Ruth Klüger: Zu Paul Celans Gedicht „Assisi“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Assisi“ aus dem Band Paul Celan: Von Schwelle zu Schwelle. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Assisi

Umbrische Nacht.
Umbrische Nacht mit dem Silber von Glocke und Ölblatt.
Umbrische Nacht mit dem Stein, den du hertrugst.
Umbrische Nacht mit dem Stein.

Stumm, was ins Leben stieg, stumm.
Füll die Krüge um.

Irdener Krug.
Irdener Krug, dran die Töpferhand festwuchs.
Irdener Krug, den die Hand eines Schattens für immer verschloß.
Irdener Krug mit dem Siegel des Schattens.

Stein, wo du hinsiehst, Stein.
Laß das Grautier ein.

Trottendes Tier.
Trottendes Tier im Schnee, den die nackteste Hand streut.
Trottendes Tier vor dem Wort, das ins Schloß fiel.
Trottendes Tier, das den Schlaf aus der Hand frißt.

Glanz, der nicht trösten will, Glanz.
Die Toten – sie betteln noch, Franz.

 

Der Heilige und die Toten

„Assisi“ besticht zunächst durch den Sog seiner Musikalität, die Harmonie von Kurz- und Langzeilen, die Wortwiederholungen, die Alliteration („trottendes Tier“), die aufeinander abgestimmten Vokale, die punktuell eingesetzten Reime. Strukturell ist auf den ersten Blick einsichtig: drei stark rhythmisierte Vierzeiler wechseln mit drei Reimpaaren. Eine Art Magie wird besonders beim Lautlesen spürbar. Aber was ist der Sinn des Ganzen?
Zwar pfeifen es die Spatzen längst von den Dächern: Die Frage „Was will der Dichter uns sagen?“ ist unzulässig, ist kindisch, beziehungsweise schulmeisterlich. Gedichte können komponiert sein wie Musikstücke, an die man ja auch die verpönte Frage nicht stellt. Trotzdem suchen wir nach Anhaltspunkten, wenn wir aussagefähige Wörter lesen. Ein noch so wohllautendes Kauderwelsch oder ein Gedicht in einer uns unbekannten Fremdsprache hält unserer Neigung zur Unaufmerksamkeit nicht stand. Orientierung bietet der Ortsname im Titel und der Eigenname am Ende. Wir befinden uns in der Landschaft des Heiligen, dem alle Kreatur lieb war, daher das Grautier des zwölften Verses. Die Figur der Hand drängt sich auf, variiert als Töpferhand, Schattenhand, schneestreuende Hand, schlafbietende Hand, der das Tier vertraut. Zu Anfang trägt einer eine Last, einen Stein, in dieses von Schatten, von Toten beherrschte Umfeld. (Im wiederholten „Umbrien“ schwingt wohl das lateinische umbra, Schatten, mit.) Die Reimpaare ordnen sich ein als Übergang von einem Zeichen- und Symbolkreis zum nächsten, von Nacht und Stein zu Krug und Hand zu Tier und Hand, wobei das „stumme Leben“ des fünften Verses immer stärker hervortritt.
Wie Zaubersprüche, wie ein „Sesam öffne dich“, stellen die beiden ersten Zweizeiler Forderungen im Imperativ. Auf den Befehl „Füll die Krüge um“, tritt sofort der Krug in Erscheinung als Dominante jedes der vier folgenden Verse. Auf den nächsten Imperativ „Laß das Grautier ein“, trottet das Tier viermal in die Strophe. Die Reime akzentuieren formelhaft Spruchartiges.
Die Beschwörung ist wirksam und doch vergeblich, denn die Zugänge sind versperrt. Der Krug entsteht zwar als Wortbild, wird aber nicht gefüllt, denn er ist durch die unheimliche festgewachsene Töpferhand verschlossen. So findet auch das Tier keinen Einlaß; wider Erwarten fällt statt einer Tür das Wort ins Schloß. Das sind traumhaft unlogische Verschiebungen: Statt Futter frißt der Esel den Schlaf aus der Hand, und „die nackteste Hand“ (ein vergleichloser Superlativ) streut Schnee. Von der surrealistischen Malerei sind wir an Gegenstände gewöhnt, die auftauchen, wo sie realiter nicht hingehören. Auch bei komischen Versen (bei Morgenstern, auch bei Jandl) bereiten uns Vertauschungen, die unserem Verständnis der wahrgenommenen Welt widersprechen, mehr Heiterkeit als Schwierigkeit. Bei Celan gibt es einen todernsten Unsinn, der uns gewisse sprachliche und psychische Strukturen vorführt, hier den Wechsel von Gelingen und Versagen, Beschwörung und Verweigerung.
Im letzten Zweizeiler steht der Heilige in der Glorie, die nicht tröstet, umgeben von bettelnden Toten. Vielleicht sind diese Ungetrösteten sein Gefolge, seine Mönche und Brüder, die ihn nicht anbetteln, sondern mit ihm betteln, denn die Franziskaner sind ja ein Bettelorden. Dann wäre Celans „Franz“, anders als Giottos Franziskus, der in der Basilika in Assisi im Triumph strahlender Farben leuchtet, der Abt dieser Ruhelosen, die vereiteltem Leben nachtrauern.
In Celans später Lyrik gibt es noch weniger Wegweiser als in unserem relativ frühen Gedicht von 1955. Bezeichnend auch für das Spätwerk bleiben die Sprachmelodie und die gleichzeitige Verunsicherung des Lesers durch Sinnentstellungen oder Sinnenthaltungen. Geheimnisse oder nur Rätsel, wie man will. Ist unser Gedicht ein Kunstwerk oder nur ein Kunststück? Die Antwort hängt weitgehend davon ab, ob Wort- und Lautstrukturen uns als sinngebend, als sinnersetzend einleuchten.

Ruth Klüger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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