Seamus Heaney: Poesiealbum 283

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Seamus Heaney: Poesiealbum 283

Heaney/Korab-Poesiealbum 283

ENTDECKUNG

Es ist Dezember in Wicklow:
Triefende Erlen, Birken,
Die das letzte Licht erben,
Derweil der Esche Anblick frieren macht.

Ein verloren gegoltener Komet
Sollte bei Sonnenuntergang sichtbar sein.
Jene Millionen Tonnen Licht
Wie ein Schimmer von Mehlfäßchen und Hagebutten.

Mitunter seh ich eine Sternschnuppe.
Träfe ich doch auf einen Meteoriten!
Stattdessen streife ich durch klammes Laub
Und Fruchthülsen, das verbrauchte Glück des Herbstes.

Und denk mir einen Helden,
Der, auf schlammigem Lager,
Sein Talent wie einen Katapultstein
Für die Verzweifelten verschleudert.

Wie bin ich so weit gekommen?
Ich erinnre mich oft der schönen
Funkelnden Ratschläge meiner Freunde
Und der Amboßbirne derer, die mich hassen,

Während ich dasitze und endlos
Meine einklagbaren Tristiae wäge.
Wofür? Für das Ohr? Für das Volk?
Für das Rückengeflüster?

Regen dringt durch die Erlen.
Seine leisen Dienerstimmen
Murmeln von Demütigungen und Verschleiß;
Und doch mahnt jeder Tropfen

Ans diamantene Absolute.
Ich bin weder Gefangener noch Spitzel;
Ein innerer Emigrant, langhaarig
Und gedankenvoll; ein hölzerner Bauernlümmel,

Der dem Massaker entkam,
Tarnfarbe annimmt
Von Baum und Borke
Und jeden Windhauch spürt;

Der um dürftige Hitze
Diese Funken aufblies
Und dabei das Lebenswunder versäumte,
Die pulsende Rose des Kometen.

Deutsche Nachdichtung: Richard Pietraß

 

 

 

Poesiealbum 283

Daß er lyrischen Genius in sich habe, wurde dem ältesten Sohn eines nordirischen Bauern nicht an der Wiege gesungen. Im Mönchsgewand eines Lehrers machte er sich auf den abgründigen Pfad, der ihn in die Frühgeschichte seiner Insel und ihre Literatur führte, das bange Spannungsfeld von Unabhängigkeitsstreben und militärischer Gewalt. Weniger gewillt, Kämpfer zu sein als Zeuge, beschwor er Facetten dieses Konflikts wie immer wieder seine magischen Wurzeln zwischen Höfen und Furchen, Weiden und Mooren. Dichterischer Glanz und die Gabe zu funkelnder Würdigung der Weltpoesie bescherten ihm Lehrstühle in Harvard und Oxford und die Nobelkrone der Schwedischen Akademie.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2009

 

Der verwaiste Spaten

– Meine Begegnung mit Seamus Heaney. –

Die Hiobsbotschaft seines Todes traf mich aus heiterem Augusthimmel. Tagelang saß ich betäubt und betrübt. Seit dem zu seinem Siebzigsten erschienenen Poesiealbum mit dem Kopf des enthaupteten Moormädchens auf dem Umschlag, für den er sich besonders bedankte, hatte ich nicht von ihm gehört. Nichts von seinem zuvor erlittenen Schlaganfall, dem er die Erneuerung der Liebe zu seiner Frau und das Rettungswunder beherzt zupackender Freunde dankte. Am Wortschopf der Zeilen zog ich mich, sein Lazarusgedicht „Miracle“ übersetzend, aus dem Sumpf meiner dumpfen Trauer:

WUNDER

Nicht jener, der sein Bett nimmt und wandelt,
Sondern jene, die ihn schon immer kannten
Und hineintrugen –

Auf ihren tauben Schultern, den eingefleischten
Schmerz im gebeugten Rücken, die Griffe der Bahre
Schlüpfrig von Schweiß. Und nicht nachließen

Bis sie ihn, festgezurrt und kippsicher
Emporhoben unters Schindeldach und niederließen zur Heilung.
Gedenke ihrer, wie sie stehen und warten

Daß das Brennen der Seile schwindet in den Händen
Schläfenschwindel und Unglaube
Vergehen jener, die ihn schon immer kannten.

Auch wenn ich den Band North bereits 1986 übersetzt hatte, lernte ich seinen Autor erst acht Jahre später kennen: Es war der 10. Dezember 1994. Die Berliner Akademie der Künste lud in ihrer Reihe Der Übersetzer und sein Autor die Nachdichter Ditte und Giovanni Bandini und Seamus Heaney in den Hanseatenweg ein. Da meine Neugier meine Scheu besiegte, wurde ich Zeuge dieses Abends peinlich genauer Rechenschaft der Übersetzer. Endlich blitzte der Schalk in den Lachfalten der Hauptperson, die nicht à la mode gekleidet war. Der angejahrte Anzug spannte um die Mitte des Mittfünfzigers, den man leicht für den Direktor einer Bauernbank halten konnte. Dann die Verwandlung von Lehm in einen Gott. Ein irdischer Antäus, glücklich über die gelungene Schöpfung, zelebriert auf der konsonantenreich orchestrierten Orgel seiner Dichtersprache. Güte. Laune. Feuerwerk. Der herzliche Händedruck und das sofortige Bescheidwissen. Seine Frau rief er vom andern Ende des Saales, damit auch wir uns kennenlernten. Seine Regung, auch mir Gutes zu tun, und mein Wunsch auf eine offene Tür, sollte ich einmal nach Irland kommen. Mein Staunen, daß der von Reise, Lesung und Smalltalk Gestreßte, der anderntags früh zum Flughafen mußte, sich nicht auf sein Zimmer zurückzog, sondern mit irischen Freunden, mit denen er eben noch am Sandwichtisch gesungen hatte, ein Auto bestieg, ans Brandenburger Tor zu fahren. Das war nicht die Saturiertheit des Erfolgreichen, sondern die anhaltende Jagdlust auf poetische Konstellationen.
Auf den Tag genau ein Jahr später und zugleich 72 Jahre nach seinem Landsmann William Butler Yeats, in dessen Todesjahr 1939 er geboren wurde, nahm Seamus Heaney aus den Händen des schwedischen Königs den Nobelpreis entgegen. Nach einer Hängepartie mit der Schwedischen Akademie und der Nobelstiftung, die keinen Stuhl für mich hatten, bis ich ankündigte, in jedem Fall anzureisen und notfalls über mein Zurückstehen hinter Diplomaten und Potentaten zu berichten, durfte ich schließlich diese Sternstunde in Stockholms Konzerthaus mit dem Geehrten teilen.
Da schon das Leihen eines Fracks mein Sparschwein zum Schuldturm gemacht hätte, mischte ich mich unter Hunderte ordensbebänderte Frack- und Fliegenträger mit ihren Putzbienen in einem, bei dieser Zeremonie geduldeten, Straßenanzug, mit Pinguinschlips: barfuß im Frack.

Die Musik. Die Reden. Der König. Die Preisträger. Die Fanfaren. Die Reden. Der König. Die Fanfaren. Das Gefühl von Olympia und von Jugendweihe. Die Musik. Das Ende. Das Blitzlichtgewitter. Das Gratulationsgewühl. Das Gruppenbild Heaney: Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Sohn. Ich hetzte hinunter, auch noch zu gratulieren, ehe das Protokoll die Preisträger entführte.
Mein Fußweg zum umfackelten Wasserrathaus. Die Fernsehübertragung des Nobelfests in der Gästewohnung des Schwedischen Schriftstellerverbands, Füße auf dem Tisch, Augen auf den Tellern, auf- und abgetragen von einem hundertfüßigen Ballett. Die Beobachtung, daß ein Frack jedem eine gute Figur macht, Langarm und Kurzbein, Bauch und Buckel. Die Appetithappen auf Mühlradtellern. Schwedens Bestes aus Küche und Kellern. Der Schwof von Bürgermeistern und Studenten. Der steife Tisch der Exzellenzen. Das „Dies Jahr hat’s wieder Spaß gemacht“. Die Stockholmer Dezembernacht.
Im Bett las ich in Heaneys schon drei Tage zuvor gehaltener Dankrede, anderntags empfing mich der immer noch Erkältete in seinem Grandhotelzimmer. Herausgeklopft wurden wir nur von der lichtbringenden Kinderprozession vorm Fest der heiligen Lucia. Was wir scherzten, rieselte durchs Rüttelsieb der Jahre. Tintenfrisch in den schönen Bänden von Faber & Faber: Namen, Ort und Tag.

Bald begann ich, die Stockholmer Rede zu übersetzen. Mit dem Großen Muret-Sanders, den mir ein Münchner Freund für das North-Abenteuer geschenkt hatte, mußte ich nochmals alle Register ziehen. Und doch gelang es mir nur mit Mühe, dieses wie die DNS aus drei Strängen gedrillte Tau aufzudröseln und zu entschlüsseln. Einen Monat fraß ich mich durch diesen Zauberberg, in dem sich das Schicksal seiner gebeutelten Heimat, seine eigene Entfaltung und sein Verständnis von Dichtung kunstvoll zu Knoten und Geweben verdichteten. Schon der Titel „Crediting Poetry“ führte die Übersetzer in unterschiedliche Ecken: „Das Verdienst der Dichtkunst“ (Uli Aumüller), „Die Poesie würdigen“ (Jürgen Schneider) und mein „Dank an die Poesie“. Auf die längsten, verwinkeltsten Gedankensprünge halfen mir Karin Clark und Claire McTague. Heaney selbst singt das Lob der Freundschaft, indem er Yeats’ berühmtesten Zweizeiler zitiert:

Think where man’s glory most begins and ends;
And say my glory was I had such friends.

Du fragst, wo Ruhm beginne, Ruhm ermatte.
Mein Ruhm war, daß ich solche Freunde hatte.

In Briefen schwebende Freundschaft habe ich mit dem sieben Jahre Älteren nicht angestrebt. Zu groß war meine Angst, den mühsam erworbenen Übersetzerruf („inspired as well as accurate“, hatte er sich in seinem Brief an Reclam die Nachdichtung gewünscht) durch Plumpheit in der Butter-, der Nichtmuttersprache zu verspielen. Dabei fühlte ich mich als sachsengeborener Sechster von Sieben eines masurischen Müllers zum Ältesten von Neun eines nordirischen Milchbauern und Viehhändlers hingezogen.

Reise- und Radiolust waren es, die mich Fünfzigjährigen im Juli nach Irland aufbrechen ließen. So landete ich in Blooms Hotel, mitten in Dublins Temple-Bar-Viertel, das von den Gästen eines Blues Festivals überquoll. Ehe ich mich versah, war mein erstes Guinness gezapft, mein letztes Irish Stew im tiefen Teller. Da Heaney noch in Spanien Urlaub machte, beschloß ich bald nach meiner Regenwanderung in den Vorort Sandymount, nach Nordirland weiterzufahren, zumal die vom Marsch von Portadown angeheizte Lage sich wieder beruhigt zu haben schien.
Busfahrt durch gespannte Luft. Beim Passieren der inneririschen Grenze blicke ich in Vergitterungen und Maschinengewehrläufe. Ein jugendliches Paar wird herausgeholt und gefilzt. Mich erwartet Glenn Patterson, ein junger nordirischer Schriftsteller, den ich aus Berlin kenne. Er bringt mich zu meinem Bed-and-Breakfast und entschuldigt sich, noch für seinen Drivers Test lernen zu müssen. Allein zieht es mich magisch in die Falls, die Katholikenviertel im Westen Belfasts. Ich passiere schwenkbare Straßenschranken und gitterverschanzte Polizeistationen und gerate in die Old Oak Bar, eine Kneipe in einem der stehengebliebenen Häuser. Drinnen eine Handvoll Männer in mittleren Jahren. Einer von ihnen erkennt mich sofort als Fremden und drängt mir seinen Hocker auf. Bald erfahre ich, daß zwei seiner Brüder erschossen, er am Ellbogen verletzt wurde. Im unter der Decke hängenden Fernseher Berichte über die marschierwütigen Feinde. Paddys Körper strafft sich wie unter Hochspannung. Fuck! Stößt er gepreßt hervor. Fuck! Ehe ich nach zwei Guinness in die nachmittägliche Julihitze zurücktappe, frage ich ihn nach Seamus Heaney:

A good irish man.

Anderntags fahre ich, erstmals im Linksverkehr, Richtung Nordwesten, um Heaneys Geburtsort Castledawson und seine Kindheitslandschaft aufzusuchen. Ich passiere Lough Neagh und bin nach einer guten Autostunde an Ort und Stelle. Der junge Tankwart verkauft mir einen Zweilitertank köstlicher Milch und weist mir die falsche Richtung. Aber woher soll er den Namen von Heaneys Geburtshof wissen. Statt dessen gelange ich in das Städtchen Bellaghy, in dessen Nähe die Familie zog, als Seamus vierzehn war. Auslöser war der Tod des Onkels, der Heaneys Vater seinen Hof vererbte, aber wahrscheinlich genauso der Tod des kleinen Bruders Christopher, der vierjährig an der am Gehöft vorbeiführenden Straße von einem Auto erfaßt und getötet worden war.
In Bellaghy lasse ich mein Gefährt stehen und gehe zu Fuß weiter. Auf dem Friedhof finde ich das Familiengrab. Der rötliche Sandstein wurde von Vater Patrick in Erinnerung an Christopher, die geliebte Tante Mary und Heaneys Mutter gesetzt, die 1984 starb. Das hohe Grabmal ist eine steinerne Chronik, denn auch Patrick und zwei weitere seiner Schwestern, Heaneys Tanten Grace und Sarah, sind darauf verewigt. Die letzte, eine Lehrerin, starb im Oktober 1995, neunzigjährig. In der angrenzenden Kirche spreche ich mit dem Küster, der die Familie gut kennt und sich lebhaft an Seamus erinnert. Er zeigt mir auch das Grab seines Vetters Colum McCartney, der 1975 zweiundzwanzigjährig an der Grenze erschossen wurde, als er von einem Fußballspiel aus Dublin zurückkam.
Kaum habe ich den Kirchhof Richtung „The Wood“ verlassen und bin um die erste Kurve gebogen, hält neben mir ein Auto, und ich werde gefragt, wo ich hinwill. Ich sage, wer ich bin und daß ich hier umherstreife, Heaneys Landschaft zu sehen, dem Gehöft aber nicht zu nahe kommen wolle. Mitgefangen, mitgehangen, ignoriert der Ire meinen Ausstiegswunsch und fährt mich direkt auf den Hof. Sofort kommt die Frau von Heaneys Bruder Hugh, der seit dem Tod des Vaters im Jahre 1986 die Farm bewirtschaftet, und ich muß mich erklären. Während ich dem herbeigerufenen Milchbauern erzähle, daß ich ihn aus dem schwedischen Fernsehen kenne, und nochmals beteuere, nicht stören zu wollen, werde ich schon zum Tee gebeten. Das Gespräch entfaltet sich aufs schönste, springt vom Hundertsten ins Tausendste. Ich erfahre, daß Hugh alle Gedichtbände seines Bruders gelesen hat und gut kennt. In seiner Stimme schwingen Freude und Stolz. Ich spüre den Zusammenhalt, der sich auch darin zeigt, daß Seamus seine Geschwister zu wichtigen Anlässen einlädt und alle Kosten trägt. Auch auf einen dunklen Punkt kommen wir, den Unfalltod der Tochter Rachel, die, als sie mit ihrem Kinderfahrrad von der jenseits der Landstraße wohnenden Tante Ann nach Hause wollte, von einem Mercedes erfaßt wurde. Das lag über zehn Jahre zurück, und das Mädchen wäre nun fast erwachsen. Hugh geht hinaus und holt das maschinenbeschriebene Blatt mit dem Gedicht, das Seamus für die Neunjährige schrieb. Nicht ohne Genugtuung liest er es mir mit schwerer, verknoteter Zunge:

 

DER SOMMER DER VERLORENEN RACHEL

Kartoffelpflanzen stehen in Blüte,
Hart-grün blinken Zwetschgen
An Bäumen hinter deinem Haus,
Und jede Rosenhecke

In Frucht funkelt und trieft,
Sooft ein Schauer strömt
Und Heu und Furchen überschwemmt.
Ein Hof ist um den Mond.

Der ganze Sommer war durchweicht,
Doch niemand hat noch Lust,
Den Regen-Schmeicheleien zu trauen
Der froh geschwellten Brust,

Weil jeder Glaube an des Sommers
Gabenreiche Pracht
Letzten Mai schwand, als wir dich in Weiß
Aufbahrten, dein Gesicht

Vom Unfall aufgeschlitzt, doch still,
So ganz vollkommen stille,
Und mitleidslos die Sonne sank,
Und jedes mitleidvolle

Register in uns verlangte
Nach einem neuen Start,
Daß du dann auf die Straße trittst
Mit deinem blanken Rad,

Heil und gesund wie eh und je,
Hinüber dann ums Eck,
Die krummen Speichen wieder grad,
Die schlimme Schleifspur weg.

Doch nein. So mag der Regen unser
Gedächtnis überfluten,
Bis in verwobnen Strömungen
Dein ungelebtes Leben

Träumerisch zerrt und flattert
Wie weiche Wassermyrte,
Die unsern Blick versucht und stillt

Und unsere Not erinnert.
(Deutsch von Ditte und Giovanni Bandini)

Dann las es auch die Mutter, eine Grundschullehrerin: leiser, anders innig, während die Pendeluhr hart und kräftig tickte. Plötzlich fuhr ein Lastwagen auf den Hof und zwei Männer kamen lebhaft redend herein: ein weiterer Heaney-Bruder, untersetzt und mit Metallbrille, mit seinem Fahrer. Sie lieferten Möbel aus und kamen auf einen Tee. Charly, direkter und eindringlicher als der sanftere, höfliche Bauer, fühlte mir auf den Politzahn, bohrte bis in DDR-Tage. So überfallartig, wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder mit ihrem großen blauen Kasten.
Da die Melkzeit näherrückte und Hugh mir noch Mossbawn zeigen wollte, stiegen auch wir in sein Auto. Nach wenigen hundert Metern bog er von der asphaltierten Nebenstraße ab zum Haus der unverheirateten Schwester Ann, die wir im Stehen begrüßten, ohne uns drinnen niederzulassen. Ann ist das Gedächtnis der Familie, sammelt Fotos und Dokumente. In einer Woche sei ein großer Tag. Dann würde im Ort ein Heimatmuseum eröffnet, das vor allem seinem großen Sohn gewidmet sei. Hugh fÄhrt einen kleinen Umweg, es mir zu zeigen. „The Bawn“ bezeichnet einen wehrhaften Bau mit dicken Mauern. Mossbawn wurde bereits 1953 verkauft, und nur wenig erinnert an früher. Selbst die magische Pumpe wurde demontiert und steht nun wie ein Totempfahl auf Hughs Hof. Die neuen Besitzer von Mossbawn betrieben Massengeflügelhaltung und handelten mit Bussen. Als ich nach unserem Abschied noch etwas umherging, sah ich nochmals den vergitterten Posten der Royal Ulster Constabulary und wagte nicht zu fotografieren.

Am nächsten Tag kehre ich nach Dublin zurück. Die Binnengrenze eine nässende Strieme. Die Pässe, peinlich kontrolliert, Salz in die kalten Wunden. Im ehrwürdigen Trinity College, wo ich nun wohne, die glückliche Nachricht vom zurückgekehrten Spanienurlauber, daß wir uns am Abend in O’Neills Pub in der Pearse Street treffen können, dem mit den Blumenkörben. Nachmittags spaziere ich schon mal daran vorbei. Die sich vor dem Pub im Wind wiegenden Ampeln voll üppiger Kapuzinerkresse sind ein Hauch Spanien. Drinnen sehe ich als einziger Gast auf Einladung des Wirts einen Olympiavorlauf der irischen Goldschwimmerin Michelle Smith.
Abends ist es so voll, daß Heaney nach einem Bier beschließt, daß wir zu ihm nach Sandymount fahren. Unterwegs dreht er eine Schleife, mir Geburtshaus und Denkmal für William Butler Yeats zu zeigen, der mit dem Schiff zur Nobelpreisverleihung nach Stockholm reiste.
Die Strand Road ist tatsächlich eine Küstenstraße, und gerade in diesem Abschnitt ist die Uferseite gleichfalls bebaut, so daß Heaneys Haus nur durch Lücken auf die Irische See schaut. Es ist ein viktorianischer Ziegelbau, schlicht, nicht zum Stehenbleiben einladend wie andere Häuser in dieser Straße: schmale Front, große Tiefe. Wir begrüßen Marie, eine einstige Sängerin, und verschwinden im hintersten, stillsten Raum, einer Art Wintergarten, wo wir bei Kirschen und Rotwein ungestört sind. Seamus liest mir die gewünschten Gedichte vor. Eines von ihnen, das wohl berühmteste: sein Generationen- und Spatengedicht „Digging“, Auftakt seines ersten Bands und zugleich Kammerton seines Kernwerks. Ein anderes, mir wichtiges Ars-poetica-Gedicht, „The Diviner“, handelt von der Suche nach der Wasserader. Erinnerst du dich, frage ich, wie du zu einem Rutengänger wurdest?

Mein Vater besaß die Fähigkeit, Wasser aufzuspüren. Er machte es nicht mit einer Rute, sondern mit einer Uhr. Wenn du eine Silberuhr, eine Taschenuhr, an der Kette hältst, und du hast die Wünschelgabe und kommst an eine Quelle, dann beginnt sie, sich über ihr zu bewegen. Ich sah Wünschelgänger mit Ruten bei der Arbeit. Sie kamen auf die Farm, ich sah die Rute ausschlagen. Sah das in der Kindheit, und dann erinnerte ich mich daran in meinen Zwanzigern. Und ich frage mich, hab ich das wirklich gesehn? Ja, natürlich. Das ist die Art von Wirklichkeit, das Ideal. Paradigma, kleine Analogie dessen, was ein Gedicht vermag. Du fragst, ist das wahrhaftig so gewesen? Ja. Es gibt eine Wunderwahrheit und eine Faktenwahrheit.

„Hast du es jemals selbst probiert?“ „Ich weiß es nicht mehr. Aber wenn ich nun in meinen Fünfzigern daran denke, als ich fünf war, so hielt ich gewöhnlich die Uhr, und mit großer Pose hielt er mein Handgelenk. Mag sein, daß er mich bewegte. Aber ich glaube nicht. Dies war ein kleines Wunder.“
Schließlich stellte ich lächelnd die Frage: Gibt es ein Leben nach dem Nobelpreis? Das war Essigwasser auf seine Mühlen, und er höhnte zurück:

Ich weiß, was ich tun sollte: I’d put you out of the house!

Da waren meine Minuten gezählt. Doch er überraschte mich mit einer brüderlichen Geste, ließ mich nicht wissen, wann eine Bahn fahre, und rief mir auch kein Taxi, sondern ließ es sich nicht nehmen, mich zu kutschieren. Diese Dunkelfahrt durchs glitzernde Dublin werde ich so wenig vergessen wie das haustierhafte, museale funkeln eines ihm geschenkten Spatens in der Zimmerecke, der mir seither nachschaut. Nun sind Großvaters Torfstech- und Vaters Gartenspaten, dem er mit grabender Feder ebenbürtig zu sein suchte, endgültig verwaist. Es ist schwer vorstellbar, wäre aber tröstlich, sollten sich seine ins Papier grabenden Nachfahren herausgefordert fühlen, solchen Schicksalen nachzuforschen und es ihm gleichzutun: Digging.

Richard Pietraß, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2015

 

Bernhard Robben: Vom Erfinden der Geschichte. Vier nordirische Lyriker, Merkur, Heft 458, April 1987

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
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Zum 70. Geburtstag des Herausgebers:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Instagram +
KLG 1 & 2DAS&D + Übersetzungen 1 & 2 + Kalliope
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Tobias Döring: Hier regiert die Zunge
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.4.2009

Volker Sielaff: Nachrichten aus dem irischen Ägypten
poetenladen.de, 13.4.2009

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Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Nachrufe auf Seamus Heaney: Der Spiegel ✝ FAZ 12 ✝
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Seamus Heaneys Rede zu seinem 70. Geburtstag.

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