Simone Kornappel / Tom Bresemann: Zu Gottfried Benns Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke

Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

 

Damn Unpfau

Damn:
Es geht die Rede von der Runde
dem Schauder, ihm liegt man an wie einer Brust
was tickt? Ja ja, die Betten. Darin die Zeiger einer Uhr 

Da stehn, wo Feuchtes aus den Tüchern quillt
die Augen. Doppelpunkt und einer spricht, wie über dickgelegte Milch
das Bild, die Sicht, hier weitgetropft
für Perspektive, ohne Fragen aus dem Publikum 

So stehn und tasten, Rippen zählen, Zeilen
mit jedem Luftzug nächster Satz im ständigen Gebet
die Muskeln ziehen an und heben. Artig zieht die Welt zurück

Personen, Zahlen, Körper wie auf festgemachten Flößen
und steht das Blut erst, löst man ab
das Deckenlicht formt Schlitze
wie für Münzen, das letzte Stadium spielt Nacht 

Davor liegt Schlafen, über oder unter Tage
ein steter Zustand, Flure, dieser lange Arm der Ruhe
und munter bläst sie Köpfe aus 

Das Essen, es verbraucht sich oder rückt nur weiter
die Luft allein, das Reden darin macht doch wund
die Zähne schleifen hier. Wie Schlittschuh. 

Hier wurde der Verwaltungsort erweitert auf die Betten
so fährt man fort, das Eigentum verpackt in Tüten, Stille ist
der Chor aus leeren Vasen, die Erde ist ein Elternhaus

 

Bennrudimente. Gottfried, embedded

Simone Kornappel: Über Benns Gedicht ist vieles bereits gesagt worden. Ich glaube deshalb nicht, noch etwas dazu beitragen zu können. Aufsatz um Aufsatz ist mir ja voraus. Auch über Benns Biographie, scheint mir, kann ich nichts beisteuern, was nicht schon irgendwo stünde, stehen könnte. Was ich machen konnte? Ich konnte versuchen, anders mit Benn über Benn zu sprechen, konnte versuchen, mißverstehen und nichtverstehen zu wollen. Und um richtig mißverstehen zu können, habe ich den google translator benutzt, habe den Ursprungstext in die verschiedensten Sprachen vor-, zurück- und wieder vor- und zurückübertragen, in etlichen Schleifen, die mal ganze Sätze, mal Fragmente generiert haben, teils nur grobe Bildrichtungen hergaben, die ergänzt und wieder übersetzt wurden. 

Tom Bresemann: Ja, das Gedicht kann man eigentlich nicht lesen, nur übersetzen, und zwar nicht mit Benn, sondern durch ihn hindurch, was ja eine „Zusammenhangsdurchstoßung“ wäre… Hast du deshalb ein digitales Verfahren zu Hilfe genommen, um den unbeteiligten, gleichsam ausgestellt sensationsheischenden, Blick aus dem Gedicht auf das Gedicht zurückzuwerfen? 

Kornappel: Anders: Ich kann das Gedicht nicht ohne meine Aversion dagegen lesen, die Aversion gegen die Sprechhaltung. Das ist ein Grund, warum ich lesen und „verstehen“ lassen wollte. Sensationsheischend? Nein, ich würde den Blick lieber wertend, einfriedend nennen wollen. Das Ich redet über und friedet ein, zeigt mit dem Finger. Sein Sprechen, seine Sicht hat Raum. „Wie man Bänke wäscht“ ist eine Stelle, die für mich aus diesem einen Blickwinkel kommt; lese ich das, dann habe ich diesen radikalen und bloß-subjektiven Blick auf die Szenerie – eine Sichtweise, die ich allerdings nicht übernehmen, auch nicht aus dieser Haltung heraus erwidern mochte. Ich wollte daher jemand andern schauen lassen, jemanden, der für Emotionen, die sich beim Lesenden einstellen können, gar nicht ansprechbar ist. Und hier kommt das Maschinelle ins Spiel… Du hast mal gesagt, daß Benn mit seiner Schreibweise in einer bestimmten Tradition steht, Brüche und grundsätzliches Wider gewollt sind, auch ein Wider das „Schöne“. Mein Argument war aber, daß die Form oder Gestalt, in der er das tut, im Kontrast zu diesem vermeintlichen Anspruch steht; sein Sprechen, die Art, wie er anhebt, es zu tun, ebenso. Sicher, ich sehe das Nichtschöne, das Wider hier auch. Das Bett, indes, ist ordentlich gemacht, die Kissen sind aufgeschüttelt… 

Bresemann: Wobei gerade Algorithmen etwas Lüsternes, Schmieriges haben, das Krasse wird virulent, der Zugriff auf Themen und Bilder atemlos. Dabei bleibt die Perspektive des Zeigenden immer kontrolliert, berechnend. Man zeigt und beobachtet genüßlich die Reaktion derer, die dem Fingerzeig folgen. Es steckt überhaupt jede Menge Genüßlichkeit im Gestus des Textes. Auch in der Form. Dieselbe Art von Genüßlichkeit, die später in „Probleme der Lyrik“ steckt – immerhin zeichnet sich da eine Eigentreue quer durch die Textgattungen ab. 

Kornappel: Für mich ist Benns Gedicht ein Mißverständnis. Und ich sage damit nicht, daß es kein gutes Gedicht ist. Aber deshalb wollte ich es ja mißverstehen lassen. 

Bresemann: Ich denke, daß im Duktus der Verse, diesem zurückgenommenen, kühlen Duktus immer noch viel Pathos steckt oder… eben gerade das ist pathetisch. Dennoch ist das Gedicht kein Abklatsch der Schauerromantik, sondern eher Schock-Rock, zugegebenermaßen sehr eingängig. Vielleicht eher Clickbait? Der Grund, möglicherweise, für die dankbare Rezeption der letzten Jahre? Weil die Oberfläche anzieht und selbst ganz ohne Kratzer bleibt. Lesedauer – keine Bange – kaum mehr als 2 Minuten, schön schaurig auf der Couch „erkanntes Leben“ („Ein Wort“). Status quo mit Splatterelementen. Bei aller schmuddeligen Vergänglichkeit: ganz der große Autor. Der junge Mann und das Fräulein: Das System Poesie bleibt erhalten, makellos, die Genregrenzen werden ausgestellt, ohne angekratzt zu werden – auch ohne Sonnenuntergang im Hintergrund. Das besserwisserisch Hämische hält als „dumpfer schöpferischer Keim“ („Probleme der Lyrik“) her. 

Kornappel: Mißverständnisse können gut sein, zumal „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ ja diese Idee vom Schönen auszuhebeln versucht, dessen Alleinplatz das Gedicht beansprucht. Will sagen: Daß das Unschöne im Gedicht stattfindet, das Grausame, daß seine Beschreibungen in Drastik und Detail einfach nicht schön sind, hat für mich auch etwas Gutes. Ich mag die Sprechhaltung/ Haltung des Gedichtes nicht, aber ich schätze, was es stattfinden läßt… 

Bresemann: Das ist ja die Tradition, in der es trotz aller menschheitsdämmernder Formenzerstrümmerung steht, Stichwort: Baudelaire. Benns Gedicht selbst ist nicht viel mehr als eine bessere Baudelaire-Übersetzung. Und auch hier steckt der beflissene Besserwisser im Detail: Guck mal, was ich alles weiß und kann.

Kornappel: Ich habe eine Aversion dem Gedicht gegenüber, unter anderem, weil es mir vorkommt, als verfolge es eine Strategie. Ähnlich wie diese probaten Kameraschwenks ins Publikum, in denen die Leute Regungen zeigen, die Off-Stimmen bepackt werden mit Biographien, die mich an den Emotionen herbeiziehen sollen und genau das sogar schaffen. Das ist allerdings eine Draufsicht, ein Drauf- oder Reinlesen, das sehr vom Jetzt geprägt ist, sprich: von Sendeformaten oder Werbung, die sich dessen bedienen. Mitunter geht meine Adaption da fehl oder eben zu weit. 

Bresemann: Zurück zum Pathos: Ich sehe in diesem Gedicht des jungen Benn, wie schon angedeutet, die Gewaltigkeit, auch die Gewalttätigkeit des „großartig kalten Stils“ („Rede auf Marinetti“) der 1930er Jahre und des späten Autors angelegt. Von den Bänken ist es nur ein Katzensprung in den „leeren Raum um Welt und Ich“ (nochmal aus: „Ein Wort“), nur ein „Schritt von der Kunst in den Rausch der Geschichte“ (wiederum aus der Marinetti-Rede von 1934). Aus ihm (dem Pathos) speisen sich dann die alten Gesten, mit denen man sich ganz großmännisch endzwanzigjährig gern schmückt. Sinn und Zweck der Übung? Die von Rühmkorf vorgeschlagene Lesart der „Krebsbaracke“ als Liebesgedicht erscheint mir sehr plausibel. Ich kann mich einfach nicht des Eindrucks erwehren, daß wir Zeugen eines „use poetry to get into girls pants“-Szenarios werden. Wie sonst soll ich die folgende Strophe lesen: „Komm, hebe ruhig diese Decke auf. / Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte / das war einst irgendeinem Mann groß / und hieß auch Rausch und Heimat.“
Sie erinnert mich beiläufig an das „Thriller“-Musikvideo von Michael Jackson. Horrorfilme sollen ja eh gut auf Dates funktionieren… 

Kornappel: Passenderweise lautet die letzte Zeile im „übersetzten“ Text: die Erde ist ein Elternhaus. 

Bresemann: Das Gedicht liest sich heute eben wie ein Teaser. Du wirst nicht glauben, was dann passiert ist… 

Kornappel: Komm, hebe ruhig diese Decke auf.

Schreibheft, Nr. 92, Februar 2019

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