Ruth Klüger: Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Die Kröte“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Die Kröte“ aus Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. –

 

 

 

 

GERTRUD KOLMAR

Die Kröte

Ein blaues Dämmer sinkt mit triefender Feuchte;
Es schleppt einen breiten rosiggoldenen Saum.
Schwarz steilt eine Pappel auf in das weiche Geleuchte,
Und milde Birken verzittern zu fahlerem Schaum.
Wie Totenhaupt kollert so dumpf ein Apfel zur Furche,
Und knisternd verflackert mählich das herbstbraune Blatt.
Mit Lichtchen gespenstert ferne die düsternde Stadt.
Weißer Wiesennebel braut Lurche.

Ich bin die Kröte.
Und ich liebe die Gestirne der Nacht.
Abends hohe Röte
Schwelt in purpurne Teiche, kaum entfacht.
Unter der Regentonne
Morschen Brettern hock ich duckig und dick;
Auf das Verenden der Sonne
Lauert mein schmerzlicher Mondenblick.

Ich bin die Kröte.
Und ich liebe das Gewisper der Nacht.
Eine feine Flöte
Ist im schwebenden Schilf, in den Seggen erwacht,
Eine zarte Geige
Flirrt und fiedelt am Felderrain.
Ich horch und schweige,
Zerr mich an fingrigem Bein

Unter fauler Planke
Aus Morastigem Glied um Glied,
Wie versunkner Gedanke
Aus dem Wust, aus dem Schlamm sich zieht.
Durch Gekräut, um Kiesel
Hüpf ich als dunkler, bescheidener Sinn;
Tauiges Laubgeriesel,
Schwarzgrüner Efeu spült mich dahin.

Ich atme, schwimme
In einer tiefen, beruhigten Pracht,
Demütige Stimme
Unter dem Vogelgefieder der Nacht.
Komm denn und töte!
Mag ich nur ekles Geziefer dir sein:
Ich bin die Kröte
Und trage den Edelstein…

 

Außenseitertier

Die Verbindung von Kröte und Edelstein, von widerlichem Tier und leuchtender Kostbarkeit, ist altes Volksgut. Der Dichterin Gertrud Kolmar ist diese Tradition vielleicht über Hans Christian Andersens Märchen „Die Kröte“ vermittelt worden. Dort erfährt eine sehr sympathische, idealistisch veranlagte kleine Kröte zwar, daß es Kröten mit Edelsteinen gibt, doch nicht, daß sie selber einen solchen trägt. Andersens Kröte kommt aus dem Brunnen und wird in einer fremden, ihr feindlichen Tageswelt getötet. Der Edelstein in dieser Erzählung steht ohne Umschweife für die Sehnsucht nach Höherem. Gertrud Kolmars nicht minder gefährdetes Tier hingegen hat Selbstbewußtsein und kennt seinen eigenen Wert. Trotz ihrer „demütigen Stimme“ weiß diese Kröte, daß sie nur für andere, nicht in Wirklichkeit, ein „ekles Geziefer“ ist.
Die erste Strophe unseres Gedichts scheint zunächst überfrachtet, Naturlyrik wie schon oft gehabt. Die Landschaftsmalerei entpuppt sich nach ein paar Zeilen als ein gespenstischer Geisteszustand (kollernder Apfel gleich Totenhaupt). Folgerichtig tritt ein Ich in der zweiten Strophe auf und legitimiert (das doppelte „ich liebe“) diese unheimliche Abendszene. Freilich wirkt das tierische Ich selbst befremdend auf den Leser.
Gertrud Kolmar veranschaulicht die Häßlichkeit der Kröte in einer Sprache, die musikalisch, daher konventionell „schön“ bleibt. Doch die Bilder entschleiern das Abstoßende. Die Kröte ist „duckig und dick“, hat schlechte Augen, die nicht viel ertragen („Auf das Verenden der Sonne / Lauert mein schmerzlicher Mondenblick“), sie lebt in einem Milieu von faulen Planken, Schlamm, Morast, Wust und traut sich erst am Abend aus ihrem Versteck unter der Regentonne hervor. Im Kontrast zu ihrer Mißgestalt verkörpert sie geistige Werte: dunklen Sinn und versunkenen Gedanken, eine Liebe für das „Vogelgefieder der Nacht“, ein zartes Gehör für Nachtmusik. Das unscheinbare Wesen, einerseits realistisch gezeichnet, andererseits Märchen- und Fabeltier, hat die Funktion eines todesbereiten Antihelden und ist in dieser Hinsicht eine tragisch moderne Figur.
„Die Kröte“ entstand im Oktober 1933 und gehört zu dem Zyklus „Das Wort der Stummen“, einem Konvolut von zweiundzwanzig Gedichten, die Gertrud Kolmar innerhalb von drei Monaten schrieb und ihrer Schwägerin, der Nichtjüdin Hilde Benjamin, zur Aufbewahrung gab. So überstanden sie die Nazizeit, in der ihre Verfasserin unterging. Wer Zweifel hat, daß man im Jahre 1933 über die Ausschreitungen des Regimes informiert war, braucht nur im „Wort der Stummen“ zu blättern und darin die Gedichte über Lager, Juden und Gefangene zu lesen. Sie sind Gertrud Kolmars politischstes Werk. Man kann, wenn man will, aus unserem Gedicht die ausgegrenzte, künstlerisch sensible Jüdin herauslesen; doch die Kröte einfach mit ihrer Urheberin oder auch nur mit einer von Hitler Verfolgten gleichzusetzen wäre zu kurz gegriffen. Einsame, Verachtete spielen eine entscheidende Rolle in Kolmars Werk, sind vielleicht ihr eigentlichstes Thema. Auch eine Gestalt wie Robespierre, den sie als eine Art Heiligen behandelte und dem sie zwei Gedichte im „Wort der Stummen“ widmete, vergleicht sie in einem nichtveröffentlichten Theaterstück mit einer Kröte. Kröte, das ist der verkannte Außenseiter schlechthin.
Nach dem ausführlichen Wortgemälde der ersten Strophe und dem komplizierten Zeilensprung von der dritten zur vierten Strophe wird das Gedicht syntaktisch und metaphorisch einfacher und kommt am Ende mit einem Mindestaufwand an Wörtern aus. In den schlichten letzten vier Versen erinnert uns die Sprecherin zum dritten Mal an ihren Tiernamen und damit an ihre armselige Kreatürlichkeit; sie fordert den Mörder heraus und überrascht mit einem ersten und einzigen Hinweis auf ihren Besitz des mythisch Unzerstörbaren, den Edelstein. Es sind Verse, die im Gedächtnis nachklingen.

Ruth Klügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00