IN DIESER STADT
In dieser Stadt ist auch die Maschine,
die die Träume zerreibt: mit einer lebendigen
Münze, einer kleinen Scheibe Leid,
bist du gleich dort, auf dieser Erde,
unbekannt mitten unter Schatten im Delirium,
auf Phosphoralgen, Rauchpilzen:
ein Karussel von Ungeheuern,
das sich auf Muscheln dreht,
die klingend Fäulnis zerbröckeln.
Und in einer Bar an der Ecke dort unten,
an der Biegung der Platanen, hier in meiner Weltstadt
oder anderswo. Los, schon schnappt der Hebel.
des Nobelpreises an Salvatore Quasimodo
Im Oktober 1959, kurz vor der Verleihung der Nobelpreise dieses Jahres, gab es in der französischen Presse leidenschaftliche Debatten über den eigentlichen Wert der Institution und die Maßstäbe der Zuerkennung dieser Preise, denen die Affäre Pasternak einem im Grunde ganz unerwünschten Zuwachs an Publizität verliehen hatte.
Das Alarmsignal gab ein junger Kritiker im Combat, Alain Bosquet, der feststellte, daß „das Testament eines Milliardärs genügt hatte, um einen mit der literarischen und künstlerischen Gefühlslage unserer Zeit nicht vereinbaren Nimbus zu schaffen“. Es sei höchste Zeit, „den Archaismus des Nobelpreises niedriger zu hängen – er kann eine Belobung zweiten Ranges bleiben für eine Geltung unter Mittelmäßigen, das heißt nach den Maßen seiner Jury. Deren Mitglieder bewohnen ein Land voller Ängste, sind also geneigt, sich nur in Werken auszukennen, die ausschließlich moralisch oder moralisierend sein wollen.“ Mit anderen Worten, die Schwedische Akademie, jene Stockholmer „Versammlung von Literaturbeamten, die nur auszeichnen, was ihnen von den Schriftstellern im Sinne einer allen, heute immer rückständiger werdenden kartesianischen Auffassung verständlich ist, müßte durch ein Komitee ersetzt werden, dessen Mitglieder in erster Linie Europäer und Asiaten mit der Fähigkeit sein sollten, den Traum, das Unterbewußtsein, den inneren Bruch, das in einer zerrissenen Form Ausdruck findende Schöpfertum richtig zu beurteilen“. Kurz, diesem Komitee sollten Männer wie Sartre, Malraux, Ehrenburg, Scholochow, Piovene, Jünger, Huxley, Borges und selbst ein Mann wie der Surrealist Erik Lindegren, der später dann auch in die Schwedische Akademie aufgenommen werden sollte, angehören. Es sollte seinen Sitz in Paris haben und in den Stiftungen eines Ford und Rockefeller leicht jene ein oder anderthalb Millionen Franken finden, mit denen es für immer die lächerlichen 250.000 des Nobelpreises ausstechen könnte. Die erste dringliche Tat wäre die Auszeichnung von drei Schriftstellern, die zu den „markantesten unserer Zeit gehören“, nämlich den „Aufsehen erregenden“ belgischen Dramatiker Michel de Ghelderode, den „sprühenden“ jugoslawischen Romanschriftsteller Miroslav Krléja und den „großartigen und edlen“ Dichter aus Guatemala, Miguel Angel Asturias.
Diese scharfsinnige Polemik fand ein gewisses Echo im Ausland, sogar im Lande Nobels, wo ein alter, ein wenig querulantischer Professor der Literaturgeschichte sich in den Kopf setzte, die Nobelpreisstiftung auf der Stelle zu reformieren. Er machte den Vorschlag, an die Stelle des bisherigen Gremiums eine Art parlamentarischer Versammlung zu setzen, die von verschiedenen Berufsgruppen zu wählen wäre und deren Mitglieder fortschrittliche Schriftsteller, sprachgewandte Universitätsprofessoren und Volkserzieher zu sein hätten.
Kaum vierzehn Tage nach seiner Attacke aber mußte sich der hitzköpfige französische Reformator eingestehen, daß die guten alten Akademien trotz allem auch ihren schlimmsten Gegnern noch angenehme Überraschungen bereiten konnten. Am 22. Oktober beschloß die Schwedische Akademie, den Nobelpreis des Jahres 1959 dem sizilianischen Dichter Salvatore Quasimodo zuzuerkennen, „für sein dichterisches Werk, das mit klassischer Eindringlichkeit dem tragischen Lebensgefühl unserer Zeit Ausdruck verleiht“. Und der erste, der den Preisträger in der französischen Presse enthusiastisch feierte – von den meisten seiner Kollegen war er als der „berühmt gewordene Unbekannte“, von einigen als „der vom Sputnik inspirierte Sänger“ bezeichnet worden −, war der gleiche Alain Bosquet. Im Combat lesen wir aus seiner Feder: „Daß Salvatore Quasimodo den Nobelpreis für Literatur bekam, zeigt den Wandel der Zeiten: vor einigen Jahren noch wäre es undenkbar gewesen, daß die Stockholmer Akademie einen Dichter ausgezeichnet hätte, dessen erste Sorge nicht einer klassischen Schönheit oder einer Philosophie mit moralisierenden Tendenzen galt… Der Nobelpreis belohnt eine Eroberung des Irrationalen mit den Mitteln des Rationalen: das heißt, man gibt jetzt zu, daß das Wesen der Dichtung wenn nicht unfaßbar, so doch vielschichtig bleibt, ganz gleich, unter welchem Gesetz die Wörter stehen, die ihr Ausdruck sind.“
Nicht zufrieden mit dieser ersten Anerkennung guten Willens führte er am gleichen Tag in Le Monde seine Gedanken weiter:
Quasimodo ist nicht nur der Dichter des mediterranen Lichts und der Dichter der nüchternen und bündigen Mysterien, die sich im Schatten ereignen; er ist auch, im Alltag wie in seinem literarischen Leben, Zeuge und Schöpfer… Er ist engagiert und erlaubt doch seiner Dichtung nicht, ihre unbeirrbar feste Form und die Dichte ihres heiteren Nimbus aufzugeben. Durch die Wahl dieses kühlen und doch virtuosen, dieses gewissenhaften und doch leidenschaftlichen Suchers zeichnet der Nobelpreis unbestreitbar menschlichen Adel aus und – für die Schöngeister – einen Ästheten von bewegendem Reichtum. Und sicherlich ist es dieser Aspekt von Quasimodos Werk, der seinem Ruhm Dauer verspricht, jene Dauer, wie sie seine ganz aufs Notwendige beschränkte Sprache besitzt.
Auch in der anglo-amerikanischen Presse fand die Wahl der Schwedischen Akademie ein zustimmendes Echo. So feierte die New York Times durch Sir Maurice Bowna, diesen feinsinnigen Oxford-Gelehrten, der besonders in der lateinischen Literatur zu Hause ist, Quasimodo als einen der wenigen bedeutenden Dichter des Zweiten Weltkriegs. Mehr als jeder andere Dichter seines Landes habe er die italienische Dichtersprache erneuern und bereichern können, und dies im Blick auf Dinge von größter menschlicher Tragweite.
Allerdings war die italienische Presse trotz ihrer Freude über die einem Landsmann zuteil werdende hohe Anerkennung mit dem Lob des Preisträgers durchweg zurückhaltender. Seit einem Vierteljahrhundert hatte – nach der Auszeichnung Pirandellos im Jahre 1934 – kein italienischer Schriftsteller mehr den Nobelpreis erhalten. Als nun die blühende Literatur der Apenninenhalbinsel erneut zu dieser Ehre gelangte, hatte man den einen oder anderen Namen auf der Liste erwartet: Ungaretti, Montale oder Silone – drei große Dichter, der erste von ihnen einhellig anerkannt als Meister jener „lakonischen“ Schule, aus der auch Quasimodo hervorgegangen ist – und vor allem auch Alberto Moravia, den hervorragenden Romancier, der jüngst von seinen Kollegen zum Präsidenten des internationalen Pen-Clubs gewählt worden war.
Im Corriere della sera, der größten Tageszeitung aus Mailand, griff Emilio Cecchi, der Wortführer der italienischen Literaturkritik, die Schwedische Akademie an und warf ihr vor, sie kenne die italienische Sprache und Literatur schlecht. Das sei eine Erklärung für die „Banalität, Unsicherheit und Inkompetenz“, die sie bei der Wahl gewisser Preisträger an den Tag gelegt habe. Pascoli, Verga, Gabriele d’Annunzio und Benedetto Croce zum Beispiel seien italienische Schriftsteller gewesen, die nach seiner Meinung ebenso, wenn nicht sogar eher den Nobelpreis verdient hätten als etwa Sully Prudhomme, Frédéric Mistral, Romain Rolland, Gide und Bergson. Und er schloß mit der Feststellung, Italien sei offensichtlich auf der Liste der Nobelpreisträger nicht hinreichend vertreten: „Die wenigen Italiener, die den Preis bisher bekommen haben, waren mit Ausnahme von Carducci nicht zugleich diejenigen, die ihn auch voll verdienten.“
Das ist ein hartes und anfechtbares Urteil; denn was man der Schwedischen Akademie auch vorwerfen kann, es fehlt in ihrem Kreis nicht an glühenden Bewunderern und feinsinnigen Kennern der alten und modernen italienischen Literatur. Und die italienischen Dichter haben in Schweden keinen geneigteren Fürsprecher, keinen treueren Interpreten gehabt als Anders Österling, den Ständigen Sekretär dieser Akademie. Ihm sind nicht nur adäquate Übersetzungen von Quasimodos Werk, sondern auch seiner Vorgänger und Rivalen vom Mittelalter bis in unsere Zeit zu verdanken. Er hat für seine Kollegen auch den Bericht über Quasimodo verfaßt; dessen erste Übersetzungen aus anderer Feder gehen auf das Ende der vierziger Jahre zurück. Zu dieser Zeit war Quasimodo in Italien als Dichter des antifaschistischen Widerstands bekannt und anerkannt.
In einem Bericht erwähnt Österling die tiefe Verwurzelung der Dichtung Quasimodos im lateinischen Boden und in den Traditionen des antiken Hellas, die in seiner Heimat Sizilien noch heute lebendig sind, und zeigt dann, wie der Dichter über den Hermetismus seiner ersten Meister und zeitgenössisrhen Vorbilder hinaus zu jenem geläuterten, vereinfachten, lapidaren und „ungesucht monumentalen“ Stil gekommen ist, der seine großen, vom Bewußtsein des immer und überall gegenwärtigen Todes erfüllten Dichtungen kennzeichnet.
Österling war es auch, der noch am Tag der Auszeichnung über den Rundfunk und dann in der Rede zur Preisverleihung am 10. Dezember den Preisträger vorgestellt und seine Wahl begründet hat. Er schloß mit folgenden Worten:
Quasimodos Anfänge reichen in das Jahr 1930 zurück, und bereits in den vierziger und fünfziger Jahren wird er immer bestimmter als einer der größten lyrischen Dichter Italiens anerkannt, wobei sein Ruhm die nationalen Grenzen bald weit überschreitet und internationale Geltung erlangt. Quasimodo gehört zur gleichen geistigen Familie wie Silone, Moravia und Vittorini, zu jener Generation von linksorientierten Schriftstellern, die erst nach dem Sturz des Faschismus zu Wort kamen. Wie sie besitzt er einen ausgeprägten Sinn für das Schicksal und die Wirklichkeit des heutigen Italiens.
Die Schwedische Akademie hatte jedoch aus Furcht, Quasimodos Ruhm könne doch nicht so allgemein verbreitet sein, und zur Erleichterung der Dokumentation die Unvorsichtigkeit begangen, ihre Entscheidung bereits am Tag vor der Abstimmung in der Vollversammlung den großen Presseagenturen vertraulich durchzugeben. Zwar hatte sie darum gebeten, die Nachricht erst am nächsten Tag zu verbreiten, aber das öffentliche Geheimnis machte natürlich alsbald die Runde, und der erste, der es erfuhr, war der Preisträger selbst. Als die Journalisten ihn in seiner Mailänder Wohnung aufsuchten, hatte er schon eine Erklärung bereit, die sofort veröffentlicht wurde:
Ich habe die Nachricht mit gewohnter Ruhe aufgenommen im Bewußtsein, wegen meiner besonderen Stellung in der europäischen Dichtung mit vielen Gegenstimmen rechnen zu müssen. Meine Gegner, die anderen Kandidaten, hatten zahlreiche Trümpfe in der Hand; ich mußte meinen Kampf allein führen. Die Ehre, die mir durch diese Auszeichnung der Schwedischen Akademie zuteil geworden ist, strahlt in verschiedene Richtungen aus. Sie weist vor allem hin auf das große Problem der Unruhe des heutigen Menschen, Mittelpunkt meines ganzen dichterischen Werkes.
Quasimodos Verleger, Alberto Mondadori, betonte in einem Interview, im Gegensatz zur Meinung des Auslandes sei Quasimodo der meistgelesene italienische Lyriker; einige seiner Sammlungen hätten eine Auflage von 30.000 Exemplaren, während es die von der Kritik hervorgehobenen Konkurrenten normalerweise nur auf 3.000 bis 4.000 Exemplare brächten.
Gleich nach der offiziellen Bekanntgabe des neuen Preisträgers erhielt Quasimodo von allen Seiten die herzlichsten Glückwünsche: vom Präsidenten der italienischen Republik ebenso wie vom Regierungschef Segni, von Außenminister Pella und auch von mehreren anderen Kandidaten für den Preis, darunter Alberto Moravia.
Unter den ausländischen Persönlichkeiten, die zur Verleihung des Nobelpreises ihre guten Wünsche darbrachten, befand sich auch der Präsident des sowjetischen Schriftstellerverbandes, jenes Verbandes also, der ein Jahr zuvor den damaligen Preisträger Pasternak aus entsprechenden Gründen aus seinen Reihen ausgeschlossen hatte. In seinem Glückwunschtelegramm gab der hohe sowjetische Würdenträger seiner Freude darüber Ausdruck, daß das Komitee diesmal einen der größten Dichter der Welt ausgezeichnet habe:
Durch Ihre ausdrucksstarken Gedichte, die in der Sowjetunion aufmerksam gelesen worden sind, haben Sie neue treue Freunde und Leser in unserem Land gewonnen, wo man es nicht vergessen hat, daß Sie einer der ersten Dichter waren, die unserem Sputnik ein Gedicht gewidmet haben.
Diese sowjetische Gunstbezeigung, deren Auswirkung bald in der gesamten kommunistischen Presse zu spüren war, führte bei einigen Pariser Blättern zu der bösen Frage, ob der an Quasimodo verliehene Preis nicht ein „Nobelpreis der Entspannung“ sei, mit dem der schwedische Areopag das Unrecht „wiedergutzumachen“ hoffe, das der Sowjetunion durch die Wahl des Vorjahres zugefügt worden sei. Vor die bedrängende Frage nach seinen Beziehungen zu Moskau gestellt, stritt Quasimodo auf der Pressekonferenz, die er gleich nach seiner Ankunft in Stockholm gab, jedoch energisch ab, irgendeiner politischen Partei anzugehören, und verwahrte sich dagegen, in seinem Kunstschaffen jemals unter dem Einfluß von politischen Hintergedanken gestanden zu haben.
Der Fall Pasternak schien ihn ernsthaft zu beunruhigen. Gewiß, als die Affäre Pasternak sich ereignete, hatte sich Quasimodo auf Grund einer offiziellen Einladung in Moskau befunden, doch lag er wegen eines Herzanfalls im Krankenhaus und war monatelang ans Bett gefesselt. Die unfreundlichen Äußerungen über den von seinen Kollegen bloßgestellten, unglücklichen Preisträger, die man ihm unterstellte, waren erfunden, vor allem das Wort, „Pasternak ist von der heutigen Generation so weit entfernt wie der Mond von der Erde“. Ganz im Gegenteil hatte Quasimodo stets behauptet, wenn Pasternak der Nobelpreis zuerkannt worden sei, so habe das seine guten Gründe gehabt. Und zur Überraschung der Journalisten machte er auf der erwähnten Pressekonferenz keinen Hehl aus seiner Meinung: was Pasternak wegen des Nobelpreises in Sowjetrußland zu ertragen gehabt habe, sei wenig im Vergleich zu dem wahren Martyrium, das er, Quasimodo, aus ähnlichen Gründen unter den geradezu unglaublichen Angriffen, die die westliche Presse, und ganz besonders die französische, gegen ihn verbreite, zu erdulden habe. Schien es nicht selbst in seinem Heimatland Verleumder zu geben, die ihn am liebsten lebendig auf dem Campo di Fiori in Rom, wie einst Giordano Bruno, verbrannt hätten? Was das besagte Gedicht über den Sputnik betreffe, so habe er nicht „die russische Rakete an sich“ besingen wollen, sondern jenen „neuen Mond, der mit Gottes Hilfe vom Erfindungsgeist des Menschen geschaffen worden ist“.
Zwar sei die italienische Presse – so las man im Leitartikel einer großen Stockholmer Tageszeitung – bei Quasimodos Triumph in der schwedischen Hauptstadt nur durch einen einzigen Sonderkorrespondenten vertreten gewesen, aber niemand habe ihn, soviel man wisse, daran gehindert, den Preis selber in Empfang zu nehmen. Nach dem Ständigen Sekretär sprach auf dem Preisverleihungsbankett, das wie gewöhnlich im Stockholmer Rathaus stattfand, der brillante proustische Romancier Eyvind Johnson von der Schwedischen Akademie. Er hielt seine Ansprache in gewähltem Frazösisch:
Herr Salvatore Quasimodo, Sie sind der Träger des diesjährigen Literaturpreises. Die moderne Italienische Dichtung hat in Ihnen einen Erneuerer gefunden. Ihr dichterisches Werk trägt den Stempel eines Landes und strahlt im Lichte einer Kultur, die seit Jahrhunderten viel zur menschlichen Zivilisation beigetragen haben. Eines Ihrer Gedichte trägt den Titel „Uomo dei mio tempo“. Seine Atmosphäre und seine Bilder beschwören unsere oft brutale Wirklichkeit. Sie selbst sind ein Mensch unserer Zeit im wahrsten Sinn des Wortes, und Ihr Werk spiegelt die Prüfungen, das Unheil und die Hoffnungen einer Zeit, die die unsrige ist. Ihr Blick erfaßt unsere Schwierigkeiten, und Ihr Herz ist voller Mitgefühl beim Anblick der Unglücklichen und der Enterbten: das ist der tiefe Inhalt Ihres dichterischen Werks.
Quasimodo antwortete auf italienisch mit einer begeisterten Huldigung für Schweden, der „Wahlheimat all derer, die den Nobelpreis erhalten haben“, um dann tiefgründig auf die Rolle der Dichtung in der heutigen Welt und ihre immer schwieriger werdende Beziehung zur Politik einzugehen. „Dichtung und Politik“, so lautete auch das Thema eines öffentlichen Vortrags, den er ebenfalls in italienischer Sprache am Vorabend der Preisverleihung im großen Festsaal der Schwedischen Akademie gehalten hatte und in dem er alle möglichen und unmöglichen Aspekte dieses Problems untersuchte. „Der Politiker will, daß der Mensch mutig sterbe, der Dichter dagegen, daß er mutig lebe, womit der Dichter zum verschworenen Feind jeder etablierten Ordnung wird.“ Dies erklärte der Redner unter dem sehr höflichen Beifall des italienischen Botschafters in Stockholm, des königlichen Großmarschalls und Präsidenten der Nobelstiftung Ekeberg, mehrerer Mitglieder der Akademie und vieler anderer offizieller Vertreter der etablierten Ordnung im Königreich Schweden. Ein paar Stunden danach war Quasimodo dann mit den anderen Preisträgern des Jahres zu einem Diner beim schwedischen König eingeladen, dem er eine Luxusausgabe seiner Gesammelten Werke überreichte.
Kjell Strömberg
anläßlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Salvatore Quasimodo
Majestät, Exzellenzen, meine Damen und Herren,
in diesem Jahr erhält der italienische Dichter Salvatore Quasimodo den Nobelpreis für Literatur. Er stammt aus Sizilien, aus der Nähe von Syrakus, genauer gesagt aus der kleinen Stadt Modica, die rund 10 km von der Küste entfernt liegt. Man vermag sich unschwer vorzustellen, was eine an Vergangenheit so reiche Heimat für seine spätere Berufung bedeuten konnte. Die alten griechischen Tempel auf der Insel, die großen Amphitheater am Ionischen Meer, die mythische Quelle von Arethusa und die riesenhaften Ruinen von Girgenti und Selinonte: welch ein Schauplatz für die Phantasie seiner Jugendtage! Hier waren die Helden der hellenischen Dichtung zu Gast bei König Heron, hier hallen die Stimmen von Pindar und Aischylos echohaft aus der Antike durch die Zeiten.
Wuchs Quasimodo materiell gesehen auch verhältnismäßig arm auf, so kann er doch dankbar sein für die Stätte, an der er seine Jugend verbracht hat.
Mehrere Jahre gingen dahin auf ziellosen Reisen, ehe der Dichter seines Talentes gewahr wurde und sich der klassischen Literatur zuzuwenden begann. Diesen Studien sollte, später einmal große Bedeutung zukommen in seiner Arbeit als Übersetzer klassischer Literatur, die heute die Grundlage seines Beitrags zur italienischen Dichtung ist. Es steht außer allem Zweifel, daß die strenge klassische Zucht bei ihm die Triebfeder war nicht für eine traditionelle Nachahmung, vielmehr für Gewissenhaftigkeit in allem, was die Kraft des Wortes betrifft, und ihr ist auch das Bestreben zuzuschreiben, den Stil der Verse innerlich zu durchdringen.
Wieviel Quasimodo als einer der modernen Erneuerer der Dichtung gilt, er bleibt doch in seiner Eigenschaft als wahrhafter Erbe der klassischen Welt in gewissem Sinn auch der Tradition verbunden. Quasimodos Anfänge reichen in das Jahr 1930 zurück, und bereits in den vierziger und fünfziger Jahren wird er immer bestimmter als einer der größten lyrischen Dichter Italiens anerkannt, wobei sein Ruhm die nationalen Grenzen bald weit überschreitet und internationale Geltung erlangt. Quasimodo gehört zur gleichen geistigen Familie wie Silone, Moravia und Vittorini, zu jener Generation von linksorientierten Schriftstellern, die erst nach dem Sturz des Faschismus zu Wort kamen. Wie sie besitzt er einen ausgeprägten Sinn für das Schicksal und die Wirklichkeit des heutigen Italien.
Sein literarisches Werk ist übrigens nicht sehr groß. Eigentlich beschränkt es sich auf fünf Gedichtsammlungen, die ein Spiegel seiner Entwicklung sind bis hin zu seiner vollen Reife und entfalteten Originalität. Hier die wichtigsten Titel: Ed è subito sera (1942), Giorno dopo giorno (1947), La vita non è sogno (1949), Il falso e vero verde (1953) und schließlich La terra impareggiabile (1958). Sie bilden zusammen ein in sich geschlossenes Werk, in dem nichts nebensächlich ist.
Quasimodo hat das Sizilien seiner Kindheit und Jugend mit einer Hingabe besungen, die sich später, nachdem er in den Norden Italiens gegangen war, noch vertiefte und erweiterte: die windgepeitschte Insellandschaft mit ihren griechischen Tempelkolonnaden, ihrer traurigen Größe, der Armut ihrer Städte, ihren staubigen Straßen, die sich durch die ölbaumbedeckten Hügel ziehen, mit den dumpfen Klängen schließlich, die vom Meer oder von den Instrumenten der Hirten ans Ohr dringen. Und doch kann er nicht als reiner Dichter der Landschaft gesehen werden. In dem Maß, wie sein menschliches Pathos unwiderstehlich die Geschlossenheit der Form durchbricht, der er zunächst verhaftet war, erweitert sich auch der Kreis seiner Themen. Die Richtungsänderung hängt vor allem zusammen mit den bitteren Erfahrungen des Krieges; sie haben ihm die Rolle zugespielt, das ganze geistige Leben seines Volkes zu deuten, das den Tod als tägliche Erfahrung und ständige Auseinandersetzung vor sich hatte. Während dieser letzten Periode ist eine Anzahl von Gedichten entstanden, die so bedeutend sind, daß man an ihre Zeitlosigkeit zu glauben versucht ist. Natürlich ist Quasimodo keineswegs der einzige italienische Dichter, der so von den Leiden seines Landes und seines Volkes bewegt wurde; aber die dunkle und leidenschaftliche Schwermut des Sizilianers hat einen unverkennbar eigenen Ton, wenn er zum Beispiel in einer seiner Kriegselegien am Ende ruft:
Alles wird fortgerissen, aber die Toten lassen sich nicht verkaufen.
Mein Land ist Italien, o fremderer Feind,
Und ich singe sein Volk und auch diese Klage,
Übertönt vom Rauschen seines Meeres,
Die klare Trauer der Mütter, ich singe sein Leben.
Quasimodo verschweigt nicht seine kühne Überzeugung, Dichtung habe ihren Wert nicht schon in sich selbst, sie habe vielmehr eine unbestreitbare Sendung in der durch ihre schöpferische Kraft bedingten Fähigkeit, den Menschen zu erneuern. Der Weg zur Freiheit ist für ihn derselbe wie der, auf dem man die Einsamkeit erobert, und der rechte Weg des Dichters geht in diese Richtung. Sein Werk ist jedenfalls eine lebendige Stimme geworden und seine Dichtung künstlerischer Ausdruck für das Gewissen des italienischen Volkes, soweit eine Dichtung, die mit der ihr eigenen Straffheit ihre besondere Struktur bewahrt, dies überhaupt vermag. In seinen Gedichten können sich biblische Wendungen eines Satzes dicht neben Anspielungen auf die antike Mythologie finden, jene Mythologie, die in der Inspiration eines Sizilianers immer wirksam ist. Die Grundstimmung seiner Dichtung ist eine christliche Pieta, eine christliche Frömmigkeit, die in den Augenblicken höchster Eingebung ans Universale grenzt.
Der Redner wandte sich sodann auf italienisch an den Preisträger:
Lieber Herr Quasimodo,
Was die Schwedische Akademie dazu bewogen hat, Ihnen heute den Preis zu verleihen, steht im folgenden Satz: „Für sein dichterisches Werk, das mit klassischer Eindringlichkeit dem tragischen Lebensgefühl unserer Zeit Ausdruck verleiht.“
Wir fühlen uns Ihrer Dichtung verwandt als einem echten und sehr lebendigen Zeugnis jenes Landes Italien, das in unserem Land seit Jahrhunderten treue Freunde und Bewunderer hat. Mit dem Ausdruck unserer herzlichsten Glückwünsche dürfen wir Sie bitten, aus der Hand Seiner Majestät des Königs den Nobelpreis für Literatur entgegenzunehmen.
Anders Österling, 10.12.1959
Die frühe Lyrik Quasimodos zeichnet sich aus durch eine außergewöhnliche Einheit der Themenwahl. Die ersten Zyklen „Acque e Terre“ (1920 bis 1929) und „Oboe sommerso“ (1930–1932) lassen in übergreifenden Versen und fließenden Bildern das Land Sizilien, die Insel seiner Kindheit, erstehen. So in „Isola“, „Alla mia Terra“, „Vento a Tindari“:
Tindari, mite ti so
fra larghi colli pensile sull’acque
dell’isole dolci del dio…
Eine Landschaft breitausladender Hügel taucht aus den Wassern, vom Winde zerfressen, um sofort wieder in Abgründe von Luft aufzugehen. Hängende Räume, schlafende Wälder, von heiterem Grün träumende Bäume, übervolle Flüsse erscheinen eingetaucht in das alte Licht der Mythen, in eine goldene Aura unverbindlicher Entrücktheit. In dieser sanft-heiteren Welt (soave, mite, dolcezze, letizia sind Schlüsselwörter) unbestimmter Vielzahl glänzt flüchtig ein Bild auf – Zeichen unbekannter Numina –, um sich sofort wieder aufzulösen. Häufig sind die Bilder der Luft: notte aereo mare… oder
Mansueti animali
le pupille d’aria
bevono in sogno.
(„L’Anapo“)
selbst als mythische Gestalt : pastore d’aria…
Bild löscht Bild aus. Alles ist labil und veränderlich, geheimen Mutationen unterworfen. Das Fluktuieren kommt selbst in der Syntax zum Ausdruck, wo z.B. ein Adjektiv doppelt bezogen werden darf, wie vielleicht das im Versanfang herausgestellte „dolci“ in:
e le stagioni marine
dolci fermentano rive nasciture.
(„Alla mia Terra“)
Oft fehlt das Verb. Das einzelne Wort-Bild steht im Brennpunkt. Kontinuität wird allein im lyrischen Gefühl, im rhythmischen Ausdruck faßbar. Die Bildelemente sind meist der vegetativen Sphäre entnommen („erbe“ ist eines der häufigsten Schlüsselworte) oder der rein kreatürlichen der Tiere. Strukturbilder – wie sie mit „muro“, „muraglia“, der trennenden Mauer und vor allem mit dem offenen Bogen, „arco aperto“, für die spätere Lyrik Quasimodos bedeutsam werden – fehlen fast völlig. Der Dichter selbst wird zum Baum „un albero oscilla in me“… zum Fossil; er breitet seine Hände aus, „mani erbose“, ohne die ins Dunkel sich ausweitende Welt zu fassen. Es fehlt auch die menschliche Gestalt, das Gegenüber, und somit kommt es auf dieser frühen Stufe Quasimodos – die italienische Kritik hat es dem Dichter verschiedentlich vorgeworfen – auch nicht zu einem Gespräch. Die seltenen Menschen, die dieser Welt fast wie Pflanzen und Tiere zugehören, bleiben schemenhafte Vielzahl, Zeichen einer Idee: schlafende Kinder als Symbol der Unschuld, oder Frauen als Bild der Verlassenheit:
a donne che la tristezza
chiuse in abbandono
e mai le tocca il tempo
che me discorza e imbigia.
(„Alla mia Terra“)
Selbst, die Geliebte wird in „Parola“ zum Bild-Wort der Schönheit:
parola tu pure mi sei e tristezza.
Diese veränderliche, aber unwandelbare Welt, steht außerhalb der Zeit. Sie ist für den Dichter Erinnerung und ersehnte Zuflucht zugleich. Die Rückkehr an jene besungenen Ufer aber bringt zugleich die Wende, besiegelt das unwiderrufliche Exil. Schon in „Alla mia Terra“ und in „Vento a Tindari“ wird die Scheide fühlbar.
Ma se torno a tue rive
e dolce voce al canto
chiama la strada timorosa
non so se infanzia o amore,
desio d’altri cieli mi volge,
e mi nascondo nelle perdute cose.
(„Isola“)
Das sehnsüchtige Suchen nach jener vorzeitlichen Harmonie schlägt um in frühe Todesangst. Die „andern Himmel“, die „verlorenen Dinge“, das „verschiedene Leben“ sind vorerst ebenso unbestimmt, wie die ersten naturhaften Evokationen. Das andere Leben bedeutet zunächst Schiffbruch, Versinken: „naufrago“, „affondo“, „sommerso“ sind Kennworte dieser Erfahrung, einer ganz passiven Erfahrung. Dann Entdecken des unterirdischen, verborgenen Herzens: „sepolto“ kehrt als Grundmotiv der begrenzten Tiefe, der inneren Welt wieder; und endlich viel später, auf dieser Stufe vom Dichter selbst, als Forderung vorweggenommen, Erwachen zum irdischen Leben. Wie das Echo einer versunkenen Insel, spiegelgleich noch jener ersehnten der frühen Morgen und gestirnten Nächte, erhebt sich aus verschüttetem Herzen die bittere Weise von Vereinzelung und Tod.
Lapidar hebt sich der Mensch ab vom mythischen Hintergrunde unverbindlicher Mutationen, wo die Zeit sich ewig gleich bleibt:
Ed è subito sera
Ognuno sta solo sul cuore della terra
trafitto da un raggio di sole:
ed è subito sera.
Die Gewalt dieses epigrammatischen Dreizeilers, Titelgedicht der gesammelten frühen Lyrik, wo Aussage ganz Bild geworden ist, besteht darin, daß das Erleben in einem für diese Stufe seltenen Maße über die Ich-Erfahrung hinauswächst. Hier gründet der Pfeiler jenes offenen Bogens, den der Dichter in „Giorno dopo Giorno“ errichtet, hier hebt das Drama Quasimodos an: das Erwachen zum irdischen Leben.
In der Folge versucht Quasimodo zunächst diese Grunderfahrung der Abspaltung und der Entwurzelung dichterisch zu überwinden. Dies gelingt ihm in einem der schönsten Gedichte aus dem so reichen Zyklus „Erato Apollion“ (1932 bis 1936) : in „L’Anapo“, wo den Ufern des Flusses ein Jüngling entsteigt, dem Ursprung zugeneigt, doch alle Phasen durchlebend und den Tod als Keim in sich tragend. In dieser Figur, halb Götterjüngling, halb Adam noch im Paradies, wird dem Tode der Stachel genommen und menschliches Schicksal noch als Möglichkeit aufgefangen und ins Mythische zurückverwiesen.
Die ganze Skala von Quasimodos Ausdrucks- und Bildwerten wird in diesem Gedichte konzentriert faßbar: die mit Erinnerung durchsetzte klangliche Einleitung als Distanzierung, die Bilder des Flusses, unterstrichen durch die der Nacht und der Wellenbewegung der Sterne, das Auftauchen einer mythischen Gestalt, das Zusammenwalten der Götter und des einzigen Gottes. Dann ein greller Mißton: Ride umano sterile sostanza…, der Bruch, wie schon in „Vento a Tindari“ und in „Isola“ dort, wo vom Ich die Rede war. Die menschliche Wesenhaftigkeit bleibt gleichsam ausgeklammert aus dem bildhaften Geschehen; sie treibt als inerte Masse, als bloße Aussage abgekapselt auf dem lyrischen Flusse. Dann folgt das Niedersteigen ins Dunkel des Vegetativen, kühles Vergessen und endlich im Bilde der sanften Tiere die Auflösung in den Traum.
Die Poesie wird zum Existenzproblem und sagt sich selber aus. Sie ist nicht so sehr gepreßter Ausdruck jenes anderen, verschütteten Selbst, als vielmehr Beschwörung. Genügt aber die Gabe des Wortes? Vermag das Wort-Bild als Zauberformel den Hinterhalt zu bannen? Schon die Nuove Poesie (1936–1942) führen noch tiefer in die Ungewißheit. Wiederholt fällt das Stichwort „forse“, vielleicht, das den darauffolgenden Zyklus „Giorno dopo Giorno“ wie ein Leitmotiv durchzieht. Der Gesang wird spröder, bewußter, abstrakter auch. Manchmal scheint die Erde fern und alles verloren, auch die Form. Verloren auch die Unmittelbarkeit des reinen Bildes. Der Fluß stockt, und es wird eine gewisse Schärfe fühlbar. Dermaßen in die Enge getrieben, läuft der Dichter Gefahr, sich selbst zu imitieren.
Erst in „Giorno dopo Giorno“ (1947) wird der Vers wieder flüssiger. Die Jahre des Krieges und der Besetzung finden ihren Niederschlag in Gedichten, die nun eine neue, alltägliche Welt zum Ausdruck bringen. Häuser und Straßen, Mailand und die Ebene der Lombardei, Hügel und Flüsse erscheinen in der Stille tiefer Winternächte geprägt von menschlichem Schicksal. Die Sprache ist einfacher geworden, artikulierter und sparsamer an Bildern, die nun die naturhaften Elemente mit der menschlichen Sphäre verweben und menschliches Schicksal deuten. In diesen Bild-Elementen wird die Kontinuität innerhalb des Werkes faßbar. Quasimodo leugnet die Vergangenheit nicht und die „schützenden Mythen der Gedanken“, aber das Leben zerstört die Einheit von Traum und sichtbarem Tag.
Die Erfahrung von Zerstörung und Tod schließt den Entwurzelten in die Schicksalsgemeinschaft der Lebenden ein. Im Gegensatz zur früheren Lyrik tritt die menschliche Gestalt bestimmend in das bildhafte Geschehen, und einige der schönsten Gedichte, wie zum Beispiel „Lettera“ oder „Al Padre“ wachsen aus der Zwiesprache heraus. Selbst die Gedichte, die unmittelbar auf das Zeitgeschehen anspielen, entbehren jeder Polemik, außer der gegen den Menschen seiner Zeit, der, jenem der Steinzeit gleich, seines Bruders Mörder wird. In solchen Augenblicken tiefer Ungewißheit fordert der Dichter ein Zeichen, das das Leben, die dunkle Zauberkraft der Erde, den Hinterhalt des Blutes überwinde. Ein solches Zeichen könnte die „pietà“ sein, die allerdings eher als Forderung, in negativen Umschreibungen, denn als erlebte Wirklichkeit faßbar wird:
aaaaaaaaaaa… La vita
non è in questo tremendo, cupo, battere
del cuore, non è pietà, non è più
che un gioco del sangue dove la morte
è in fiore.
(„Lettera“)
… Vi riconosco, miei simili, o mostri
della terra. Al vostro morso è caduta la pietà,…
e la pietà lontana è quasi gioia.
(„Giorno dopo Giorno“)
Doch der Bann der „unvergleichlichen Erde“ – „La, terra impareggiabile“ (1955–1958) umfaßt die letzten Gedichte – erweist sich noch stärker. Jene „amore di uomini e cose“, eine dunkle, ungestüme Liebe zu Unbekannt (bedeutsam fällt der Akzent immer wieder auf „qualcuno“: qualcuno vive … qualcuno verrà…) erfährt einen mächtigen Auftrieb und treibt den Dichter zugleich in die tiefsten und die alltäglich-äußerlichen Bereiche des Wirklichen, auf der Suche nach „etwas mehr als Vollendung“.
Von dem vor elf Jahren in Neapel gestorbenen Lyriker Salvatore Quasimodo erschienen zwischen 1930 und 1966 rund zwei Dutzend Gedichtbände, die teilweise in 35 Sprachen übersetzt wurden. In der Bundesrepublik kamen Anfang der sechziger Jahre zwei schmale Auswahlbändchen heraus. Seither hat sich kein westdeutscher Verlag um Quasimodo bemüht. Selbst bei Insidern kaum einen Geheimtip wert, blieben seine Aufrufe gegen die Pervertierung der „Atom-Kultur“ bei uns überhört.
1937 taucht in der italienischen Literaturkritik der Begriff „hermetisch“ auf, im – zuerst abwertenden – Sinne von „verschlossen“, „unzugänglich“, „rätselhaft“. Dieses Etikett des Hermetismus drückte man auch Quasimodos Lyrik auf, die seit dem Band Wasser und Erde (Acque e terre) zu Italiens bedeutendster gehörte.
Ein paar Worte zu Sizilien.
Im Volk der Mittelmeerinsel verschmolzen griechische, arabische, normannische und spanische Elemente. So entstanden „rätselhafte“ Menschen, bei denen alles andere als Redseligkeit zu entdecken ist. Das vielzitierte und oft genug belächelte Stimmengewirr sizilianischer Märkte täuscht den Außenstehenden. Es herrscht Wortkargheit, ein Stolz, der materielle Armut ignorieren hilft.
Mit seiner Sprache fällt der 1901 in Modica, Prov. Ragusa, geborene Dichter sicherlich nicht – wie es heute verlangt wird – mit der Tür ins Haus. Sie besteht aus vorhandenem Vokabular, ist sparsame Geste, Andeutung, ist ernstes Aufmerksammachen und wird zur Aufarbeitung täglicher Themen verwandt. Unverstellt, ohne Pathos kommen Liebe und Tod zur Sprache. Der Lyriker setzt sich mit der sozialen Tragödie Siziliens auseinander, mit der schmerzlichen Harmonie der Natur, die eine Berg-und-Tal-Schwärmerei nicht zuläßt:
Fern ist unsere Erde, im Süden, warm von Tränen und Trauer, dort unten, in schwarzen Tüchern reden die Frauen vom Tod unter der Haustür.
Dies wird besonders in den nach dem Krieg geschriebenen Gedichten deutlich. Diese sehr stark humanistische Lyrik, vom Dichter als „Sozial-Poesie“ bezeichnet, entstand aus dem Widerstand gegen das ungezügelte Mordgeschäft der Faschisten. Quasimodo kämpft gegen sein Erinnern, steht in ständigem Widerstreit zwischen Schweigen und Verschweigen:
Deine furchtbare Gabe
der Worte, o Herr
verbüße ich unaufhörlich
Der u.a. als Geometer bei der Eisenbahn beschäftigte Lyriker teilt das Emigrantenschicksal vieler Sizilianer. Schon früh verläßt er seinen Kulturkreis, die „Insel des Odysseus“, übersiedelt nach Milano, wo er an der Musikhochschule lehrt und an Übersetzungen aus zahlreichen Sprachen arbeitet: berühmt wurden seine Übertragungen klassischer griechischer Dichtung.
In der sozial, politisch und kulturell ganz anders gearteten norditalienischen Industriemetropole, die er als „deformierte Natur“ bezeichnete, werden auch seine Bücher verlegt. Neben anderen Ehrungen erhält Salvatore Quasimodo 1959 den Nobelpreis für Literatur.
BRIEF
Diese stehende Stille in den Straßen,
dieser träge Wind, der jetzt tief unten
in den welken Blättern hinzieht oder aufsteigt
in den Farben der fremden Fahnen…
vielleicht der Wunsch, dir ein Wort zu sagen,
eh der Himmel sich wieder schließt
über einem anderen Tag, vielleicht die Trägheit
unser gemeinstes Übel… Das Leben
ist nicht in diesem furchtbaren, düsteren Schlagen
des Herzens, ist nicht Erbarmen, ist nur
ein Spiel des Blutes, wo der Tod
in Blüte steht. O meine süße Gazelle,
denk an jene leuchtende Geranie
auf der vom Maschinengewehr durchlöcherten Mauer.
Oder ist der Tod auch jetzt kein Trost mehr
für die Lebenden, der Tod aus Liebe?
(aus dem Italienischen von Gianni Selvani)
Thomas Kling, Zwiebelzwerg. Zeitung für Kunst u. Soziales Nr. 8, 1979
Manlio Dazzi: Salvatore Quasimodos Parabel
Sinn und Form, Heft 5–6, 1962
Cornelia Jentzsch: Still ist die alte Stimme
Deutschlandfunk, 20.8.2001
Thomas Kling: Nackte Stimme, dir gehorch ich
Süddeutsche Zeitung, 20.8.2001
Salvatore Quasimodo – Interview.
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