KRÄHENGESCHWÄTZ
Mein Richtstern ist ein faust-
Großer Planet und mein Kompaß
Liegt auf dem Grund der See
Aber die Hoffnung will tanzen
Nur der Sperber über der Ebene
Liest die Gedanken.
Erde und Menschen sind
Gänzlich verwildert hilft
Kein Besinnen der Klotz
Ist unterwegs im freien Fall
Und ich selbst
Entstamme einer Familie von Wölfen.
Der Widerspruch zwischen Verschämtheit und Tüchtigkeit macht die Schönheit des Sarah-Einfalls. Es ist eine Veilchenschönheit, freilich nicht eben eine treuherzige.
Peter Hacks
Das „Liebes“gedicht – wenn man den strapazierten Begriff nicht wörtlich nimmt, ihn vielmehr als „Liebe zum Existenziellen“ interpretiert – hat bei ihr einen zentralen Platz, und es schließt wie selbstverständlich Selbstbewußtsein, Gefährdungen, Verlust, Trauer, aber auch den „auf die eigenen Füße gestellten“ Ausblick mit ein.
Bernd Jentzsch
Sie war schon zu ihrer Zeit am Leipziger Literaturinstitut selbständig, naiv vielleicht, aber echt.
Heinz Czechowski
Das jähe und unmittelbare Miteinander von Sichtbarem und Unsichtbarem, Tatsächliches, wie es ständig neben uns geschieht, und Unwahrscheinliches, das wir nicht wahrhaben wollen, als eine einfach verwirrende, verwirrend einfache Wirklichkeit – ich erfahre sie nur aus den Gedichten von Sarah Kirsch.
Gerhard Wolf
Es ist unheimlich und schön zugleich, mit diesem Werk zu leben, denn die sanfte Schönheit dieser lyrischen Sprache ist Teil jenes Schreckens, der die Erfahrung wahren Lebens in sich birgt.
Wolfgang Frühwald
Niemand muß zwischen den Zeilen lesen, nie werden die Verse „allgemein“, pseudo-poetisch verschwommen; konkret sind sie auf Zeit und Welt, auch wenn sie Traumlandschaften entwirft oder durch Märchenwälder schweift.
Rolf Michaelis
Wissen wir zu schätzen, daß es solche Verse wie die von Sarah Kirsch gibt, die uns mit sanftem Schrecken mögliche Katastrophen ins Bewußtsein rufen und eindringlich den „verlorenen Traum von der / Schönheit der Welt die so / Verkommen darnieder / Liegt“ beklagen!
Gerd Langguth
Ohne alles Brimborium: Wie alle andere Poesie, die heute zählt, spricht auch diese vor allem von der Not der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts – und, deutlicher vielleicht als manches andere, von zerscherbten Hoffnungen.
Adolf Endler
Sie ist die Lyrikerin der großen Gefühle und mächtigen Leidenschaften, daher schwanken ihre Verse zwischen den Extremen, zwischen strahlendem Licht und düsterer Nacht, ihre Skala reicht von der Erfüllung bis zur Verweigerung, von leiser Zärtlichkeit bis zu dröhnender Wut und bis zu gewaltigem Zorn, von der Seligkeit bis zur Bitterkeit der Niederlage.
Marcel Reich-Ranicki
Nachdem 1976/77 infolge ihres ,Ausreiseantrags‘ das druckfertige Poesiealbum 113 aus politischen Gründen zuerst um neun Nummern und dann ganz und gar verschoben wurde, gelang auch 2009 ein Neustartversuch nach Wiederbelebung des Poesiealbums aus anderen Gründen nicht auf Anhieb. –
„Über den Rang, den Sarah Kirsch mit ihren Gedichten in unserer Literatur einnimmt, braucht hier nicht referiert zu werden“, schrieb der damalige Herausgeber Bernd Jentzsch kurz und bündig in seinem Verlagsgutachten, bevor auch er die DDR verließ. Dem ist aktuell nichts hinzuzufügen: Diese Auswahl eröffnet den Kirsch-Kennern wie den Erstlesern neue Aus- und Ansichten!
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2017
Sarah Kirsch wechselte infolge der Biermann-Affäre „von der volkseigenen Idylle ins freie Land der Wölfe“ und führte ihren von Peter Hacks spöttisch so genannten, aber tatsächlich unverwechselbaren „Sarah-Sound“ fort, der „gegen Verrat und / Samtige Sprüche“ opponiert. Die jüngere Schwester von Bettine oder der Droste macht wie diese das Politische im Poetischen vernehmbar. In ihrer Lyrik ist die verstummende Natur ein Spiegel gesellschaftlicher Zustände, die die menschlichen Beziehungen zerstören, was sie mit geschärftem Blick für Unrecht und Schmerz sowie Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit zum Ausdruck bringt. Nicht mit plakativen Aufschrei, sondern mit leiser Eindringlichkeit warnen ihre in doppelter Bedeutung ,freien Verse‘ vor möglichen Katastrophen.
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2017
Sie ist eine Märchenhafte, ist die Pflanzenstreichelnde, die Engelschwester, die Kräuterhexische, deren poetische Gegenstände auf Bildteppichen davonfliegen. In diesen Gedichten ist die Welt eine Ganzheit aus Himmeln und Tiefgras, aus Demut und Trotz – Sarah Kirschs Poesie hat niemals die Distanz gekannt; und wahrscheinlich ist es gar nicht so sehr der Reichtum an Stimmungen, der an ihrem Vers so fasziniert, sondern die zarte Heftigkeit, nicht der Stimmungen Vielfalt, sondern deren Kraft. Großes Gefühl, hochgespannter Ton; in allem eine weibliche Sanftheit, die keck wiesenhüpft, in Kostümen und Wortschätzen vergangener, aber nahgefühlter Jahrhunderte. Der „Droste jüngere Schwester“ hat Marcel Reich-Ranicki sie genannt, und alle, die ihren Weggang 1977 aus der DDR betrauerten, klagten auch über den Verlust des geliebten „Sarah-Sounds“ (Peter Hacks). Im Osten, so hat sie mal gesagt, „war es eine große Gnade, ein Sonstwas, wenn ein Buch, das man geschrieben hatte, auch herauskam. Dieses Gefühl war für mich unwürdig und grauenhaft.“
Kirschs Leben (1935–2013) war eine entschlossene Suche nach Rändern. Wo man die entscheidende Wahrheit empfindet: dass man woanders nichts, aber auch gar nichts verpasst hätte. Natur und Häuslichkeit, Tür und Totale – Sarah Kirsch lockt per Vers, gleichsam über brüchiges Eis, in die warme Küche, in die Nachbarschaft mit Katzen. Und der Weg führt durch Vogelschwärme und am Sitz von Schneeleoparden vorbei. Ihre Poesie: Blumensträuße wie Fackeln des Frohseins, das Wetter am liebsten ein Regensopran. Sarah Kirsch ist eine Spurensucherin im Millimeterbereich. Das schönste Wort der Sammlung: „Schneewärme“.
Das Poesiealbum enthält auch Gedichte aus dem ersten Band der Dichterin: Landaufenthalt. Wie ein Aufatmen klingt das. Das Wort rauscht wie eine Baumkrone. Abkehr singt aus diesem Wort, Abkehr von allen Formen des Betonierens. Kirsch hat ihn erfahren, den Beton:
Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg
Nachmittags vergesse ich jedweden Krieg
…
Nachmittags ziehe ich mich aus mich an
Erst schminke dann wasche ich mich
Singe bin stumm
Zeilen aus dem Gedicht „Schwarze Bohnen“. Verse über die peinigende Erträglichkeit der Dinge. Der VI. Schriftstellerkongress 1969 vermisste „soziales Pathos“ und „hymnischen Geist“. Ein einziges Gedicht genügte für den Pranger: Was kümmerte die geistigen Inquisiteure, welches Seelenzittern sie in einer jungen Frau auslösen? Drei Jahre litt sie am Schmerz des Schweigens. Ein Elendsprotokoll des Systems.
Fahrt und Flug sind das Wesen dieser Dichtung. Fahrtwind und Funkenflug. Wir lesen eine Dichterin der Freiheit. Diese Freiheit ward gefunden am Eiderdeich in Schleswig-Holstein. Die dithmarschen Moore grüßen mit ihrem Dunkel; immer nahm Sarah Kirsch dieses Dunkel auf wie einen Faden und spann es weiter zum Gold, darin Tierheit und Menschheit gemeinsam aufleuchten.
Andrea Marggraf: Ein Besuch bei Sarah Kirsch
Versprengte Engel – Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch ein Briefwechsel
Lesung in der Quichotte-Buchhandlung in Tübingen am 8.12.2023 mit Wilhelm Bartsch und Nancy Hünger sowie Marit Heuß im Studio Gezett in Berlin.
Begrüßung: Wolfgang Zwierzynski, Buchhandlung Quichotte
Einleitung: Katrin Hanisch, Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft e.V.
Jens Jessen: Versteckte Aggressivität
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.1995
Jürgen P. Wallmann: Verspielte Vision
Rheinische Post, 14.4.2000
Heinz Ludwig Arnold: Ein paar Abgründe überwinden
Frankfurter Rundschau, 15.4.2000
Peter Mohr: Meine schönsten Akwareller sint weck
General-Anzeiger, Bonn, 15./16.4.2000
Jürgen Israel: Das Herz hat einen Riss
Unsere Kirche, 16.4.2000
Horst H. Lehmann: Bibliophile Werkausgabe auf Büttenpapier
Neues Deutschland, 17.4.2000
Hans Joachim Schädlich: Sarah. Ein Geburtstagsgruß
Neue Rundschau, Heft 3, 2000
Marion Poschmann/ Iris Radisch: Man muss demütig und einfach sein. Gespräch
Die Zeit, 14.4.2005
Michael Braun: Landschaften mit Endzeit-Boten
Basler Zeitung, 15.4.2005
Unter dem Titel Idyllische Apokalypse
Stuttgarter Zeitung, 15.4.2005
Helmut Böttiger: Hier ist das Versmaß elegisch
Badische Zeitung, 16.4.2005
Michael Braun: Die Schmerzzeitlose
Der Tagesspiegel, 16.4.2005
Johann Holzner: Das Leben verlängern
Die Furche, 14.4.2005
Christian Eger: Unter dem Flug des Bussards
Mitteldeutsche Zeitung, 16.4.2005
Alexander Kluy: Den Himmel vergleichen
Frankfurter Rundschau, 16.4.2005
Dorothea von Törne: Schütteln und weiterleben
Literarische Welt, 16.4.2005
Gunnar Decker: Fisch, der am Grund lebt
Neues Deutschland, 16./17.4.2005
Samuel Moser: Verse vom Rand der Welt
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.4.2005
Hans-Herbert Räkel: Ein Elefant muss über die Alpen
Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2005
Sabine Rohlf: Läuse bei Mäusen in der Umgebung von Halle
Berliner Zeitung, 16./17.4.2005
Andrea Marggraf: „Bevor ich stürze, bin ich weiter“
Deutschlandradio Kultur, 13.4.2010
Erich Malezke: Natürliche Distanz zur Außenwelt
SHZ, 15.4.2010
Jürgen Verdofsky: Remmidemmi in Tielenhemmi
Frankfurter Rundschau, 15.4.2010
Wilfried F. Schoeller: Hier bin ich gern und immerdar
Der Tagesspiegel, 15.4.2010
Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
Thüringer Allgemeine, 16.4.2010
Rebekka Haubold: Sarah Kirsch feiert 75. Geburtstag
Radio für Kopfhörer, 16.4.2010
Gunnar Decker: Pirol unter Krähen
Neues Deutschland, 16.4.2010
Brita Janssen: Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
BZ, 16.4.2010
Peter Mohr: Meine Naivität war mein Glück
literaturkritik.de, Mai 2010
Michael Braun: „Alles ist auffindbar in meinen Spuren“
Konrad Adenauer Stiftung, April 2010
Heidelore Kneffel: 1997 bei Sarah Kirsch in Tielenhemme
nnz, 5.5.2018
Karin Kisker: Zum zehnten Todestag der Dichterin Sarah Kirsch
Neue Nordhäuser Zeitung, 5.5.2023
Wulf Kirsten: Rede auf Sarah Kirsch zur Verleihung der Ehrengabe der Heine-Gesellschaft 1992.
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