Ron Winkler & Nancy Hünger (Hrsg.): Thüringen im Licht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ron Winkler & Nancy Hünger (Hrsg.): Thüringen im Licht

Winkler & Hünger (Hrsg.)-Thüringen im Licht

GLEICHGEWICHT DER LAGUNE

wenn ich aus dem fenster stürzte
und hätte keinen schlüssel –
aaaaaaaaaaarschloch hoch amerika
aus der 54. straße nach rechts
aaaaaaaaaaüber die 11. avenue in die
fünfundfünfzigste
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaflut

steigt das meer sinkt das land

aaaaaaaaaadie wahrheit ist
von mir können viele leben
und ich nicht von ihnen

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaebbe
aaaaaaaaaadie wahrheit ist
ich bin kein zigeuner
ich bin in jena geboren
das ist nicht das gleiche

aaaaaaaaaaaaaaaebbe & flut
aaaaaaaaaaist die wahrheit &
aaaaaaaaaaaaaaaich bleibe

die second avenue ist eine einbahnstraße

aaaaaaaaaadie wahrheit war
aaaaaaaaaamark in worten

Gino Hahnemann

 

 

 

Etwas vom Licht

Immer schon wurden Grenzen, trennende und schützende Bänder, um Landschaften gezogen. Um Unterscheidungen zu treffen, ein Eigentum zu sichern, zirkelte man Gebiete ab (mit Zäunen oder Wehren), besiegelte die Setzung mit Begriffen und Karten und hatte zuletzt ein Land mit einem Innen und einem Außen, soweit beides eben reichte.
Diese Länder sind stets Behauptungen, auch Thüringen ist solch eine territoriale Hypothese. Denn das, was heute Freistaat heißt, basiert auf einer wilden Ehe. Begonnen bei den Duringii des mehr oder weniger 5. Jahrhunderts, die sich aus Hermunduren, Turonen, Warnen und Angeln zusammenschlossen. Völker, die wanderten und sich verwandelten. Mit Slawen hier und Franken dort.

Später die Kleinstaaterei mit ihren Licht- und Schattenseiten. Noch später überschreibt eine nominell demokratische Republik jeglichen Landeskontext. Thüringen findet als Ganzes nicht statt: Es mussten drei Bezirke sein, die seinen Namen nirgends trugen. Der besagte Landstrich war ein Splitterganzes: Phantomunterbau zum Phantomüberbau eines merkwürdig gelebten Sozialismus. Heute ist es unbestritten, wenn auch an manchen Rändern sächsisch oder fränkisch meliert. Heute ist es eben Thüringen, mit seinen Hügeleien, Wälderflächen und Ballungszentren en miniature – und all der kulturellen Überlast, die sich im dünn besiedelten Gebiet auf Wenige verteilt.
Thüringen, das eine Mitte bilden soll. Und wirklich irgendwie mittendrin liegt. Zwischen jung und doch auch alt, zwischen festgelegt und sich noch findend. Zwischen Land des Geistes, dunklen Stellen und idyllischer Natur. Ein bisschen Transitraum, ein bisschen Zentrum. Eine Gegend mit Potenzial: Man kann sich bekennen (Heinz Czechowski).

Wie die Spötter sagen: ein einziges Unesco-Weltkulturerbe, ein Mausoleum für Klassiker wie Luther (und andere mehr), Goethe (und einen anderen noch) und Novalis (und viele andere mehr). Das Thüringen mit seinem Binnendasein – eingekauert in das große Becken träumt es noch immer vom Urmeer und handelt fleißig seine Ammoniten. Und, so betonen unisono Außenstehende und Zugereiste, die Küche nicht zu vergessen mit ihren Bratwürsten und Klößen.
Gewiss gibt es solche, die zu wissen meinen, was Thüringen ist. Die seine Grenzen physisch oder psychisch spüren, eine Rangliste seiner Schönheiten referieren können oder zu jedem Licht eine bestimmte Region wissen. Wir sagen: Wir wissen es nicht. Wir haben keine Rezepte. Wir ahnen etwas, ahnen uns in die mögliche Wahrheit voran, aber wir wissen es nicht.
Wir balancieren ein Bild in uns – und in diesem Bild gibt es kein Meer, kein Hochgebirge, keine Wüste. Oder eben nicht im landläufigen Sinn von Meer, Hochgebirge, Wüste.
Denn: Wir sind bei den Dichtern. Die Dichter wissen andere Dinge, wissen Dinge anders. Sie kennen die Nacktheit, die es braucht, um zu erkennen. Oder um aufgehoben zu sein. Oder zu balancieren.
Die Dichter wissen: Dies ist ein Land, von dem man etwas sagt. Zum Beispiel, dass alles hier aufhört und alles anfängt. (Daniela Danz). Und sie setzen ihre hieroglyphischen Stethoskope an und widmen sich den Elmsfeuern des Besonderen. Wir folgen ihnen auf verschlängelten Routen durch das Land, reisen ohne Flurbuch, ohne Raster oder Reiseführeranspruch im Gepäck von Hottelstett nach Zottelstett (Kirsten).

Um zu verfolgen, wie sich die Poesie das Land nimmt. Sich selbst einen Ort anlegt, eine Landschaft oder einen Raum, und diesen dann justiert. Das Rezept verändert. Weil es nicht passabel ist, nicht passt oder damit es nicht passt. Ganz unterschiedlich. Das Gedicht, das da ist, um zu zeigen, wie man beströmt wird von Eindrücken und elektrisiert von Illusionen. Das Gedicht als Spielwiese des Sisyphosvergnügens, dem Wesen von Heimat auf die Spur zu kommen. Oder als Handreichung, seine eigene schöne Seltsamkeit zu finden. Durch Tapeten zu starren vielleicht wie bei Thomas Spaniel, oder mit Thomas Kling in vielfältige Perplexionen abzutauchen.
Das Thüringen, von dem wir wissen, kommt einem manchmal federnd als Husarenstück entgegen, manchmal als opakes Polaroid, in dem eine Poesie wirkt, die nicht nur festschreiben kann, sondern auch lose, frei. Es kommt, aber es geht weiter: Ein meteorischer Moment und Fluchtpunkt, der Fluchtpunkte anbietet. Wo das Gedicht jetzt sagt oder hier, flirrt immer schon Veränderung. Es erlaubt innezuhalten, einen Ort ins Offene zu vergrößern und sich oder etwas anderes darin einzuwiegen, wie es bei Günter Kunert heißt. Und in dem immer etwas nicht Messbares zurückbleibt. Etwas, das man nicht kartieren kann. (Etwas Thüringisches vielleicht.) Das nicht Vorstellbare, das zum Glück noch immer das Nächstliegende ist, wie Heinz Czechowski uns vor Augen führt.
Auch in dieser Sammlung bewegt sich die Poesie irgendwo zwischen konvulsivisch und striktem Detailismus. Sie wildert und ordnet. Ihre Bewegungen umfassen einerseits Fantastiaden und andererseits Rapporte davon, angeeignet zu werden oder erfüllt zu sein. Und sie retten die Dinge vor der Abbildbarkeit. Ob nun lieblich spröde oder bitter passioniert, ob in Form emphatischer Lakonik oder süffisanter Liebesbezeugung: Es bewegt etwas, jemanden und noch uns selbst durch uns hindurch. Wie eine Furt quer durch die Strömung (Helga M. Novak).
Dabei bewusst überlagernd oder entsperrend, auf dass wir wach werden im Fokussieren (so ahnen wir). Sei es durch Fehler schaffende Verfahren oder den Blick auf Nebenwirkungen einer Landschaft. Oft sind es gerade die produktiven Missverständnisse, die uns an etwas binden. (Wir sagen: uns.) Situationen, da der Nebel mit uns durchgeht (Radjo Monk) und auch das Licht. Situationen, da wir gerne sagen: So möchte man immer ankommen (Andreas Münzner). So oder in der Art.

Ron Winkler & Nancy Hünger, Vorwort

 

Thüringen

Zwischen jung und doch auch alt, zwischen festgelegt und sich noch findend. Zwischen Weltläufigkeit und Provinzialität. Ein bisschen Transitraum, ein bisschen Zentrum. Thüringen eben. Eine Gegend mit Potenzial: Man kann sich bekennen (Heinz Czechowski).
Die Anthologie vereint über 160 Gedichte aus den letzten 50 Jahren. Mehr als 80 Dichter nehmen Bezug auf die Eigenheiten dieses Landstrichs und vermitteln einen lebendigen Eindruck von den vielfältigen Bezügen der deutschsprachigen Gegenwartsdichtung zu Thüringen.

Edition Muschelkalk, Klappentext, 2015

 

„Thüringen steht unter dem Verdacht des Provinziellen“

– Die Welt zwischen Hottelstedt und Zottelstedt: Nancy Hünger und Ron Winkler stellen ihre Sammlung von Thüringen-Gedichten vor. –

Beim Wort Heimatgedicht muss sie protestieren. „Das klingt ja wie Volksmusik“, sagt Nancy Hünger und meint: bloß nicht. Nein, nein, mit Volkstümelei habe der Band Thüringen im Licht nichts zu tun. Mit Heimat aber schon. „Was das ist, spielt für mich eine große Rolle, immer schon.“ Vielleicht auch, „weil ich selber so ein Nesthocker bin“, sagt die junge Lyrikerin – Geburtsort Weimar, Wohnort: Erfurt – „und herausfinden wollte, warum das so ist.“

Mehr als 160 Gedichte über Thüringen hat sie für die in der Edition Muschelkalk erschienene Anthologie versammelt, gemeinsam mit dem in Jena geborenen Lyriker Ron Winkler.
Es sind Gedichte aus den vergangenen 50 Jahren. Von Dichtern, die hier geboren wurden, gingen oder blieben, und solchen, die mal drüber geflogen sind über die Landschaft, die wir Thüringen nennen. Länder und Grenzen, schreiben die Herausgeber, „sind stets Behauptungen“, auch Thüringen „eine territoriale Hypothese“.
Und tatsächlich, wo könnte man die Wandelbarkeit solcher aus irgendwelchen Gründen einmal getroffenen Unterscheidungen zwischen „hier“ und „anderswo“ schöner nachvollziehen als in der Geschichte dieses Freistaats, der hervorgegangen ist aus einer „wilden Ehe“: Von den Duringii des 5. Jahrhunderts – darunter Hermunduren, Turonen, Warnen und Angeln – über herzogliche Kleinstaaterei in deutschdemokratisches Bezirksdreierlei.

Und was ist Thüringen heute? „Irgendwie mittendrin“, schreiben Nancy Hünger und Ron Winkler. „Ein bisschen Transitraum, ein bisschen Zentrum.“
Bilder hat man schnell im Kopf: Klassik und Klöße, Bratwurst und Goethe, überhaupt: viel Weltkulturerbe. Es gibt Menschen, die meinen zu wissen, was das ist: Thüringen. „Wir wissen es nicht“, sagen die Herausgeber. Ohnehin gilt: „Dichter wissen andere Dinge.“

Mehr als 60 Autoren werfen in Thüringen im Licht ihren Blick auf dieses „unerklärliche Gehügel“ (Günter Kunert), auf die Welt „zwischen Hottelstedt und Zottelstedt“ (Wulf Kirsten), auf „das Land, von dem man sagt, dass hier alles aufhört und alles anfängt“ (Daniela Danz).
Wulf Kirsten gehört mit 80 zu den Ältesten, Moritz Gause mit 29 zu den Jüngsten. Sarah Kirsch fehlt, Kathrin Schmidt ist nicht dabei, dafür Michael Krüger und Volker Braun, Harald Gerlach, Ulrike Draesner und Lutz Seiler. Die Autoren leben in Karakallio, Bristol und Berlin, in Worbis und Kranichfeld.
Sie vermessen die Landschaft mit den Mitteln der Poesie und schaffen dabei eine eigene. Andreas Münzner beobachtet „Begegnungslächeln“ im Zinzendorf-Haus in Neudietendorf und Jugendliche mit F6 im Mundwinkel: „Trotz gegen das Abfließen von Zukunft Richtung Westen.“ Im Land, das er bereist, feiert ein Schloss „Barockfest Nummer sechzehn (ein Erfolg)“, und es lärmen Bagger allerorten: „Hier wird eine tote Republik noch einmal umgegraben.“
Die Gedichte – von denen einige auch in der „Thüringer Anthologie“ in unserer Zeitung erschienen sind – werfen melancholische Blicke auf ein Land unter der Last von dem, was war. Buchenwald kommt vor, aber auch das hehre und zuweilen schwere Erbe der Klassiker.
„Johann Sebastian Bach pflanzte / Einen irdischen Wald in der ewigen Helligkeit“, dichtet der Eisenacher Pastor Christoph Eisenhuth – derweil sich Andreas Reimann über den „im gips der goethe-wichte“ konservierten Dichter mokiert und die „gartenzwerge, die durch weimar ziehen“. Weimar als Klassikerklischee – und Zuhause: „In deinen Weltbürgermauern“, schreibt Gerald Höfer, „fand ich die Liebste und mich.“
„Thüringen, hier stinkt es nach Roster“, verkünden indes die Wände bei Mirko Wenig. Das Land, sagt Nancy Hünger, „steht ja immer im Verdacht des Provinziellen. Aber es ist ein lebendiges Land mit geselligen Stimmen und einer vielfältigen Dichterkultur.“ In der sich Welt und Provinz, hier und woanders, immer schon begegneten, irgendwie: „Das Ende vom Ende“, heißt es bei Heinz Czechowski, „ist ein schöner Gedanke / der vermutlich auch / in Gotha gedacht wird.“

Lavinia Meier-Ewert, Thüringer Allgemeine, 4.6.2015

Bekenntnis besonderer Art

– „Thüringen ist eine Gegend mit Potenzial“, schreibt der Dichter Heinz Czechowski: „Man kann sich bekennen.“ Ein Bekenntnis besonderer Art wurde Donnerstagabend in der Eckermann-Buchhandlung in Weimar präsentiert: Thüringen im Licht – Gedichte aus fünfzig Jahren. –
Der Band versammelt Stimmen verschiedener Generationen – von den Altvorderen wie Eva Strittmatter, Hanns Cibulka, Reiner Kunze oder Wulf Kirsten über Vertreter der mittleren Generation à la Steffen Mensching, Lutz Rathenow oder Harald Gerlach bis zur jüngeren, zu denen man neben Moritz Gause, Peter Neumann und Christian Rosenau auch die beiden Herausgeber der Anthologie, Nancy Hünger und Ron Winkler, zählen möchte.
Letztere lassen mit Thüringen im Licht eine andere Herangehensweise erkennen als ihr Förderer Wulf Kirsten (Jahrgang 1934), der mit seinen Thüringen-Anthologien Eintragung ins Grundbuch (1996) und Umkränzt von grünen Hügeln… (2004) eine viel größere Spannweite verfolgte; letztere umfasste Thüringen-Gedichte aus acht Jahrhunderten.
Warum war eine neue Anthologie fällig? „Weil das Land seither schon wieder so viele neue Dichter hervorgebracht hat“, sagt Nancy Hünger. „Aber wir haben ja nicht nur Stimmen aus Thüringen, sondern vor allem Stimmen über Thüringen gesammelt – also auch aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Hessen.“ Doch schätzungsweise die Hälfte der 80 Autoren darf zu Thüringen gezählt werden.
In den Gedichten aus fünfzig Jahren kommunizieren drei bis vier Generationen miteinander. Der 2009 verstorbene Czechowski sah noch auf der Fahrt nach Thüringen den „Rauch über Leuna“. Der Südthüringer Walter Werner erinnerte sich, wie „mein Freistaat entstand“. Wulf Kirsten, Walter Hodjak und Helga M. Novak, aber auch Jüngere wie Jan Volker Röhnert und Harry Weghenkel reiben sich an der Geschichte des Ettersbergs bei Weimar, auf dem die Nationalsozialisten das KZ Buchenwald errichteten. Der Block mit den Buchenwald-Gedichten steht etwa in der Mitte des Bandes; das habe „sich so ergeben“, meint Hünger, doch zufällig ist das wohl auch nicht.
„Ich weiß gar nicht, ob wir Jüngeren wirklich andere Fragen stellen. Ich fand aber, dass es Zeit war, die Gegenwart, die Jetzt-Zeit stärker in den Fokus zu rücken“, sagt die 33-jährige Mitherausgeberin. Die Erfurterin hat auch eigene Gedichtbände veröffentlicht und ist gerade für ihre neuen literarischen Projekte mit dem Harald-Gerlach-Stipendium des Freistaats Thüringen bedacht worden.
Das Übergreifende der Anthologie sehen Hünger und ihr Kompagnon Ron Winkler – der übrigens die Idee zu dem Band hatte – in der kollektiven Suche nach der Identität. „Was soll das Thüringische sein? Was macht die Tradition und Stimmung eines Landes aus? Wie spielen Landschaft und Geschichte in die Biografien der Menschen hinein?“ Solche Fragen, findet sie, lassen sich am besten poetisch beantworten.
Im Vorwort überlagert das Poetische allerdings das Editorische, so dass der Leser nicht so recht erfährt, worum es in dem Band eigentlich geht und wie er gegliedert ist. Statt dessen liest er Bekenntnisse wie diese:

Wo das Gedicht jetzt sagt oder hier, flirrt immer schon Veränderung. Es erlaubt innezuhalten, einen Ort ins Offene zu vergrößern und sich oder etwas darin einzuwiegen, wie es bei Günter Kunert heißt.

Neben Kunert stößt man in dem Band noch auf weitere Vertreter der DDR-„Lyrikwelle“ der 60er Jahre. Oppositionelle Dichter aus Jena, Greiz und Sachsen sind vertreten; wobei laut Hünger erstmals Gedichte des Jenaer Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs Eingang in eine Thüringen-Anthologie fanden. Es sei allerdings auch nicht leicht gewesen, die Rechte dafür zu bekommen.
Erfrischend seien vor allem die jungen Stimmen, meint Hünger, zum Beispiel die Verse des Jenaers Moritz Gause (geboren 1986), der einen unbeschwerten, zuweilen „frechen“ Ton anschlägt:

die Sonne in den Adern
in der Hand das Bock
ein heubeladener Trabant, ein roter Traktor
proben Seiltanz zwischen Feldern

und ich schau durchs Gitterdach des Hutes
auf Esche, Gabelweihe, dunstumkreisten Himmel.

Man kann niemandem erklären, was Thüringen ist, und auch die Herausgeber gestehen:

Wir wissen es nicht. Wir haben keine Rezepte. Wir ahnen etwas, ahnen uns in die mögliche Wahrheit voran, aber wir wissen es nicht.

Trotzdem – oder gerade deshalb – sollte man beherzt zu diesem Sammelband greifen. Denn:

Wir sind bei den Dichtern. Die Dichter wissen andere Dinge, wissen Dinge anders.

Die Thüringer und mit Thüringen verbundenen Dichter erzeugen Bilder und Visionen und setzen fortlaufend Erinnerungsmarken.
„Wir wollen mit dieser Lyrik-Anthologie ein Zeichen der Erneuerung und Vitalisierung setzen“, sagt Nancy Hünger. Um zu zeigen, dass es weitergeht im Literaturland Thüringen, auch mit der Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft, in der Thüringen im Licht als Sonderband im Wartburg-Verlag erscheint. Mit neuem Einband und neuer Typographie.

Frank Quilitzsch, Thüringische Landeszeitung, 5.6.2015

Unerklärliches Gehügel im Milchglasnost

– Vielfältig und bunt: ein Sammelband mit Thüringen-Gedichten aus fünfzig Jahren. –

Die beiden Herausgeber verkörpern mit Mitte dreißig bis Mitte vierzig eher die „jüngere Generation“. Dazu gehört die knappe Hälfte der hier Gedruckten, heißen sie nun Diana Hellwig oder André Schinkel, Bärbel Klässner oder Jan Wagner. Wenige sind mit drei, vier Texten vertreten, die meisten nur mit einem oder zwei Gedichten.
Es gab einst die Lehre von den „drei Quellen und drei Bestandteilen“, welche auch für die Betrachtung dieses Bandes angewandt werden kann. So sind Ortsnamen Bestandteile: Erfurt, Weimar und auch Jena schlagen Dörfer und Städtchen Nord- und Südthüringens um Längen. Greiz und Gera lugen vom Rande; über den Rennsteig kommt Römhild und darunter der Brandleite-Tunnel. Wahl- oder Geburtsheimat ist keine Frage. Worte lassen Bedeutung aufscheinen: Buchenwald, Grenzstreifen, Gloriosa.
Der von der Literarischen Gesellschaft Thüringen beförderte, in der EDITION MUSCHELKALK erschienene Band schöpft viel aus der Thüringen-Bibliothek, die von Wulf Kirsten 1997 begründet und später von Kai Agthe herausgegeben wurde. Bislang 50 schmale Bände gaben prominenten Schriftstellern ebenso Raum wie Debütanten. So steht mancher seit langem zu Thüringen gehörende Dichter, oft schon verstorben, mit herausragenden Texten in diesem Band: Gisela Kraft, Harald Gerlach, Hanns Cibulka, Walter Werner, Uwe Grüning, Reiner Kunze; man ist geneigt, die „Sächsische Dichterschule“ folgen zu lassen: Volker Braun, Heinz Czechowski, Wilhelm Bartsch, Wulf Kirsten und am Berliner bzw. norddeutschem Rand Günter Kunert. Viele stellten sich erstmals auf Poetenseminaren vor, wo von 1970 bis 1989 in Schwerin Vers-Lehren und Leviten gelesen wurden. Das Jugendlyrikprogramm der DDR: Gabriele Eckart, Steffen Mensching, Jürgen Fuchs, Holger Uske, Lutz Seiler, Siegfried Nucke, Hans-Jürgen Döring, Lutz Rathenow, Udo Degener, Gerald Höfer, Brigitte Struzyk, Ralph Grüneberger, Kerstin Hensel, Richard Pietraß…
Bliebe als dritte größere Quelle mit Thüringen Verbundene, die beim Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen (jährlich bis 1.000 Einsendungen!) aufmerken ließen oder die Literaturburg Ranis zur Werkstatt art & wiese bevölkerten: An prominenten Stellen im Buch Daniela Danz, daneben Christian Rosenau, Jan Volker Röhnert, Peter Neumann, Kristina Stanczewski, Moritz Gause. Die Herausgeber gliederten ihr Material in zehn Gruppen, jeweils Zeilen zitierend. (Ein Zusammenschnitt der ersten und letzten Abteilung bildet die Überschrift dieser Rezension.) Die Anordnung schafft reizvolle Überblendungen von Orten: Dem historischen Friedhof zu Weimar folgen Ettersberg- und Buchenwald-Gedichte. Einem der ältesten Beiträger, Gerhard Tänzer, geboren 1937, folgt auf der Nordhäuser Spur Christian Kreis, geboren 1977. Nach Gerlachs Jenaer Porträtgedichten (Hölderlin, Johann Christian Günther) kommt Rathenows „Bücherverbrennung. Jena (1976)“.
Sprachwitz und Sprachkraft gibt es bei Wilhelm Bartschs „Guthaben“ („Wie hab ich es gut auf der Ilmtal-Bank noch“) oder bei Kerstin Hensel. Ihre „Weimar’sche Hängung“ spielt auf gehenkte Bilder im Gau-Forum an – tabula rasa mit DDR-Kunst zum 250. Geburtstag Goethes. Menschings „Altenburger Elegie“ hat nur mit Skat-Redensarten, Politik und Umsturz zu tun, von Politik ist ansonsten hier wenig zu finden.
Und weil wir nun doch bei Fehlstellen sind: Sarah Kirsch (aus Limlingerode) und Kathrin Schmidt (aus Waltershausen) hätte der Begutachter gern gefunden.

Matthias Biskupek, neues deutschland, 21.11.2015

Buchvorstellung im MDR

 

 

Fakten und Vermutungen zu Nancy Hünger + Facebook
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Nancy Hünger: In der Zwischenzeit: Poesie.

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ron Winkler

 

Ron Winkler liest zweites urbanes Panneau im Maxim Gorki Theater Berlin („Hardcover Studio“) am 5.2.2011.

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