***
Solange aus alldem noch keine Gedichte entstanden
aaaaasind
und die wundervolle Morgensonne sich nicht
in die orthographischen Wörterbücher zwängen lässt,
solange wir das Leben nehmen
wie die Musik, die wir am
warmen goldenen Fenster aufschnappen,
Musik, die die dunkelhaarige Frau morgens hört,
wenn sie ihre Post liest,
so lange sind auch wir und ihr, ja – sogar wir und ihr,
angeschlossen an dieses Schauspiel,
an den verborgenen Lauf der Sonne über den hohen Linden
aus östlichen Gefilden,
vorbei am tückischen Luftstrom,
der die Stimmen der Radiomoderatoren verbreitet
wie eine Erkältung,
so lange halten wir uns an die Radiowellen
wie an religiöse Überzeugungen,
so lange glauben wir an den Ton, den jemand verloren hat,
und wissen nur eins:
Es ist nicht ratsam, umzuschalten von den Wellen,
die dich halten,
nicht ratsam,
es ist nicht ratsam, die Motive zu vergessen,
die dich stark machen,
nicht ratsam,
und es ist nicht ratsam, auf die eigene Stimme
zu verzichten.
Wir haben ja nur Freuden in dieser Welt –
den Gesang der betrogenen Operntenöre,
mit ihren verwundeten Herzen
wie fauligen Orangen.
Wir haben nur die Pflicht –
das Wichtigste zu teilen:
unsere Stimme,
unsere Empfindsamkeit.
Mag der nächste Frühling kommen.
Mag uns der Optimismus peinlich sein.
Mögen die Stängel des Schilfrohrs
wie Antennen
das Wichtigste aus der Luft filtern –
Rhythmus und Vergebung,
mögen sie wachsen,
mögen sie
die symphonische Märzmusik
einfangen.
wenn Krieg ist? Auf welche Sprache greifen die Dichter zurück? Taugen ihre Instrumente, um dem zum Ausdruck zu verhelfen, „was Angst macht“? Seit vor sechs Jahren die Kämpfe in der Ostukraine begannen, hat Serhij Zhadan in unzähligen Auftritten seinen Mitbürgern Bewohner Mut gemacht, ihre Resilienz gestärkt und sich mit sozialen Projekten engagiert. Er, der populärste ukrainische Schriftsteller, hat keine existentielle Herausforderung gescheut, um sich eine starke lyrische Stimme zu erarbeiten, die in langen, songhaften Gedichten das vermeintlich Unsagbare in rätselhaft schöne Bilder fasst. In seinem neuen Buch gedenkt er seines verstorbenen Vaters, er findet einen Ton, um über die Unvermeidlichkeit des Todes und den Schmerz der Liebe zu sprechen, und über die Trauer, die auch hell sein kann, weil sie uns auf einen verborgenen Sinn verweist.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2020
– Wie bekommt man den Krieg in die Sprache? Neue Gedichte des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan. –
In der feuchten Luft nimmt man die Gerüche besonders gut wahr. Die Soldaten, die aus dem Süden gekommen sind, riechen nach Brand, nach Zigarettenrauch, und alles füllt sich sofort mit dem schweren Dunst nasser Kleidung. In seinem Roman Internat beschreibt Serhij Zhadan den Krieg als etwas, das direkt am Körper ansetzt, das dicht und atmosphärisch ist und sich mit all seiner Härte so fest in die Wahrnehmung und die Erinnerung einschreibt, dass man es ein Leben lang nicht mehr vergisst. Zhadan, der im Osten der Ukraine geboren wurde und seit vielen Jahren in Charkiw lebt, hat die Kämpfe im Donbass von Beginn an nicht nur in seiner Prosa, sondern auch in seinen Gedichten dargestellt. „Gedichte und Prosa aus dem Krieg“ hieß sein letzter Band Warum ich nicht im Netz bin im Untertitel. Darin versammelt er lyrische Porträts von Menschen, die den Krieg erlebt haben, von Händlern, Juwelieren, Anwälten, aber auch von Marodeuren oder verwirrten Künstlern.
Wie holt man den Krieg in die Sprache? Wie fasst man das Gefühl der Bedrohung, die Angst, wie zieht man der Sprache die Zerstörung ein? In den stärksten Gedichten seines neuen Bandes versucht es Zhadan mit wahrnehmungsgenauen Szenen, die er metaphorisch anreichert. Heiße Sommerluft, eine staubige Straße. Reisende rennen durch die Stadt, hasten zum Bahnhof, um den Nachtzug zu erreichen. Doch schon früh verändert sich die Perspektive:
Die Bienen holen sich den Honig einfach
aus dem kindlichen Atem
Ein kleiner Schwenk in der Aufladung der Wörter genügt, und die Biene, von jeher Sinnbild für den Dichter, holt uns mitten ins Gedicht und ins Schreiben.
Doch leider ist das nur die eine Seite dieses Bandes. Antenne heißt er, und er umfasst nicht allein Gedichte des 2018 in der Ukraine erschienenen Buches gleichen Titels, Zhadan hat eigens für die deutsche Ausgabe einen kleinen Prosatext geschrieben, der sich mit dem Tod seines Vaters beschäftigt. Vor allem aber hat er den fast 60 Seiten an Antenne-Gedichten noch einmal den gleichen Umfang an Gedichten aus seinem jüngsten Gedichtband Schiffsverzeichnis vorangestellt. Und hier ist ein anderer Ton prägend. Es sind Gesänge, die mal an Hymnen, mal an Popsongs erinnern. Darin bedichtet er meist pathetisch Nacht und Liebe, Religion und Tiere, vor allem aber das Gedicht selbst.
„Du beobachtest die menschliche Welt wie der Kinderarzt die Knirpse im Park“, schreibt er in seinem kleinen Einleitungstext, „mit Liebe und mit der Bereitschaft, eine Diagnose zu stellen.“ Das ist ein schöner Einfall. Nur schiebt sich die Bereitschaft zur Diagnose trotz aller Liebe immer wieder überdeutlich in den Vordergrund. So liest man Sätze wie „Ostukraine, Ende des zweiten Jahrtausends. / Die Welt quillt über vor Musik und Feuer.“ Oder:
Neue Zeiten brechen an,
die Ernte der Geschichte wird eingebracht.
Immer wieder führt der Be-hauptungscharakter der Sätze auch zu schiefen Vergleichen („Die Hügel liegen da / wie Menschen in der Holz-klasse“), gern verknüpft mit einem sehr eigenen Frauenbild: („Ich liebe diese Bäume, erwachsenen Frauen / gleich, die ihr Laub abwerfen wie Illusionen“). Andernorts notiert Zhadan:
Dichtung beginnt dort,
wo dein Wortschatz endet
Doch statt sich auf die Suche nach einer wirklich eigenen Sprache jenseits des Alltagswortschatzes zu machen, greift er immer wieder zu klischeehaften Bildern und Formulierungen, die jedenfalls in der deutschen Übersetzung zu Genitivmetaphern wie „Rauch der Freiheit“ oder „Klinge der Zeit“ werden. Und statt seine Sprache wie in den Antenne-Gedichten zu reduzieren und ein Gedicht zu schreiben, das „aus Schweigen und Stille“ besteht, beschwört er es nur in raunenden Worten. Claudia Dathe hat die freie Rhythmik der Zeilen gut ins Deutsche gebracht, gegen den hohen Verkünderton der „Atemzüge und Küsse“ kommt aber auch die Übersetzung nicht an.
– Serhij Zhadans neuer Gedichtband Antenne beginnt mit dem Tod seines Vaters, wird dann aber zum Panorama des Ukrainekonflikts. Unser Autor hat lange nichts so Schönes, Zartes und Trauriges gelesen. –
In diesem Krieg, hat der ukrainische Dichter Serhij Zhadan geschrieben, seien er und seine Freunde nur Außenstehende. Sie kommen in die Städte und Dörfer an der Front zwischen Russland und der Ukraine. Nicht, um zu kämpfen. Sondern, um Gedichte vorzutragen. Oder Musik zu machen. Das ist natürlich irgendwie sinnlos und albern, aus der Zeit und aus der kämpferischen Wirklichkeit gefallen. Sie machen es trotzdem.
Über seine Besuche dort schreibt Zhadan:
In den letzten sechs Jahren, sechs Kriegsjahren, habe ich Dutzende Bibliotheken in Städten und Dörfern an der Front gesehen. Neue Bücher bekommen sie kaum, aber viele dieser Einrichtungen erwachen zu einem zweiten Leben, werden zu Orten der Stärke, zu Orten, an denen sich trotz des Krieges, des Artilleriefeuers, der Dunkelheit und der Kälte das Leben hält. So eine Art moderne Kirche, in die man nicht zum Beten geht, sondern um sich aufzuwärmen. Nicht die schlechteste Form der Dienstleistung, wie ich finde.
Serhij Zhadan ist ein genialer Dichter. Jedes seiner Bücher öffnet neue Türen weit in eine zuvor unbekannte Welt. Aufgewachsen in der Vielvölkerstadt Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, ist er der große Dichter des Völker verbindenden Europas, Sänger seines Heimatlandes und der Flüchtlingsstadt Berlin, die er oft besucht hat. Er schreibt vom verlorenen Posten am Rande des Kontinents, schreibt Romane, Reportagen, Essays und vor allem Gedichte.
Macht ihm nichts, dass dieser Posten verloren ist. Sein neuer Gedichtband heißt Antenne, und darin schreibt er:
Kühner Dichter der Schleusen an den europäischen Flüssen, Dichter eines Landes, das wehrlos stirbt, wenn es den Winter spürt, sprich über die Hoffnung, über Angst und Ausweglosigkeit sprechen jene, die nicht lesen.
Das Buch beginnt mit dem Tod seines Vaters. Und wie der Sohn danach entdeckt, dass der Vater Tagebuch geführt hat. Obwohl er selbst nichts las, auch die Bücher seines Sohnes nicht. Mit Rührung und Trauer entdeckt der Sohn in den unbeholfenen Texten des Vaters nun all das, was dieser im Leben nie sagen konnte.
Ich musste seine Einträge zum Wetter lesen, um zu verstehen, wie wichtig wir ihm waren. Die große Magie des Schreibens besteht darin, selbst mit Zahlen Freude und Trauer ausdrücken zu können.
Zhadan beschreibt die Männer des Dorfes nach dem Tod seines Vaters. Wie sie beisammensitzen und trauern und wissen, dass sie nun beten müssten. Dass sie beten wollen. Aber sie kennen die Worte nicht. Sie haben keine Gebete. Sie wissen nur, es müsste jetzt sein. Es wäre jetzt richtig. Es würde jetzt helfen.
Vielleicht war es das Berührendste, was ich je gesehen hatte – Atheisten, die sich aufwärmen, nebeneinandersitzen und ein Gebet suchen, um eines anderen Atheisten zu gedenken, der vor ihnen gegangen ist.
Auch der Sohn ist Atheist. Aber die Leere spürt er in diesen Momenten, die große Leere, wie nie zuvor.
Mein Vater ist am vierten Januar gestorben. An diesem Tag fiel dichter fetter Schnee. Eine Zeit lang bewegten sie sich aufeinander zu.
Ich habe lange nicht mehr so etwas Schönes, Zartes und Trauriges gelesen. Zhadan kann in Windeseile Tempo, Temperatur, Temperament seiner Gedichte wechseln. Von Melancholie zu Furor zu Euphorie sind es oft nur ein, zwei Zeilen.
Aber Begeisterung, selbst in der Trauer, steht eigentlich immer am Anfang:
Der ständige Wunsch, die eigene Begeisterung zu teilen, er ist es, der dich zwingt, nach Wörtern zu suchen, sie zu umstellen, Wörter zu plündern, sie zu schütteln, sie auf den Kopf zu stellen.
Begeisterung macht alles hell und klar und öffnet den anderen, den Lesern, immer wieder neue Türen. Ermöglicht neue Möglichkeiten, die Welt zu sehen. Zhadans Gedichte, großartig ins Deutsche übertragen von Claudia Dathe, machen dem Leser die Begeisterung leicht.
Zhadan schreibt:
Wir haben nur die Pflicht – das Wichtigste zu teilen: unsere Stimme, unsere Empfindsamkeit.
Und fügt hinzu:
Mag der nächste Frühling kommen. Mag uns der Optimismus peinlich sein. Mögen die Stängel des Schilfrohrs wie Antennen das Wichtigste aus der Luft filtern – Rhythmus und Vergebung.
Lest Zhadans „Antenne“! Und aus der Luft um euch herum wird vor allem Begeisterung herausgefiltert werden. Sie wird das Atmen leichter, viel leichter machen.
– Es ist ein Irrtum zu meinen, die von der Geschichte Verschonten seien heil davongekommen. In ihrer Lyrik arbeiten sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller am Grauen ihrer Heimat ab. –
(…)
Die Frage nach der Wirkkraft der Sprache angesichts einer unfassbar grausamen Realität treibt auch den ukrainischen Lyriker, Romanautor und Essayisten Serhij Zhadan um. Zhadan, Jahrgang 1974, stammt aus der kriegsversehrten Ostukraine. Trotz Lebensgefahr hat er das Kriegsgebiet immer wieder aufgesucht, nicht zuletzt um Konzerte mit seiner Band Die Hunde im Kosmos zu geben. Sein letzter Roman Internat (dt. 2018) spielt dort, und neben seinem Luhansker Tagebuch von 2014/15 sind es zahlreiche Gedichte, die den Krieg und dessen Folgen thematisieren. So auch der Lyrikband Antenne, den Claudia Dathe mit rhythmischem Gespür ins Deutsche übertragen hat.
Zhadan ist ein Rhapsodiker, seine metaphernreiche Poesie voller Wiederholungen und dialogischer Einsprengsel richtet sich an Zuhörer. Was zählt, sind Unmittelbarkeit und die Suggestion des Sounds. Wobei das Erzählte eine schockierende Wucht hat. Es sind Geschichten von verlorenen Lieben, von „dekorierten, halbtoten“ Kriegsheimkehrern, von Obdachlosen, deren „Lungen zerfallen wie trockenes Weinlaub“, von Mördern in Milizschulen, von einer Schülerin, die, während sie die gelesenen Bücher in die Bibliothek zurückbrachte, von einem Geschoss zerfetzt wurde – lauter wahre Geschichten „über unsere Illusionen und unsere Ohnmacht“, in einem Land, wo „selbst das Brot zu Hause Politik ist“.
Serhij Zhadan evoziert Szenen und Landschaften, triste Bahnhöfe und noch tristere Friedhöfe, und plötzlich taucht Jesus mit seinem Kreuz auf und wird rasch gekreuzigt, während „auf dem Offset des Himmels“ Nagelspuren zurückbleiben. Mit geradezu magischer Intensität und in einem psalmodierenden Ton der Anrufungen und Fragen entsteht eine versehrte, verstörende Wirklichkeit, der kein Gott zu Hilfe eilt. Himmelsstürmerisch vertraut Zhadan indes darauf, dass das dichterische Wort ein wenig Frieden stiften kann.
Ehe ich also deine Existenz leugne, Herr.
Ehe ich mit schwefeliger Skepsis deine Himmel entzünde.
Ehe ich deine spärlichen Gaben brüsk zurückweise.
Will ich dir für die Reimlexika danken.
Ohne Ironie: Zhadans Gedichten gelingt die Verwandlung von Grauen in versöhnlich-tröstliche Schönheit. Nicht nur weil die Äpfel auf seinen Bäumen hängen „wie Musikinstrumente, / die noch keiner gestimmt hat“, sondern weil er die „Rohfassung des Flüsterns“ in eine klangvolle Sprache übergeführt hat, die sich mit jeder Silbe ihrer Verantwortung bewusst ist.
– Der ukrainische Schriftsteller, Lyriker und Musiker Serhij Zhadan lehrt uns in seinem neuen Gedichtband Antenne die Kunst der Empfindsamkeit. –
Am Anfang steht der Tod. Der Vater stirbt. Der Vater des Autors, des Lyrikers, der es gewohnt ist, die Welt und ihre Schwingungen mit Worten zu fangen, sich einen Reim auf das Leben zu machen. Der Vater war kein Mann der Worte. Er hatte die Bücher seines Sohnes nicht gelesen. Aber er hat Tagebuch geführt – wie der Sohn nach dessen Tod herausfindet. Die Sprache sucht sich die Form, die Form sucht sich die Sprache, um das auszudrücken, was man fühlt, was man sieht, was bewegt. Der Vater, dem die Welt der Worte fremd war, hat dennoch geschrieben, buchhalterisch; in einer gestelzten, ungelenken Sprache. Hat alle möglichen Details festgehalten, „wo er gewesen war, was er gesehen, gehört hatte, wofür er sein Geld ausgegeben, wer ihn angerufen hatte. Er notierte die Geldbeträge, die ich ihm gab (was mich sehr beeindruckte), vermerkte die Lufttemperatur. Trockene, kühle Fakten. Wenig Bewertungen. Ein Minimum an Gefühlen. Als wollte er etwas was sagen und traute sich nicht.“ Der Vater hat nicht direkt über seine Frau oder seine Kinder geschrieben, also über die Beziehung zu seinen Nächsten. „Ich musste seine Einträge zum Wetter lesen“, schreibt der Sohn, „um zu verstehen, wie wichtig wir ihm waren. Die große Magie des Schreibens besteht darin, selbst mit Zahlen Freude und Trauer ausdrücken zu können.“
Dieser Sohn ist Serhij Zhadan, der ukrainische Schriftsteller und Lyriker, ein genialisch talentierter Schreiber. Das hat er in unzähligen Gedichten und Romanen wie Mesopotamien (2015) und Das Internat (2018) unter Beweis gestellt. Zhadan ist Chronist der unabhängigen Ukraine, ihrer Umbrüche und Verwerfungen, und wie diese an der Seele reißen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn er in ein paar Jahren nicht mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird.
In seinem Band Antenne, das aus zwei anderen Veröffentlichungen jüngeren Datums kompiliert hat, geht es darum, diese schwirrenden und schwer zu fassenden Seelenschwingungen einzufangen. Mit den Köchern der Sprache und der Form, mit der Angel der Lyrik. Dem Buch ist ein längerer Text vorangestellt über den Tod seines Vaters und darüber, dass der Tod mit seiner existentiellen Macht selbst die Atheisten bei einem Gebet zusammenrücken lässt. Zhadan erzählt, wie er von klein auf den Drang hatte, alles Gesehene, Gehörte und Gespürte aufzuschreiben. Der Text ist eine Selbstvergewisserung über das, was er als Dichter tut. „Der ständige Wunsch“, schreibt er, „die eigene Begeisterung zu teilen, er ist es, der dich zwingt, nach Wörtern zu suchen, sie umzustellen, Wörter zu plündern wie Vogelnester, sie zu schütteln, sie auf den Kopf zu stellen.“
So dringt Serhij Zhadan in das himmlische Reich der Stimmen und der Empfindsamkeit vor – dort, wo sich diejenigen tummeln, die nicht mehr existieren, aber in ihren Leben etwas zurückgelassen haben. Davon handelt auch der Gedichtband Schiffsliste, der bereits im vergangenen Jahr auf Ukrainisch erschien und aus dem eine Auswahl von Gedichten nun dieses Buch eröffnet. Es sind hymnische und gesanghafte Verswerke, die vielfach eher an Prosatexte erinnern. In ihnen beschwört Zhadan, nicht selten mit der Stimme des Sakralen und dem Klang des Liturgischen, Tote, Dämonen, Ertrunkene und Betrunkene, Liebestolle und Verstoßene. Es geht um das Große und Ganze – das Feuer des Lebens, um das, was bleibt, und das, was vergeht.
Es ist eine melancholische Landschaft des Lebens, die Zhadan so zärtlich und einfühlsam besingt. Der Leser wird auf eine mystische Reise gewirbelt, den Wörtern und ihren Bedeutungen folgend, über Verse, die sich verlieren, abbrechen und über einzelne Worttumulte in die nächste Etappe geschleudert – oder in die Leere, ins Nichts des eigenen Echos. Wie in einer grellweißen Schneelandschaft, in der man Schritt für Schritt seinen Weg sucht und in der nasskalten Luft die Stimme der anderen auszumachen versucht.
Die Frage, ob die Dichtung das Maß aller Dinge ist, um Sinn zu stiften und zu suchen, ist dabei eines der wiederkehrenden Themen:
Eine Dichtung der Drohungen entsteht,
eine Dichtung der Zärtlichkeit entsteht.
Wie Getreidesilos brennen die Herzen.
Die Welten der Mietwohnungen kippen.
Gut, dass keiner von ihnen Gedichte schreibt.
Gut, dass sich nicht alles auf der Welt
in Reime fassen lässt.
Und an anderer Stelle:
Dichtung beginnt dort,
wo dein Wortschatz endet.
Zhadan beschwört mit großem Können ein Jenseits der Lebensrätsel, indem er mit einer vielgestaltigen Sprache eine Art metaphorischen Raum entwirft, aus dem einem der Atem der Ewigkeit entgegenhaucht. „Es ist die Erkenntnis“, hat er über seine Inspiration zu diesem Gedichtband geschrieben, „dass die Generation, die uns vom Tod getrennt hat, verschwunden ist.“ Er selbst ist durch den Tod seines Vaters also näher an die Endlichkeit des Seins gerückt. So macht er sich auf die Suche nach dem, was unser Dasein überdauern könnte.
Der zweite Teil des Buches schließt an diese Idee an, auch wenn die Gedichte aus dem bereits im Jahr 2018 erschienen Buch Antenne stammen und diese weniger metaphorisch aufgeladen sind wie die des ersten Teils. Sprache finden für Empfindungen, die die Luft vernebeln, darum geht es:
Wir haben nur die Pflicht – das Wichtigste zu teilen: unsere Stimme, unsere Empfindsamkeit.
Und er fügt hinzu:
Mag der nächste Frühling kommen. Mag uns der Optimismus peinlich sein. Mögen die Stängel des Schilfrohrs wie Antennen das Wichtigste aus der Luft filtern – Rhythmus und Vergebung.
Diese Gedichte, die sich eher an klassische Strukturen und Rhythmen halten, beschreiben eine lyrische Alltagschronik, in der auch immer wieder der Krieg zur Sprache kommt, der seit 2014 im Osten der Ukraine tobt. Serhij Zhadan ist ein besessener und ein ordentlich guter Beobachter, der sieht und begreift, auf welchen Wegen sich Schmerz und Verlust in den Alltag drängen und ihn verändern. So schreibt er über zwei Menschen an einer Straßenbahnhaltestelle:
Der Mann hält eine Tüte
aus der Apotheke in der Hand.
Die Frau hält einen Strauß Rosen.
Der Frau fällt der frische Gipsverband
an seiner rechten Hand auf.
Ihm fällt auf, dass ihr Strauß
sechs Rosen hat.
Es ist natürlich der fulminanten Übersetzungskünste von Claudia Dathe zu verdanken, dass man Zhadans Kunst auch im Deutschen zu greifen bekommt, auch wenn der phonetische Resonanzraum des Ukrainischen sicherlich kaum übertragbar ist.
Auch wenn die Gedichte, die den Krieg in sich tragen, nicht prägend für den gesamten Band sein mögen, sind sie mitunter die stärksten. „Der Krieg ist vorbei“, schreibt er, „an den Mauern wachsen neue Schwalbennester. / Die Kinder der gefallenen Kämpfer lachen im Hafen / den Fremden zu.“ Man hat Mühe, sich den poetischen Verwirbelungen zu entziehen – und wird einfach mitgewirbelt.
***
Ich preise dich, Gott, ich preise dich.
Gepriesen sei dein Talent, heiter über das Schlimmste zu sprechen.
Deine Fähigkeit, die starken Menschen zu zwingen,
sich an die eigene Schwäche zu erinnern,
die Kunst, alle wehrlos zu machen
mit Aufrichtigkeit.
Gepriesen sei deine Müdigkeit,
die uns veranlasst, einander zu trösten,
gepriesen sei deine feine Ironie des Lehrers,
der weiß, dass die meisten Schüler, wenn sie
aus der Klasse gehen, nie wieder
eine mathematische Formel anwenden.
Gepriesen sei deine Abwesenheit, die längst
niemand mehr kümmert.
Gepriesen sei das Fluten des Lichts in der Morgenluft,
unsere Versuche, die Sprache der Bäume zu deuten,
unser Verliebtsein in die Wiedergeburt der Blätter,
unsere eigenwillige Lehre vom Beseitigen der Steine
aus dem Flussarm,
von der Vertiefung des Flussbetts,
von der Befestigung der Ufer.
Die Zähmung der Welt, das An-die-Brust-Drücken
der Klumpen Dunkelheit, in der Hoffnung,
dass sie von innen das Feuer erleuchten,
von dem du die ganze Zeit redest.
Gepriesen seien, Gott, deine Institutionen,
deine Kirche, die getragen wird von unserer Weigerung
einzusehen, dass es dich nicht gibt.
Gepriesen seien deine Geistlichen, die
auf den Wellen der europäischen Flüsse laufen
wie Zirkuskünstler über Glasscherben,
Geistliche, die Demut lehren wollten,
tatsächlich haben sie uns Dichtung gelehrt.
Angst, einer Handlung gleich, niedergeschrieben in einem Buch.
Vergebung, die sich
dank der Evangelisten in Worte fassen lässt.
Gepriesen seist du für deine Unglaubwürdigkeit.
Die Sonne brennt über der verlorenen Stadt.
Die Sonne brennt, die Propheten sind da.
Sie beweinen die Stadt, die kämpft und nicht aufgibt.
Sie beweinen die Stadt, die erfüllt ist von Tapferkeit.
Sie weinen und begreifen nicht –
woher all die Liebe kommt bei denen,
die niemals geliebt wurden.
Wolfgang Schlott: Gegenwartsvergessenheit und Zukunftsverdrängung
fixpoetry.com, 14.10.2020
Daniel Henseler: Lyrische Nachrichten aus einem Grenzland
literaturkritik.de, Februar 2021
Valzhyna Mort und Sherij Zhadan im Teil 2 der Reihe Losgesagt! Ein Festival der Sprache am 24.9.2021 im Literaturhaus Stuttgart. Moderation Katharina Raabe. Lesestimmen Marit Beyer und Jonathan Springer.
Lass es einen Text sein, aber nicht über den Krieg. Lesung und Gespräch mit Serhij Zhadan im Literarischen Colloquium Berlin am 23.4.2023
Moderatorin und Dolmetscherin: Jewhenija Lopata
Zhadan & Sobaky – Reihe Souvenir. Literatur und Andenken aus Mittel- und Osteuropa am 10.10.2022 im Literaturhaus Stuttgart
Gespräch und Konzert
Autor: Serhij Zhadan
Gesprächspartnerin: Claudia Dathe
Moderation: Kateryna Stetsevych
Fiebriger Himmel und Kriegsgefahr
die einen tagen die andern schlagen zu
nur Serhij tourt durch den Donbass
mit seinen Liedern
von Apfelbäumen die im Frost des Hasses
nicht erfrieren
Verwundeten voll Liebesschmerz
der Schönheit von Elektrokabeln
der wilden großen Terz
er singt:
was können Felder Hügel Wälder
für alles Ungemach
das Steppenland im fahlen Winterlicht
für böse Schmach
er trägt Schutzweste Helm
für alle Fälle
er ist verlässlich
und seine Worte auch
das Herz ist ihm nicht abgefroren
der Mut noch obenauf
Gedichte sind sein Wasserzeichen
im Dunstkreis von Kalaschnikows
Verben gegen Salven
Bilder festgezurrt im Reim
hier keimt die blanke Hoffnung
auf Frieden
was immer kommen mag
wir sind auf deiner Seite
wir doppeln nach
für Serhij Zhadan
18. Februar 2022
Ilma Rakusa
Über den Dichter Serhij Zhadan, der in Charkiw ausharrt.
Aus dem Tagebuch vom 19.10.2017:
Lesung des ukrainischen Dichters Serhij Zhadan. Haus der Poesie, Kulturbrauerei. Kleiner Kreis, meist Landsleute. Natürlich der Krieg, seit 2014, Ostukraine. Zhadan mit Übersetzerin auf der Bühne. Kräftige Gesten, kurzer Haarschnitt, markantes Gesicht. Taffer Typ. Man sieht ihn an, dass er Krieg erlebt hat. In der Ukraine ein Star: liest, schreibt, hat eine Band. Auftritte in den umkämpften Gebieten. Klare Mission. Aggressor benennen: Russland. Da wird ihm vorgeworfen – der übliche Provokateur – warum er sich für die Propaganda Kiews und der faschistischen Regierung einspannen lässt. Er kontert geschickt, ohne böswillig zu werden. Man spürt sein inneres Beben, seine Verantwortung „seinen Leuten“ gegenüber. Im Frühjahr das neue Buch bei Suhrkamp – über den Krieg seit 2014. Er zeigt seinen Pass mit dem Einreiseverbot für Weißrussland, und – nach öffentlichem Protest – den Annullierungsstempel darüber. Was gilt jetzt?, fragt er. Klar ist: Würde er nach Russland reisen, würden sie ihn verhaften. Er signiert mir freundlich ein Buch. Leider konnte ich nicht, die Dolmetscherin war nicht in der Nähe, über meinen Ukraine-Film sprechen, das wäre vielleicht eine Ermunterung gewesen. Dass es solidarische Menschen gibt, auch hier.
Paweł Smoleński: „Dass wir kämpfen werden, geht nicht in ihre Moskowiter Schädel rein“
Marie Luise Knott: Ukrainische Klopfzeichen
Marie Luise Knott: Wechsle ich das Schloss aus?
Herbert Csef: Gedichte gegen den Krieg – Der ukrainische Lyriker Serhij Zhadan
Iryna Kovalenko und Annette Werberger: „Krieg reaktiviert die Geschichte. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt“ – Wie Serhij Zhadan in Charkiw mithilft und mitkämpft
Artur Weigandt: Es riecht wie ein verbranntes Weizenfeld
Anna Pritzkau: In die Moral gestürzt. Laudatio auf den ukrainischen Dichter und Musiker anlässlich der Verleihung des Freiheitspreises der Frank-Schirrmacher-Stiftung.
„Tvoye Imya“ von Serhij Zhadan aufgeführt von Mariana Sadovska
Serhij Zhadan liest aus anarchy in the ukr bei t.o.r. #9.
Schreibe einen Kommentar