Agonie. Bei der deutschsprachigen Bevölkerung in Rumänien, rund 300.000 Menschen, hatte in den Jahren zuvor eine große Emigrationswelle eingesetzt, auch große Teile der literarischen Intelligenz, Autoren wie Oskar Pastior, Dieter Schlesak und Ernest Wichner, hatten das Land bereits verlassen. Rolf Bossert, der Deutschlehrer aus der Kleinstadt Busteni im Karpatengebirge, war als Poet noch 1980 von den literarischen Institutionen des rumänischen Sozialismus hofiert und mit Preisen ausgezeichnet worden. Kaum war er nach Bukarest gekommen, um zunächst die Programmleitung im Kulturhaus Friedrich Schiller und danach das Lektorat in den Literaturverlagen der deutschen Minderheit zu übernehmen, tat sich schmerzhaft jener Riss zwischen Staatsästhetik und poetischem Autonomieverlangen auf, der nicht mehr zu kitten war.
Rolf Bossert, der in seinen ersten Texten viel mit traditionellen Liedformen und Kinderreimen experimentiert hatte, trieb nun den poetischen Fatalismus immer weiter voran. Mit fortschreitender Differenzierung seiner ästhetischen Mittel kam es zum großen Crash mit den Instanzen der Macht. 1984 stellte Bossert für sich, seine Frau Gudrun und seine zwei Kinder den Antrag auf Ausreise – und es begann der große Spießrutenlauf durch die Korridore der Despotie. Bossert verlor seine Arbeit als Lektor, seine Bücher wurden aus den rumänischen Bibliotheken entfernt, sein Name aus den Annalen der ansonsten verdienstvollen Zeitschrift Neue Literatur gestrichen. In den nicht mal zwei Jahren, die ihm noch blieben, schrieb er seine intensivsten und verstörendsten Gedichte: Gedichte, die sein Verfahren der schroffen Fügung, elliptischen Verknappung und poetischen Engführung immer mehr radikalisierten.
Sein zweiter Gedichtband Neuntöter, der im Jahr des Ausreiseantrags erschien, spricht schon von der Erstickung des Poetischen im Land des großen Conducators Nicolae Ceausescu:
Wer noch ein Lied hat,
greift sich an den Kehlkopf: ohne
ersichtlichen Grund.
Es sind diese Gedichte aus den Jahren 1980–1985, die mit ihrer bitteren Lakonie und schmerzhaften Sinnlichkeit das eindringlichste Bild der rumäniendeutschen Verhältnisse zeichnen, das uns in zeitgenössischer Poesie überliefert ist. Es sind Gedichte, scharf von Erkenntnis und streng im Exerzitium der Form, die auch nach über 20 Jahren keinerlei Patina angesetzt haben. Es sind Verse, die von Verletzungen sprechen, von einer unmittelbaren körperlichen Gewalt, die Bossert und seine Freunde durch die Securitate, den notorisch brutalen Geheimdienst, am eigenen Leib erlebten. Zu Bosserts Gedichten, die bleiben werden, gehört auch das „Verletzte Lied“:
Mein Auge blieb weg, so
Gabs keinen Schlag. Wer
Rührte mich an: der
Mitternachtstag. Die Knie
Ein Scharnier sind
sauber geölt. Ich
Stürze aufs Pflaster und
Fall auf die Welt. Die Kälte
Schneidet den Kiefer
Entzwei. Jetzt wohnt mir im Mund
Ein singender Brei. Das Auge
Diese Metapher des Auges bildet zusammen mit den Topiken von Schnee und Eis die Motivkerne seiner späten Gedichte.
Kurz nach Rolf Bosserts Tod war 1986 unter dem trefflichen Titel Auf der Milchstraße wieder kein Licht eine erste Auswahl seiner Gedichte im Rotbuch Verlag erschienen. Da es sich nur um rund 80 Texte hauptsächlich aus dem Band Neuntöter handelte, ergänzt um einige späte Gedichte, legten seine Dichterfreunde alsbald ein Versprechen ab: „Es bleibt noch vieles nachzutragen.“ Dieses Versprechen ist jetzt, zwanzig Jahre danach, eingelöst worden durch die nahezu vollständige Ausgabe seiner Gesammelten Gedichte, die Gerhardt Csejka für den Verlag Schöffling & Co. zusammengestellt hat. Diese neue Ausgabe macht nun die erstaunlichen Entwicklungssprünge und Metamorphosen des Dichters Rolf Bossert fassbar, die er in nur einem Dutzend Jahren vollzogen hat.
Die bislang unveröffentlichten Gedichte des ersten Teils zeigen den Autor als listigen Gaukler, der sich mit Eulenspiegeleien und Wortspielereien in Brechtischer Tradition politisch exponiert. Eine bislang unbekannte Seite des Dichters Rolf Bossert, sein beträchtliches Talent zur Leichtigkeit und Selbstironie, offenbaren die hintersinnigen Kinder-Gedichte, in denen der Autor noch weit entfernt ist von Bitterkeit und Fatalismus. Die wirklich substanziellen Gedichte finden sich dann aber erst ab 1979, wenn Bossert zu harten Bild-Brüchen und Negationen übergeht. Wer sich für die Genese der Bossertschen Poetik en détail interessiert, dem ermöglichen die 340 Seiten der Gesammelten Gedichte viele neue Entdeckungen. Fairerweise muss man aber zugeben, dass bereits die alte, nur noch antiquarisch greifbare Rotbuch-Auswahl die wirklich „hinterlassungsfähigen“ Gedichte des Lyrikers Rolf Bossert in konzentrierter Form dokumentiert hat. Den Wendepunkt im literarischen Leben des Rolf Bossert markiert im übrigen das Auftakt-Gedicht des Bandes siebensachen, ein „Selbstporträt“ als Zweizeiler, in den sich die Tragödie des Dichters eingeschrieben hat:
Ich schreib mir das Leben
her, schreib mir das Leben weg.
Das Ich hat sich an die Schrift gebunden – eine Entscheidung, die in zwei Richtungen führt: auf den Weg der Rettung und den der Selbstauslöschung.
− Trauriges Jubiläum, zwanzig Jahre nach seinem Tod: Der Banater Dichter Rolf Bossert in einer schönen Ausgabe. −
Wie es gewesen sein mag, im Rumänien Ceausescus die Existenz eines Schriftstellers zu führen, von der Zensur entmündigt, ständig von der allgegenwärtigen Securitate und dem Berufsverbot bedroht zu werden – es lässt sich wohl im Freiraum eines beliebigen heutigen Arbeitszimmers, mag es auch klein oder unbeheizt sein, kaum nachvollziehen, höchstens erahnen, sofern man die Zeugenaussagen direkt Betroffener zu Hilfe nimmt. Und wie erst, wenn man überdies einer sprachlichen und kulturellen Minderheit angehörte, deren Leserschaft im Inland klein oder aber, wenn es sie denn in Deutschland, Österreich und der Schweiz überhaupt gab, nur äußerst schwer erreichbar war.
Eine ganze Reihe der deutschsprachigen Autoren aus dem Banat hat es seit ihrer Ausreise aus dem sozialistischen Rumänien, seit dem Zusammenbruch des Regimes, zu großer Bekanntheit gebracht – Namen wie Herta Müller, Oskar Pastior, Rainer Kirsch, Klaus Hensel, Werner Söllner und Ernest Wichner sprechen für sich. Nicht gilt dies für den Dichter Rolf Bossert, der am 17. Februar 1986 im Alter von nur dreiunddreißig Jahren in Frankfurt am Main starb, wenn auch die Widmungen, die er seinen Gedichten voranstellte, von enger Freundschaft mit vielen der genannten Autoren zeugen – wenn die Verse nicht gerade launig „dem scheißwetter und nur ihm“ zugeeignet sind.
Wie andere rumäniendeutsche Autoren, etwa Richard Wager und Johann Lippet, gehörte auch Bossert der sogenannten Aktionsgruppe Banat an, die sich einer Literatur des Engagements verschrieben hatte: ein Programm, das die Obrigkeit misstrauisch machen musste. Zunächst aber konnte Bossert – nach einem Germanistikstudium in Bukarest, nach seiner Heirat und der Geburt zweier Söhne – seine Gedichte vergleichsweise unbehelligt veröffentlichen. Während er in einem Kulturhaus, später als Verlagslektor arbeitete, erschien sein erster Gedichtband, der, wie wenig später ein Kinderbuch, preisgekrönt wurde, und auch ein zweiter Gedichtband konnte noch in Rumänien erscheinen. Der Druck aber und die Bedrohung durch die Geheimpolizei nahmen stetig zu – und wurden manifest, als Bossert nach einem Restaurantbesuch von Unbekannten brutal zusammengeschlagen wurde und stationär behandelt werden musste. Als die Familie 1984 einen Ausreiseantrag stellte, war der Bruch endgültig vollzogen, jegliche Publikation fortan untersagt und das Leben bis zur Ankunft in Frankfurt durch qualvolles Warten, ständige Schikanen und Durchsuchungen geprägt. Nur zwei Monate nach der glücklichen Ausreise, nach vielversprechenden ersten Lesungen in Berlin, fand man Bosserts leblosen Körper frühmorgens vor seiner Frankfurter Unterkunft: Selbstmord durch einen Sprung aus dem Fenster, so die offizielle Todesursache.
Zwanzig Jahre nach seinem Tod werden die Gedichte dieses noch immer unbekannten Vertreters der rumäniendeutschen Literatur einer breiteren Leserschaft in einem kompakten Band zugänglich gemacht – ein Andenken zu einem traurigen Jubiläum. Die weitgehend chronologische Anordnung der Texte lässt Bosserts dichterische Entwicklung nachvollziehen und, gerade hinsichtlich der späteren Gedichte, erahnen, was noch zu erwarten gewesen wäre. Dabei sind keinesfalls alle Texte gleichermaßen überzeugend. Doch selbst ein Gelegenheitsreim wie „Pershing II“ auf „Frühstücksei“ hat als blasseres Teilchen seinen Platz im Mosaik, ist immerhin von dokumentarischem Interesse und in jedem Fall ein Beispiel für die große stilistische Bandbreite der Bossertschen Gedichte, die sich des subversiven idiomatischen Wortspiels genauso bedienen wie der Bündigkeit eines Haikus oder einer kreuzgereimten, liedhaften Strophenform: „Wir sitzen in Städten in Osten. / Man macht Poesie. / Und während die Schreibfedern rosten / Erklärt sich der Krug zum Genie“, wie es in dem Gedicht „Gartenlokal“ leicht schunkelnd heißt.
Bosserts Gedichte bewegen sich in einem Spannungsfeld, als dessen extreme und höchst gegensätzliche Pole sich Brecht und Celan ausmachen ließen. An jenen erinnert nicht nur der Ton der späteren Verse, deren prägnante Bildlichkeit („Dieser Schlaf / ist wie Milch auf dem Pflaster“) in zunehmend komplexe Texte eingewebt ist. In dem Gedicht „Reise“ scheint Bossert gar direkt auf das Vorbild und dessen Biographie Bezug zu nehmen, ja den Dichter, der sich in Paris das Leben nahm, anzureden:
Flüstere mir ins Aug
deinen Blick auf die braune Seine.
Die Welle des Jahres Siebzig,
kreist sie noch um das splitternde Wort
aus dem Krankenland
mit den Buchen?
Doch auch Beispiele für „Gebrauchsgedichte“ im Sinne Brechts (dem ein frühes Poem „dankbar zugeeignet“ ist) finden sich zwischen den späten Versen immer wieder, Gedichte über „diesen real, ach, existierenden / Schnee“. Und wenn nur eine Zeile weiter von den „Knusperhäuschen des Widerstands“ die Rede ist, so fehlt auch der verzweifelte Humor nicht, der in vielen Texten der späten siebziger und frühen achtziger Jahre aufblitzte: „die schweine drängen sich in die würste“, liest man da, noch in konsequenter Kleinschreibung, oder stößt auf den herrlich trotzigen Ausruf „Noch ein Bier, Jonas, heute / ists sonnig im Wal!“.
Selbst in solchen Gedichten aber, die sich mit Fug und Recht als hermetisch bezeichnen ließen, ist der im Alltag wurzelnde Schreibanlass, der Bezug zum persönlichen Erleben, vor allem aber der zur gesellschaftlichen Realität unübersehbar. So erlaubt in dem Gedicht „Neuntöter“, das Bosserts zweitem Gedichtband den Titel gab, jener Singvogel aus der Familie der Würger, der die Eigenart hat, seine Opfer vor dem Verzehr auf Dornen aufzuspießen, einen Rückgriff auf den wohl berühmtesten aller Rumänen – und zugleich auf das Land Ceausescus, das Bossert verlassen durfte und dem er doch nicht entkam:
So stürzt
aus der braunen Grotte
Vogel der Pfähler,
glaubt mirs:
Draculas Großneffe weint
um die alte Heimat.
(Und wenn du willst, vergiss)
Gedichte
: satte Piranhas küssen die blauen Nachtigall-Fische
am tollsten Kadaver der Ideologien
Rolf Bossert
Ich fiebre Rolf Bosserts gesammelten Gedichten in Ich steh auf den Treppen des Winds entgegen, die Gerhardt Csejka 2006 herausgab und die der Postbote zusammen mit einem Brief Hans Benders überreicht. Rolf Bossert (1952–1986), von dem Name und einzelne Gedichte (gelesen, beispielsweise, in Der Große Conrady und Hans Benders Was sind das für Zeiten) mir seit Jahren geläufig sind, dem ich aber bis heute, wie, beispielsweise, auch Horst Samson oder William Totok, nicht die Aufmerksamkeit schenkte wie anderen rumänendeutschen Dichtern, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben: Klaus Hensel · Franz Hodjak · Johann Lippet · Georg Maurer · Herta Müller · Oskar Pastior · Carmen Elisabeth Puchianu · Dieter Schlesak · Klaus F. Schneider · Werner Söllner · Ernest Wichner · Richard Wagner, deren Gedichtbücher und Romane mich seit vielen Jahren begleiten.
Ich entferne den Schutzumschlag, lege ihn in den dafür umfunktionierten, fast vollen Schuhkarton, in dem ich die Umschläge sammle, denke an Herta Müllers lyrischen, mich in den Träumen der Frühmorgenstunden verfolgenden Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger: An der Ecke, an der dicken rostigen Drahtrolle, kriecht eine Rostschliere über den Weg, höre die Echos der Böller und Kracher, die mir noch aus der Nacht in den Ohren dröhnen, als ich, bei herabgelassenen Rolläden im Wohnzimmer sitze und die letzten Seiten von Paul Austers Roman Invisible lese.
„Weihnachten 1973“ und „Weihnachten 1984“ sind die Titel der Gedichte von Rolf Bossert auf den Seiten 11 und 244, die unmittelbar Erinnerungen wachrufen an den vierten Advent am 20. Dezember 2009 in der 1260 erbauten Pfarrkirche von Bürvenich (wo ich an Karfreitag 1956 geboren wurde), in der ich gemeinsam mit der Bürvenicher A-cappella-Gruppe einen Lieder-Lyrik-Abend gestaltete, bei dem die rund zweihundert anwesenden Menschen, in diesem über die Jahrhunderte von Choral, Gebet, Gesang, Litanei, Orgelspiel und Psalm durchwobenen Resonanzraum gleichsam zu einer Gestalt verschmelzend, Gedicht- und Liedgut aus tausend Jahren erlebten: Und es schweifen leise Schauer / Wetterleuchtend durch die Brust.
Andreas Altmann mit Das zweite Meer (brillant, wie Altmann mir durch die Hinzufügung eines einzigen Buchstabens über den längst zum Klischee erstarrten Topos hinaus zum weiten, weiten Blick verhilft) und Michael Basse mit skype connected (wir lesen mitunter sogar gedichte), beide in der merkwürdigen Zeit ,zwischen den Jahren‘ gelesen, zeigen, daß die Lyrik 2010 eindrucksvoll weitermacht. Meine tiefergehenden Gedanken und Empfindungen bleiben bei Rolf Bossert und den Gedichten in Ich stehe auf den Treppen des Winds, die mich, seit ich sie in einem Zug gelesen habe, nicht mehr loslassen:
Mein gläserner Blick,
zu neuer Tiefe geschärft, bohrt sich
ein Grab ins Laubwerk.
Die Bäume stehn still
auf der anderen Seite der Straße.
Gerhardt Csejkas Nachwort endet mit den Worten und das Fenster am Ende des Flurs steht offen. Mich fröstelt.
− Die gesammelten Gedichte von Rolf Bossert.−
„Doch wer kann mit dem kopf einen schritt tun?“, heisst es in einem der programmatisch angelegten Texte. Und ein paar Seiten später: „neidlos pfeift des zigeuners hut: / auch der himmel bezahlt mit kleingeld“. Liest man diese Gedichte, wird schnell klar: Rolf Bossert hatte viele Lehrer, und er hat sie allesamt hinter sich gelassen. Da, wo er lebte, am Rand des europäisch wahrgenommenen Lyrik-Terrains, konnte man der brüchigen Wirklichkeit wenig entgegenhalten.
Wir sitzen in Städten im Osten.
Man macht Poesie.
Und während die Schreibfedern rosten,
Erklärt sich der Krug zum Genie.
ZENSUR-SCHIKANEN
Rolf Bossert wurde 1952 in der habsburgisch geprägten Industriestadt Reschitza am Rand der Südkarpaten geboren. Er wuchs im stalinistischen Rumänien der fünfziger Jahre als Angehöriger der deutschen Minderheit auf. Später ging er nach Bukarest, wo er Germanistik und Anglistik studierte, wurde Deutschlehrer in Busteni, wiederum ein Karpatenort, um später nach Bukarest zurückzukehren und sein Auskommen als Kulturmanager und Verlagslektor zu finden.
Nach Zensur-Schikanen und Verfolgung durch den Geheimdienst Securitate stellte er einen Ausreiseantrag und konnte nach anderthalb Jahren, im Dezember 1985, mit seiner Familie in die Bundesrepublik emigrieren. Dort wurde er, nach erst sechs Wochen Aufenthalt, vor dem Aussiedler-Übergangswohnheim in Frankfurt-Griesheim tot aufgefunden. Über die bis heute nicht ganz geklärten Umstände seines Todes ist spekuliert worden; anzunehmen ist, dass er sich selbst getötet hat. Man kann seinen Gedichten nicht nur die Verzweiflung ablesen, man findet darin sogar frappierende Anspielungen auf die Todesszene. „Ich / Stürze aufs Pflaster und / Fall auf die Welt.“
Rolf Bossert wurde 33 Jahre alt. Er ist nun seit zwanzig Jahren tot, und heute kommt es auf seine Gedichte an. Was schreibt ein Mann in finsteren Zeiten, in einem grausam abgezirkelten Lebensraum? Bossert gehörte der Aktionsgruppe Banat an, einer Vereinigung junger Autoren der deutschen Minderheit, die in den siebziger Jahren eine westlich orientierte Literatur anstrebten und für eine kritische Öffentlichkeit nach dem Muster des Prager Frühlings plädierten.
MEISTER DES SCHWARZEN HUMORS
Die Autoren der Gruppe mixten die Stile der westlichen Lyrik in einer sorglosen Weise, wie nur die Randständigkeit es möglich macht. Bossert war unter diesen Schreibenden der Mann fürs Heitere. Bei ihm konnte Morgenstern wie Busch klingen und Heine wie Celan.
Ein neues Zwerchfell wünsch ich mir
Anstelle meines alten,
Das leider ganz durchlöchert ist −
Ich konnt’ mich nicht enthalten
Des irren Lachens, als ich sah,
Verfügungen wie Regen,
Die prasselten aufs Land herab
Und standen auf den Wegen.
Bossert war ein Meister des schwarzen Humors. Seine Gedichte kommen im Alltagston eines Tucholsky daher, gewinnen aber der Alltäglichkeit immer wieder einen Sarkasmus ab, der das Böse scheinbar beherrschbar werden lässt, eine nicht seltene Haltung unter den kritischen Intellektuellen in Osteuropa. In der aphoristischen Zuspitzung wird das Gedicht zur Machtdomäne der Machtlosen. Die Verweigerung steckt im Vers. Bossert war ein Meister des paradoxen Reims, in der Tradition von Heine und Morgenstern.
Der Band wurde von Gerhardt Csejka aus dem Nachlass herausgegeben. Csejka hat als Kritiker und Redaktor der legendären Bukarester Zeitschrift Neue Literatur, die alle bekannten rumäniendeutschen Autoren publizierte, den literarischen Werdegang Bosserts begleitet. Abgeschlossen wird das Buch durch einen Essay von Bossert zur Entstehung eines Gedichts, einen detaillierten Lebenslauf, ein informatives Nachwort, eine editorische Notiz und ein alphabetisches Gedichtverzeichnis mit den Entstehungsdaten.
Hellmut Seiler spricht mit Florian Kührer-Wielach über Rolf Bossert, sein Umfeld und den Rolf Bossert-Preis
ROLF BOSSERT
Letzter Gang
Mein Maul ist faul
brech saure Happen
Die Zunge
ein Abwaschlappen
Das Ohr hängt
schon lang auf halb 8
neulich erst hab
ich Pippi gemacht
aus purer Angst
vor meinem Angesicht
meinem Spiegelbild
Peter Wawerzinek
BESUCH
für Rolf und Gudrun
Die Freunde ein Mann eine Frau stehn vor der Tür
Schnee an den Schuhn die Wohnung wird wärmer
nun seid ihr da sage ich es hat sich gelohnt sage
ich zu warten auf ein paar Wörter wie Berg oder Paß
oder Tal es hat sich gelohnt ich sage nichts ein
Wort gibt das andere Schweigen und wir sind und
wir waren ja Freunde einer schiebt dem andern
ein Wort in den Mund bittre Bissen Freiheit
was ist das für ein Haus in dem es sich wohnen läßt
für den einen für den andren was ist das Tod Leben
und was weiß ich diese Sprache ist ein Fluß in
den wir geworfen werden ein Landwehrkanal und wir
treiben wie Lämmerwölkchen vom Himmel herab in die
Traufe danach aber soll alles danach soll alles
wie früher sein einfach so wie früher rhetorisch
Natürlich nur so soll Schweigen sein Schweigen
wie früher es kommt auf ein paar Unterschiede
nicht an auf ein paar Unterschiede mehr oder weniger
sind es die gleichen Gott wie verlegen ich bin
wenn die Freunde dastehn Schnee an den Schuhn
sommers wie winters wie verlegen macht mich das
daß die Freunde da sind wo ich bin diese Ankunft das
macht mich stumm vor Glück in dieser Wüste wer
dem andern die Hand reicht spürt Sand ja ja Heimat
ist eine Oase hinter den Dünen der Syntax und all
die Schakale Wasserträger der sterbenden Kamele
Windhosen zahme Hyänen melken die heilige Kuh
der postmodernen Vernunft und ich ausgetrockneter
Beduine pinkle ins Lagerfeuer damit es warm wird
in diesem Eisberg auf dem Landwehrkanal schwimmend
Subjekte Prädikate im Aug und die Wüste im Ohr
Werner Söllner
Rolf Bossert Gedenkveranstaltung zum 25. Todestag des Autors.
Rolf Bossert Gedenkveranstaltung (online) zum 35. Todestag des Autors.
Auf den Treppen des Windes: Eine lyrisch-musikalische Hommage auf Rolf Bossert. Aufführung am 14.10.2021 im Deutschen Staatstheater Temeswar.
Seit 2019 gibt es einen Rolf-Bossert-Gedächtnispreis, initiiert vom Lyriker, Satiriker und Übersetzer Hellmut Seiler, einem langjährigen Freund und Weggefährten des frühverstorbenen Autors. Eine unabhängige Jury bestimmte unter zahlreichen Einsendungen als ersten Preisträger Alexander Estis aus der Schweiz für seinen Text “Kleines Neurotikon”. Die Preisverleihung, die im März 2020 in Rolf Bosserts Geburtsstadt stattfinden sollte, wurde wegen der Coronakrise aufgeschoben.